Wissenstransfer, Experten und ihre Handlungsspielräume am Instituto de Nutrición de Centro América y Panamá (INCAP), 1961–1982

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Wissenstransfer, Experten und ihre Handlungsspielräume am Instituto de Nutrición de Centro América y Panamá (INCAP), 1961 – 1982 von Christiane Berth und Corinne A. Pernet*

Abstract: In the history of development there has been a tendency to attribute developmental initiatives to coordinating centres in the global north and view countries in the south as recipients, a phenomenon that continues to the present day. The Central American Nutrition Institute (INCAP) is by contrast an example of a regional institution that not only generated a considerable body of knowledge concerning the nutritional state of the region and policy proposals but also advocated an alternative development model emphasizing local resources. Although INCAP enjoyed some success in disseminating a number of its ideas through international organisations, the implementation of its vision was ultimately hampered by the unstable political situation prevailing in Central America in the time period analyzed in this article.

Das Foto in Abbildung 1 entstand in Guatemala in den 1960er Jahren: ein Mann in weißem Kittel mit Stethoskop, der sich über ein kleines, dunkelhäutiges Kind beugt. Im Kontext der Ernährungs- und Entwicklungspolitik könnte das Bild leicht als Illustration dafür gelesen werden, wie ein Kind der „Empfängerländer“ zum Objekt von invasiven, technologisch orientierten Entwicklungsprojekten wird, in denen „westliche“ Experten ihre Überlegenheit demonstrieren. Solche Erklärungsmuster greifen in diesem Fall zu kurz: Das Foto zeigt Moiss Bhar, einen guatemaltekischen Arzt, der sich in Europa und den USA weitergebildet hatte und ab 1961 die Leitung des zentralamerikanischen Ernährungsinstituts INCAP (Instituto de Nutricin de Centro Amrica y Panam) in Guatemala-Stadt übernahm. Die Institution INCAP ist nicht einfach zu fassen: Unter einer reformorientierten Regierung gegründet, auf eine unabhängige Entwicklung fokussiert, war sie trotzdem eng mit U.S.-amerikanischen Organisationen verknüpft und wurde bis 1961 von einem U.S.-Amerikaner geleitet. Der Anspruch auf eine regionale Führungsrolle und auf eine Ernährung auf der Basis lokaler Ressourcen polarisierte die „Entwicklungsmaschinerie“, doch INCAPs Forschungsleistungen fanden schnell hohe Anerkennung in der Wissenschaft. Als Experte für Kinderernährung bewegte sich Bhar in internationalen Kreisen,

* Die Autorinnen danken den Herausgebern, den Gutachterinnen und Gutachtern sowie Annika Hartmann für ihre hilfreichen Kommentare sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der INCAP-Bibliothek und der Research Corporation for Science Advancement für die Unterstützung bei den Recherchen. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Abbildung 1: Moiss Bhar. Quelle: INCAP, Incaparina, Guatemala, April 1966.

während er am INCAP nach lokalen Lösungen für die Entwicklungsprobleme der Region suchte. Akteure wie Bhar sind nur schwer einzuordnen, aber ein zentraler Teil der internationalen Entwicklungspolitik. Die Historikerzunft hat spät in die Diskussionen um die Entwicklungszusammenarbeit eingegriffen, die lange in den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie und der Politikwissenschaft stattgefunden haben. Nach der Grundsatzkritik des Anthropologen Arturo Escobar und anderen haben namhafte Historiker und Historikerinnen für eine nuancierte Historisierung der Entwicklungszusammenarbeit plädiert, mit einigem Erfolg: Den Aufrufen Frederick Coopers oder Nick Cullathers folgten zahlreiche Studien, die die vielfältigen Wurzeln der Entwicklungspolitiken in der Nachkriegszeit aufzeigen und ihre institutionelle Verfestigung in internationalen sowie nationalen Organisationen nachzeichnen.1 In der neueren, an der Globalgeschichte 1 Nick Cullather, Development? It’s History, in: Diplomatic History 24. 2000, S. 641 – 653; Frederick Cooper, Writing the History of Development, in: Journal of Modern European History 8. 2010, S. 5 – 38. Vgl. neuere Werke aus dem deutschsprachigen Raum: Marc Frey u. a. (Hg.), International Organizations and Development, 1945 – 1990, Houndmills 2014; Martin Rempe, Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957 – 1975, Köln 2012; Corinna R. Unger, Modernizing Missions. Approaches to „Developing“ the Non-Western World, in: Journal of Modern European History 8. 2010, S. 1 – 4; Hubertus Büschel u. Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt 2009. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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orientierten Forschung hat sich der Fokus langsam von 1949 und Trumans Point Four Program wegbewegt. Vor allem im besser erforschten afrikanischen und asiatischen Kontext haben die oft zitierten Entwicklungsexperten an Kontur gewonnen. Koloniale Agrarexperten, so argumentieren etwa Joseph Hodge oder Christophe Bonneuil, wurden schnell von nationalen oder internationalen Entwicklungsgremien absorbiert und brachten so koloniale Entwicklungsideologien und -praktiken in die postkoloniale Welt.2 Deswegen ist es nicht überraschend, dass die Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit hauptsächlich als eine europäische oder U.S.-amerikanische Zivilisierungs- und Modernisierungsmission wahrgenommen wird.3 Gemeinsam ist diesen Narrativen, dass sie die stärkere Berücksichtigung einheimischer Akteure und deren Wissen als eine Reaktion auf ausbleibende Erfolge der „Top-Down“-Entwicklungshilfe interpretieren. In den späten 1960er Jahren sollte das „lokale Wissen“ zum besseren Verständnis der Bedingungen vor Ort sowie zur sozialen Verträglichkeit der Entwicklungsprogramme beitragen.4 In der zentralamerikanischen Region sind Ausgangslage und Historiografie anders: Nicht spätkoloniale oder neu unabhängige Staaten waren das Objekt von imperialen Entwicklungsbestrebungen, sondern souveräne Republiken, die allerdings wirtschaftlich eng mit den USA verflochten waren. Diese Nähe zu den USA hat Spuren in der Geschichtsschreibung zu Entwicklungsfragen hinterlassen: Die Machtansprüche der USA und der Kalte Krieg dominieren die Literatur, wobei Entwicklungszusammenarbeit fast ausschließlich als Herrschaftsstrategie der USA interpretiert wird.5 Obwohl U.S.-Vertreter auch in der Ernährungspolitik

2 Joseph M. Hodge, British Colonial Expertise, Post-Colonial Careering and the Early History of International Development, in: Journal of Modern European History 8. 2010, S. 24 – 46; Christophe Bonneuil, Development as Experiment. Science and State Building in Late Colonial and Postcolonial Africa, 1930 – 1970, in: Osiris 15. 2000, S. 258 – 281. 3 David Ekbladh, The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Princeton 2010. 4 James C. Scott, Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998. „Lokales Wissen“ hat verschiedentlich als Heilsversprechen fungiert, wie z. B. bei den Bemühungen, ökologische Probleme in den Griff zu bekommen. Vgl. Anja Nygren, Local Knowledge in the Environment - Development Discourse. From Dichotomies to Situated Knowledges, in: Critique of Anthropology 19. 1999, S. 267 – 288. 5 Mitchel Wallerstein, Food for War – Food for Peace. United States Food Aid in a Global Context, Cambridge, MA 1980; Jeffrey F. Taffet, Foreign Aid as Foreign Policy. The Alliance for Progress in Latin America, New York 2007; Stephen M. Streeter, Nation - Building in the Land of Eternal Counter - Insurgency. Guatemala and the Contradictions of the Alliance for Progress, in: Third World Quarterly 27. 2006, S. 57 – 68; Arturo Escobar, Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World, Princeton 1995, S. 113 – 117. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Zentralamerikas eine wichtige Rolle spielen, sind die regionalen Entwicklungsbestrebungen der Ausgangspunkt unserer Untersuchung. Die Genealogie der lateinamerikanischen Entwicklungsexpertise und die Entwicklungspraktiken sind bisher kaum systematisch erforscht worden. Für die frühen Jahrzehnte existieren Arbeiten zu U.S.-amerikanischen Stiftungen, doch die spärliche Literatur zu den Entwicklungsexperten fokussiert sich entweder auf die Ökonomen der Wirtschaftskommission CEPAL (Comisin Econmica para Amrica Latina y el Caribe) für Lateinamerika, die Dependenztheorie oder auf die Ära des Neoliberalismus.6 Erst in den letzten Jahren haben neue Forschungsarbeiten den Süd-Süd-Wissenstransfer zwischen lateinamerikanischen Staaten und anderen Weltregionen ins Zentrum gestellt.7 Neue Impulse gingen auch von einer global ausgerichteten Wissensund Wissenschaftsgeschichte aus, die eine Verdichtung des Süd-Süd-Austausches bereits im 19. Jahrhundert konstatierte.8 Unser Aufsatz untersucht die Herausbildung eines zentralamerikanischen Expertennetzwerks am Ernährungsinstitut INCAP in Guatemala und thematisiert die Beziehungen dieser Experten zur internationalen Entwicklungscommunity. Dabei verfolgen wir Karrierewege und positionieren die am INCAP gepflegten Entwicklungskonzepte in einem weiteren Forschungshorizont. Ein vielschichtiges Bild wird sichtbar : Die oft binär gezeichneten Gegensätze von „Nord“ und „Süd“ bleiben unscharf, da die Akteure eng miteinander verknüpft waren. Da jegliche Wissensproduktion situiert werden muss, distanzieren wir uns vom Konzept des „lokalen Wissens“, dem immer noch ein Nimbus von Ursprünglichkeit anhaftet.9 Die zentralamerikanischen

6 Für CEPAL vgl. John F. J. Toye u. Richard Toye, The UN and Global Political Economy. Trade, Finance, and Development, Bloomington 2004. Für neuere Fallbeispiele siehe Stefan Rinke u. Delia Gonzlez de Reufels (Hg.), Expert Knowledge in Latin American History. Local Transnational and Global Perspectives, Stuttgart 2014. 7 Marcos Cueto, Appropriation and Resistance. Local Responses to Malaria Eradication in Mexico, 1955 – 1970, in: Journal of Latin American Studies 37. 2005, S. 533 – 559; Christine Hatzky, Kubaner in Angola. Süd-Süd-Kooperation und Bildungstransfer 1976 – 1991, München 2012; dies., Cuba’s Concept of „Internationalist Solidarity“. Political Discourse, South-South Cooperation with Angola, and the Moulding of Transnational Identities, in: Jessica Stites Mor (Hg.), Human Rights and Transnational Solidarity in Cold War Latin America, Madison 2013, S. 143 – 174. 8 Vgl. Stuart McCook, Introduction: Global Currents in National Histories of Science. The „Global Turn“ and the History of Science in Latin America, in: Isis 104. 2013, S. 773 – 776; Mariola Espinosa, Globalizing the History of Disease, Medicine and Public Health in Latin America, in: Isis 104. 2013, S. 798 – 806; Leida Fernndez Prieto, Islands of Knowledge. Science and Agriculture in the History of Latin America and the Caribbean, in: Isis 104. 2013, S. 788 – 797. 9 Nikolaus Schareika u. Thomas Bierschenk, Lokales Wissen. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Münster 2004. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Ernährungsspezialisten am INCAP nahmen U.S.-amerikanische Ausbildungsangebote und technologiebasierte Ansätze an, um neues, für die Region relevantes Wissen zu schaffen. Neue wissensgeschichtliche Konzepte, wie das von Harald Fischer-Tin eingeführte „Pidgin Knowledge“ oder auch das „Entangled Knowledge“, erscheinen uns geeigneter, um die Wissensproduktion am INCAP zu fassen. Danach wird Wissen als „Kontakt-Wissen“ gefasst, das sich unterschiedlicher kultureller Grundlagen bedient und einem stetigen Wandel unterliegt.10 Durch das Ausbildungszentrum, die Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Mitarbeitenden der internationalen Organisationen sowie die intensive Forschung und Anwendung der Forschungsergebnisse in Zentralamerika war das INCAP ein wichtiges Zentrum des Wissenstransfers. In diesem Aufsatz beleuchten wir die wissenschaftlichen Netzwerke sowie die Herausbildung eines ernährungsspezifischen Wissenssystems in Zentralamerika. Dabei spielte die neue Berufsgruppe der nutricionistas (Ernährungswissenschaftlerinnen) eine besondere Rolle, da sie die Forschungsergebnisse in die Praxis der Gesundheitspolitik und Entwicklungszusammenarbeit transferierte. Durch ihre institutionelle Anbindung an das INCAP sowie die vielfältigen Weiterbildungsangebote und regionalen Treffen blieben sie in dieses Wissenssystem integriert.11 Ebenso argumentieren wir, dass die Verflechtungen in der Entwicklungspolitik nicht nur als Beziehung zwischen „koordinierenden Zentren“ im globalen Norden und „ausführenden Peripherien“ in Zentralamerika darzustellen sind, denn in unserem Beispiel fällt der guatemaltekischen Institution die Koordinationsrolle zu12. Konflikte fanden nicht primär zwischen „Gebern“ und „Nehmern“ statt, sondern zwischen Organisationen mit unterschiedlichen Entwicklungsprioritäten und -strategien. Schwierig waren die Beziehungen auch mit den politischen Institutionen, vor allem, als die Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Labore verließen und Regierungen sowie Unternehmen zu Entwicklungsanstrengungen verpflichten wollten. Deshalb beleuchten wir auch die Positionierung und Handlungsmacht der Entwicklungsfachleute in einem regionalen politischen Kontext sowie im Zusammenhang der internationalen Entwicklungspolitik. Unsere Recherchen begannen am Sitz des Instituts in Guatemala und folgten von dort aus den Spuren der Netzwerke in Zentralamerika bis in die USA und

10 Harald Fischer-Tin, Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus, Zürich 2013, S. 13; Klaus Hock u. Gesa Mackenthun (Hg.), Entangled Knowledge. Scientific Discourses and Cultural Difference, Münster 2012. 11 Zur Entwicklung eines agrarischen Wissenssystems und der Bedeutung der Praktiker vgl. Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010, S. 24 – 34. 12 Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960 – 1975, Frankfurt 2014, S. 35. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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nach Europa. INCAP selbst verfügt über kein eigentliches Archiv, aber in der exzellenten Bibliothek sind alle Forschungsbeiträge sowie Berichte des Instituts zu finden.13 Um den Mangel an internen Einschätzungen und Korrespondenzen zu kompensieren, haben wir in verschiedenen Archiven relevante Bestände konsultiert: Bei der WHO und der FAO sind Projektberichte sowie Korrespondenzen vorhanden, bei der Pan American Health Organization (PAHO) reichhaltige graue Literatur. Die Biblioteca Conmemorativa Orton IICA / CATIE in Turrialba, Costa Rica steuerte wertvolle Tagungsakten sowie Projektunterlagen bei.14 Die Akten der NGO CARE, das elektronisch zugängliche Archiv der USAID sowie Bestände der Research Corporation for Science Advancement rundeten die Quellenbasis ab. Der Artikel ist in vier Abschnitte gegliedert: Zu Beginn charakterisieren wir INCAPs Entstehung in der Nachkriegszeit, um dann auf die Karrierewege und Entwicklungskonzepte der Gründergeneration einzugehen. INCAPs Fokus auf die unabhängige Entwicklung verstärkte sich in den bewegten 1960er und 1970er Jahren, was INCAP in Konflikte mit anderen Organisationen und NGOs der Entwicklungsmaschinerie verwickelte. Im dritten Abschnitt thematisieren wir die Anstrengungen des Instituts, ein eigenes Ausbildungszentrum zu gründen, die Escuela de Nutricin. Mitte der 1970er Jahren prägte eine dritte Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Institut, die eng in die Realisierung der multisektoralen Planungspolitik eingebunden wurde. Dies ist das Thema des vierten Abschnittes. Bei der Analyse konzentrieren wir uns auf die regionale Arbeit des Instituts und verzichten auf eine detaillierte Untersuchung der Situation in den Einzelstaaten.

I. Vom Wissenszentrum USA zur Expertise in Guatemala Während der 1960er und 1970er Jahre war INCAP eine wichtige Anlaufstelle für internationale Entwicklungsexperten, die den zentralamerikanischen Raum bereisten. Das Institut begrüßte jedes Jahr hunderte von Besuchern, die im INCAP Austausch, Information und auch Inspiration suchten. Für das bessere Verständnis des Phänomens INCAP ist eine kurze Skizzierung der lateinamerikanischen und der spezifisch zentralamerikanischen Situation vonnöten, die sich von der kolonialen Ausgangslage großer Teile Asiens und Afrikas wesentlich unterscheidet. Technisches Wissen und seine Träger genossen in Lateinamerika seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein hohes

13 Für die frühe Geschichte gibt es allerdings Lücken, da Bestände durch das Erdbeben von 1976 zerstört wurden. 14 Das Instituto Interamericano de Ciencias Agrcolas (IICA) wurde 1942 gegründet und 1948 der Organisation amerikanischer Staaten unterstellt. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Ansehen.15 Für die Entwicklungsbestrebungen im 20. Jahrhundert waren die Interaktionen von lokalen Akteuren mit internationalen Organisationen zentral. Seit den 1920er Jahren wandten sich lateinamerikanische Reformer im Gesundheits- und Sozialwesen zusehends an internationale Gremien, um Legitimation sowie auch materielle Unterstützung für ihre Vorhaben einzuwerben.16 Diverse Kommissionen des Völkerbunds und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO) sowie die Rockefeller Foundation stellten Mittel zur Förderung der Kooperation und in gewissen Fällen auch Ressourcen für neue Institutionen.17 Die zentralamerikanischen Kleinstaaten gehörten zu den ärmsten Ländern des Kontinents. Das extreme Wohlstandsgefälle, der äußerst asymmetrisch verteilte Landbesitz sowie die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung trugen zu prekären sozialen Bedingungen bei. Trotz der zunehmenden Anprangerung der Zustände durch die wenigen lokalen Sozialreformer sowie durch ausländische Beobachter zeigte die traditionelle Oligarchie kaum Interesse an potenziell destabilisierenden Modernisierungsprozessen und konzentrierte sich darauf, gute Rahmenbedingungen für die exportorientierte Plantagenwirtschaft zu gewährleisten. Sozialpolitische Entwicklungsprojekte entstanden viel später als in anderen lateinamerikanischen Staaten.18 Die 15 Reichere Staaten gründeten technische Fachschulen, um die Abhängigkeit von europäischen Ingenieuren zu verringern. In Mexiko sollten die von August Comte inspirierten cientficos das Land modernisieren, während Brasilien das Motto „Ordnung und Fortschritt“ in die Nationalflagge integrierte. Michiel Baud, The Quest for Modernity. Latin American Technocratic Ideas in Historical Perspective, in: Miguel Angel Centeno u. Patricio Silva (Hg.), The Politics of Expertise in Latin America, New York 1998, S. 13 – 35, hier S. 23 u. S. 32. 16 Für einen Überblick siehe Anne-Emanuelle Birn u. Gilberto Hochman, Communication, Control, and Co-Operation. (Latin) American Interchanges in the History of International Health, in: Canadian Bulletin of Medical History / Bulletin canadien d’histoire de la mdecine 25. 2008, S. 7 – 16; für Ernährungsfragen siehe Corinne A. Pernet, Developing Nutritional Standards and Food Policy. Latin American Reformers between the ILO, the League of Nations Health Organization, and the Pan-American Sanitary Bureau, in: Sandrine Kott u. Jolle Droux (Hg.), Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond, London 2013, S. 249 – 261. 17 Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation wurde 1902 als Pan American Sanitary Bureau gegründet. Im Bereich der Ernährung wurde z. B. in Ecuador in den 1940er Jahren mit Hilfe der Kellogg Foundation ein Institut gegründet, das kolumbianische Instituto de Nutricin y Bienestar folgte in den 1960er Jahren. Hctor Bourges u. a. (Hg.), Historias de la Nutricin en Amrica Latina (= Publicacin SLAN, Bd. 1), http:// www.fundacionbengoa.org/publicaciones/images/414/Historias%20Nutrici%C3 %B3n. pdf, S. 22 f. 18 Bis in die 1930er Jahre fungierte der U.S.-amerikanische Imperialismus als wichtiges Feindbild. Mit dem Anbruch der Politik der guten Nachbarschaft wurden die nationalen Probleme als Resultat der politischen und sozialen Rückständigkeit interpretiert. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg führten jedoch zu politischen Umbrüchen in der Region. In einigen Staaten wurden die autoritären Regime abgelöst, wie zum Beispiel in Guatemala, wo soziale Bewegungen 1944 den Diktator Jorge Ubico (1931–1944) stürzten. Der neue Präsident Juan Jos Arvalo (1944 –1952) demokratisierte das Land und trieb Reformprojekte voran, was einen tiefen Bruch mit der oligarchischen Vergangenheit bedeutete. Der nachfolgende Präsident Jacobo rbenz brachte 1952 eine Agrarreform auf den Weg, die die Macht der Großgrundbesitzer herausforderte.19 Mit Unterstützung der CIA stürzten guatemaltekische Militärs den Präsidenten und setzten der „Dekade der Hoffnung“ ein abruptes Ende.20 Die U.S.-Regierung war an der Etablierung der Militärherrschaft aktiv beteiligt und finanzierte in den folgenden Jahren großangelegte Entwicklungsprogramme, um die Überlegenheit ihres antikommunistischen Kurses zu beweisen.21 Auch in anderen Staaten, wie zum Beispiel in Nicaragua, verfestigten sich autoritäre Herrschaftsformen erneut, und nur in Costa Rica blieben demokratische Traditionen weitgehend unangetastet. Diese politische Konstellation beeinträchtigte die Arbeit des INCAPs von Beginn an. Die Gründung 1949 fiel noch in die „Dekade der Hoffnung“; das Institut war ein Aushängeschild für die neue Reformregierung. Der damalige guatemaltekische Gesundheitsminister nutzte geschickt das Interesse von U.S.-Ernährungswissenschaftlern an den Ernährungsgewohnheiten der indigenen Bevölkerung, um die Gründung des Instituts voranzutreiben. INCAP war als eine supranationale Organisation konzipiert, finanziert durch die zentralamerikanischen Mitgliedsländer sowie die PAHO. Die PAHO ihrerseits verfolgte damals eine Dezentralisierungsstrategie, um sich von der Dominanz der USA zu befreien.22 Als regionales Forschungsinstitut der PAHO sollte INCAP zur Ernährungssicherheit und Entwicklung in Zentralamerika beitragen. Symbolträchtig wurde das Institut am 15. September, dem Jahrestag der zentralame19 Piero Gleijeses, Shattered Hope. The Guatemalan Revolution and the United States, 1944 – 1954, Princeton 1991; Jim Handy, Revolution in the Countryside. Rural Conflict and Agrarian Reform in Guatemala, 1944 – 1954, Chapel Hill, NC 1994. 20 Zwischen 1944 und 1954 erlebte Guatemala eine einschneidende Phase der demokratischen Öffnung und der Reformen, die als „Dekade des Frühlings“ oder „Dekade der Hoffnung“ bezeichnet wurde. Während der Militärdiktaturen blieb diese Dekade ein wichtiger Bezugspunkt für die Opposition. 21 Stephen M. Streeter, The Failure of „Liberal Developmentalism“. The United States’s Anti-Communist Showcase in Guatemala, 1954 – 1960, in: The International History Review 21. 1999, S. 386 – 413. 22 Vor 1946 war der Einfluss des U.S. Public Health Service enorm. Danach gaben die Verhandlungen mit der neuen Weltgesundheitsorganisation Anlass zu Reformen. Hctor R. AcuÇa, The Pan American Health Organization. 75 Years of International Cooperation in Public Health, in: Public Health Reports 92. 1977, S. 537 – 544, hier S. 540 f. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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rikanischen Unabhängigkeit, eingeweiht. Das Institut entstand also in einer doppelten Umbruchsituation von Reform und Emanzipation, und sollte einen eigenständigen Weg zur Lösung der Ernährungsprobleme entwickeln. Die Komplexität dieser Unabhängigkeitsbestrebungen offenbart sich bei einem genaueren Blick auf INCAPs Geldgeber : PAHO finanzierte ungefähr die Hälfte des Budgets, aber auch diverse U.S.-Stiftungen leisteten wesentliche Beiträge, allen voran die Kellogg Stiftung.23 Auch der erste von der PAHO eingesetzte Direktor war ein U.S.-Amerikaner. Der erst 31-jährige Physiologe und Arzt Nevin Scrimshaw sollte das Institut aufbauen.24 Die Besonderheiten der lokalen Ressourcen sowie der Ernährungsgewohnheiten zu erforschen und auf dieser Basis Strategien für Verbesserungen in der Ernährungssituation zu erarbeiten, wurde jedoch kaum durch Scrimshaws Nationalität gefährdet. Für die Umsetzung der Lösungen in Schulen, Ministerien und Firmen musste das Institut eigene Fachleute ausbilden, die das Expertenwissen verbreiten würden. Der Aufbau lokaler Expertise in der Ernährungsforschung und in der Ernährungspolitik war also ein wichtiger Aspekt der INCAP-Mission. Über Jahrzehnte hinweg verfolgte das Institut nicht nur eine aktive Rekrutierungspolitik für Zentralamerikaner und Zentralamerikanerinnen, sondern institutionalisierte auch deren Weiterbildung, die oft in den USA stattfand. Scrimshaws erste Mitarbeitende, die Ernährungswissenschaftler Guillermo Arroyave und Marina Flores, hatten beide in den USA studiert. Arroyave studierte dank eines Stipendiums der Kellogg Foundation Ernährungswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und erhielt später ein Stipendium des John Simon Guggenheim Memorial Funds, um ein Doktorat in Biochemie an der University of Rochester zu erwerben. Marina Flores studierte an der Harvard University, als sie zum INCAP rekrutiert wurde. Sie verbrachte den Rest ihrer Karriere am INCAP, unterbrochen nur von einem Masterstudium an der Cornell University in den 1960er Jahren.25 Auch der guatemaltekische Biochemiker Ricardo Bressani (1926 – 2015) studierte in den USA, als er kurz nach seinem Masterabschluss 1951 von Scrimshaw rekrutiert wurde. Nach zwei Jahren in Guatemala erhielt Bressani ein Stipendium der Rockefeller Foundation, um in den USA in Biochemie zu promovieren. Auch er kehrte ans INCAP zurück und leitete bis 1988 die Abteilung für 23 In späteren Jahren zahlte auch die Nutrition Foundation der United Fruit Company Forschungsbeiträge an das Institut. Corinne A. Pernet, Between Entanglements and Dependencies. Food, Nutrition, and National Development at the Central American Institute of Nutrition (INCAP), in: Frey, Organizations and Development, S. 101 – 125. 24 Scrimshaws (1918 – 2013) erste Stelle als Arzt war in der Kanalzone Panamas. 25 Jos Flix Chvez Prez, Guillermo Arroyave Borges, 1922 – 2008. Notas necrolgicas, in: Archivos Latinoamericanos de Nutricin 58. 2008, S. 316 f.; Nevin S. Scrimshaw, In Memoriam Guillermo Arroyave, 1922 – 2008, in: Food and Nutrition Bulletin 29. 2008, S. 340 f. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Ernährungs- und Agrarwissenschaften. Bressani wahrte jedoch enge Kontakte zu den USA, lehrte unter anderem ein Jahr am MIT und wurde 1978 zum Mitglied der amerikanischen National Academy of Science ernannt. Auch Absolventen und Absolventinnen lateinamerikanischer Institutionen konnten von den INCAP Verbindungen profitieren. Die Panamaerin Susana J. Icaza hatte ihr Studium als dietista am traditionsreichen Instituto de Nutricin in Buenos Aires abgeschlossen und leitete ab 1951 INCAPs Ausbildungsabteilung.26 Auch sie bildete sich in den USA weiter : 1955 absolvierte sie ein Masterstudium an der Harvard School of Public Health und zehn Jahre später ein Doktoratsstudium in Erziehungswissenschaften an der Columbia University in New York. Nach ihrer Rückkehr 1969 übernahm Icaza wiederum die Leitung von INCAPs Escuela de Nutricin.27 In den meisten Fällen bezahlten die PAHO, die Kellogg Foundation oder andere private Stiftungen Stipendien und Forschungsbeiträge an die zentralamerikanischen Wissenschaftler. Die enge Einbindung in den U.S.-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb verhalf ihnen in Zentralamerika und auf internationaler Ebene zu Ansehen. Wichtige Ernährungswissenschaftler wie Leonard A. Maynard von der Cornell University waren im wissenschaftlichen Beirat INCAPs aktiv. Auch als Nevin Scrimshaw 1961 als Professor an das MIT berufen wurde, pflegte er die zentralamerikanischen Netzwerke weiter und förderte die INCAP-Mitarbeitenden. Scrimshaw machte eine steile Karriere am MIT und etablierte sich schnell in internationalen Gremien wie dem Ernährungsausschuss der WHO oder der United Nations University.28 Er hatte deshalb viele Möglichkeiten, INCAPMitarbeitende in der internationalen Ernährungswissenschaft zu platzieren und talentierten zentralamerikanischen Forschern Studienplätze an amerikanischen Universitäten zu vermitteln. Gemeinsame Publikationen, Einladungen zu Tagungen und Workshops sowie die Besetzung von Posten mit INCAP-Kollegen verfestigten diese Netzwerke.29 Mit dieser Integration in den U.S.-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb entgingen die INCAP-Forscher der Marginalisierung ihrer Forschungsergebnisse. Noch in den 1930er Jahren machten lateinamerikanische Wissenschaftler die Erfahrung, dass sie die Machtasymmetrie in den internationalen wissenschaftlichen Netz26 Pernet, Developing Nutritional Standards, S. 249 – 261. 27 Susana J. Icaza u. a., El Legado del INCAP en la Formacin de Recursos Humanos, Guatemala City 2006. 28 Scrimshaws Ubiquität in der internationalen Ernährungspolitik rief manchmal eine gewisse Irritation hervor. Von Scrimshaws vielen Ehrungen seien hier nur der World Food Prize, ein Ritterschlag des thailändischen Königs, ein Orden der guatemaltekischen Regierung sowie zahlreiche Ehrendoktorate genannt. 29 INCAP war in den Ernährungskommissionen der PAHO, der WHO sowie anderen Kommissionen der Vereinten Nationen gut vertreten. Siehe James M. Hester, An International Community of Scholars, in: The Bulletin of the Atomic Scientist 34. 1978, S. 37 – 41, hier S. 38. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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werken benachteiligte. In mehreren Fällen publizierten U.S.-Wissenschaftler deren wegweisende Erkenntnisse als eigene Forschungsleistungen und heimsten damit Ruhm ein, wie zum Beispiel bei der Erforschung der Gelbfieber-Übertragung.30 Auch wenn gewisse Machtasymmetrien fortlebten, verfolgte das INCAPTeam erfolgreich die Strategie, das Institut in Guatemala international als Ort der Wissensproduktion zu positionieren. Epidemiologische und auch biochemische Untersuchungen über die lokalen Ernährungsprobleme sowie mögliche Lösungsansätze wurden nicht nur in der mehrsprachig erscheinenden Zeitschrift der PAHO, sondern auch in internationalen Fachzeitschriften publiziert. INCAP legte Wert darauf, diese Forschungsresultate einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, erfasste alle Publikationen und Vorträge zusätzlich in einer internen Reihe und verschickte jährlich tausende von Nachdrucken und vierteljährlichen Informationsbroschüren.31 Die ersten internationalen Erfolge verbuchte INCAP mit Untersuchungen zur Wertigkeit von pflanzlichen Proteinen, vor allem in ihrer traditionellen Zubereitung. Daraus entwickelte sich ein Projekt für ein aus lokalen Produkten hergestelltes Proteinpulver. Dieses Pulver, Incaparina genannt, sollte vor allem den Proteinbedarf von Kindern decken und war als günstigere Alternative zum importierten Milchpulver konzipiert. Es war darüber hinaus auch für die Zubereitung von Atole geeignet, einem weitverbreiteten, warmen Getränk auf Maisbasis.32 Incaparina als lokal produzierte und kulturell angepasste Alternative zur Milch war anfänglich ein Alleinstellungsmerkmal des INCAP. In den folgenden Jahren kamen ähnliche Mischungen in anderen lateinamerikanischen Ländern auf den Markt, wie zum Beispiel in Venezuela und Kolumbien. In Indien und an verschiedenen Orten Afrikas versuchte man in der Folge, das Incaparina-Konzept zu transferieren.33 Incaparina brachte dem Ernährungsinstitut viel Aufmerksamkeit von der Entwicklungscommunity und den Medien ein.

30 Espinosa, Globalizing the History of Disease, Medicine and Public Health, S. 803 – 805. 31 Die INCAP-Reihe Compilacin de Trabajos Cientficos hatte bald mehrere hundert Einträge. PAHO Directing Council, XVIII Meeting, Buenos Aires, Argentina. Objectives, Functions, and Financing of the Institute of Nutrition of Central America and Panama. CD 18/20, Provisional Agenda Item 22. 1968, S. 15. 32 Richard L. Shaw, Incaparina in Central America, in: Max Milner (Hg.), Protein-Enriched Cereal Foods for World Needs, St. Paul, MN 1969, S. 320 – 333; Christiane Berth, „El maz, nuestra raz“. Los debates sobre la independencia alimentaria en Centroamrica, in: Centroamericana 22. 2012, S. 21 – 49. Incaparina wurde unter Konzession von guatemaltekischen Unternehmen produziert und wird bis heute vertrieben. 33 Jennifer Tappan, The True Fiasco. The Treatment and Prevention of Severe Acute Malnutrition in Uganda, 1950 – 74, in: Tamara Giles-Vernick u. James L. A. Webb (Hg.), Global Health in Africa. Historical Perspectives on Disease Control, Athens, OH 2013, S. 92 – 113; Florence Tartance, Incaparina and Other Incaparina-Based Foods. Experience of INCAP in Central America, in: Food and Nutrition Bulletin 21. 2000, S. 49 – 54. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Die INCAP-Führung erkannte sehr früh, dass technisches Wissen alleine keine nachhaltige Ernährungspolitik generieren konnte und rekrutierte bereits in den 1950er Jahren erste Anthropologen. Das Institut unterstützte die Feldforschung des Guatemalteken Alfredo Mndez Domnguez, der nach seiner Promotion an der University of Chicago 1960 die anthropologische Abteilung des Instituts leitete.34 Die Kombination verschiedener Ansätze erwies sich als sehr fruchtbar : Die anthropologische Abteilung hatte in den 1960er Jahren eine federführende Rolle bei einer groß angelegten Studie zur Ernährungssituation. Über hundert Fachleute führten in dreißig Ortschaften pro Land klinische Untersuchungen durch, erhoben aber auch sozioökonomische Daten von 3.800 Interviewpartnern. Die Forschenden besuchten die Haushalte an drei Tagen für Befragungen und Beobachtung der Ernährungsgewohnheiten. Die 1971 publizierte Studie lieferte erstmals vergleichbare Daten zur Ernährungslage in allen Mitgliedsstaaten.35 INCAPs wissenschaftliche Produktion wurde sehr positiv bewertet, sodass INCAP-Forschende im Einwerben von Stipendien und Forschungsgeldern erfolgreich waren. Darüber hinaus ehrte die ernährungswissenschaftliche Community viele von ihnen mit Preisen und Auszeichnungen.

II. Entwicklungskonzepte in den 1960er Jahren Während der 1960er Jahre verstärkte sich der Eigenständigkeitsdiskurs im INCAP. Das war kein Zufall, denn an der Spitze der zweiten INCAPFührungsgeneration stand seit 1961 der guatemaltekische Kinderarzt Moiss Bhar.36 In einem Vortrag vor dem amerikanischen Unterstützungskomitee der WHO zitierte Bhar einen brasilianischen Kollegen dahingehend, dass „soziale und wirtschaftliche Entwicklung nicht etwas ist, dass man den Völkern geben kann – es ist etwas, dass sie nur selbst erarbeiten können.“37 Er nahm auch das Argument auf, dass nur wohlernährte und gesunde Latein34 Richard N. Adams, Social Anthropology in INCAP, in: Food and Nutrition Bulletin 31. 2010, S. 152 – 160, hier S. 154 f. 35 The Interdepartmental Committee on Nutrition for National Development (ICNND), Nutritional Evaluation of the Population of Central America and Panama 1965 – 1967, Guatemala 1971. Außerdem befragten die Forschenden je hundert Haushalte in den Städten Guatemala-Stadt, San Salvador, San Pedro Sula, Managua, San Jos und Panama-Stadt. 36 Bhar hatte in Guatemala und Frankreich studiert und kooperierte erstmals 1951 mit INCAP, als er mit dem Franzosen Marcel Autret für die FAO und die WHO eine Untersuchung zur Unterernährung bei Kindern durchführte. Marcel Autret u. Moiss Bhar, Sndrome Policarencial Infantil (Kwashiorkor) and its Prevention in Central America (= FAO Nutritional Studies, Bd. 13), Rom 1954. 37 Ebd., S. 1. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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amerikaner und Lateinamerikanerinnen zu „besseren sozialen und wirtschaftlichen Strukturen“ beitragen könnten. Interessant ist Bhars frühes Plädoyer für die Angewandte Ernährungswissenschaft (applied nutrition), worunter er die Umsetzung der Forschungsresultate in nationale Ernährungspolitik durch interdisziplinäre Beratungsteams verstand. Ernährungspolitik könne nur mit der Beteiligung der Gesundheits-, Landwirtschafts-, Wirtschafts- und Bildungsministerien gemacht werden und das benötige entsprechende Beratungs- und Planungsgremien. Ein Problem in diesem Zusammenhang war laut Bhar der eklatante Mangel an Fachkräften: Für ganz Lateinamerika schätzte er den Bedarf auf etwa vierhundert ernährungswissenschaftlich geschulte Ärzte und Ärztinnen sowie 1.000 bis 2.000 Ernährungsfachleute, ohne welche keine Ernährungspolitik erarbeitet werden könne.38 Ob allerdings deren Verfügbarkeit bei den Regierungen ein Interesse an Ernährungspolitik bewirkt hätte, sei dahingestellt. Bhar griff in den frühen 1960er Jahren Planungsideen auf, die während der Zwischenkriegszeit in diversen Völkerbundkommissionen diskutiert worden waren. Allerdings marginalisierte die FAO diese Ansätze in der Nachkriegszeit zugunsten einer Politik der Produktivitätssteigerung, die zusammen mit der Nahrungsmittelhilfe Engpässe überbrücken sollte.39 In Lateinamerika propagierte die CEPAL die nationale und regionale Planung zwar seit den 1950er Jahren, wandte sie aber stärker auf Industrialisierungsprozesse als auf die Ernährungsfrage an.40 INCAP akzeptierte demzufolge nicht, was in der Literatur oft als Entwicklungsdiskurs der 1960er Jahre dargestellt wird: das Primat des Wirtschaftswachstums, das das Wohlergehen der Bevölkerung sicherstellen würde.41 Im Jahresbericht von 1963 hielt das Institut fest, Entwicklung sei ein Mittel zum Zweck, aber kein Ziel an und für sich. Das langfristige Hauptziel müsse das soziale, physische und mentale Wohlergehen der Bevölkerung sein.42 Obwohl sich INCAP schon früh von einer Festlegung auf ökonomische Entwicklung als 38 Instituto de Nutricin de Centro Amrica y Panam [im folgenden INCAP Bibliothek], INCAP Publication I-264, Guatemala Moiss Bhar, Eradication of Disease and Hunger in Latin America, Guatemala 1962. 39 Ruth Jachertz, „To Keep Food out of Politics“. The UN Food and Agriculture Organization, 1945 – 1965, in: Frey, Organizations and Development, S. 75 – 100. 40 Die CEPAL beschäftigte sich hauptsächlich mit der Politik der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI). Im Laufe der 1960er Jahre schwenkte der Fokus zur Landwirtschaftsplanung, da mit der Allianz für den Fortschritt ein wichtiger Akteur Planung befürwortete. Siehe FAO (Hg.), Decentralization of Agricultural Planning Systems in Latin America (= FAO Economic and Social Development Paper 92), Rom 1990. 41 Gustavo Esteva, Development, in: Wolfgang Sachs (Hg.), Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power, London 1992, S. 9. 42 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de julio de 1962 – 30 de junio de 1963. XIV Reunin del Consejo, Guatemala 1963, S. 1. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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primäres Ziel abgrenzte, blieben die Entwicklungsdiskurse der beteiligten Wissenschaftler vielfältig und nahmen auf zahlreiche der globalen Entwicklungsparadigmen Bezug. Ricardo Bressani zum Beispiel führte die Ernährungsprobleme der Region im Wesentlichen auf Abhängigkeitsverhältnisse und einen Mangel an lokaler Wissensproduktion zurück. Deshalb forderte er den Aufbau einer leistungsfähigen naturwissenschaftlichen Forschung an zentralamerikanischen Universitäten für eine unabhängige Entwicklung und resümierte in der Zeitschrift Food Technology : The only lasting way to help solve the problems of underdeveloped countries is to increase their abilities to help themselves, using their own people and their own natural resources. […] As independence was a feature of the early development of the United States, so it is vital to the emerging countries of the world today.43

Bressani war der Ansicht, relevantes Wissen müsse alle Ebenen der zentralamerikanischen Gesellschaft, von der Elite bis zu den Bauern, erreichen. Aber er rechnete besonders mit den Machthabern ab: Even among the more well-to-do there is a good deal of lethargy to overcome. Government officials generally look upon their duties as being solely the preservation of law and order. It is amazing that many of these adults are unaware of the grave problems facing their countries.44

Die Abbildung 2 zeigt, dass Bressani und INCAP-Direktor Bhar 1966 durchaus Zugang zum guatemaltekischen Präsidenten hatten. Aber der erste zivile Präsident der 1960er Jahre, Julio Csar Mndez Montenegro, musste seine Politik schnell den Interessen des Militärs unterordnen. Auch Bhar akzeptierte vorerst die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Entwicklung, nur müsse die Forschung unbedingt aus der Region selbst kommen.45 Mitte der 1970er Jahre war Bhar jedoch skeptischer gegenüber dem Potenzial des Expertenwissens für soziale Verbesserungen geworden und begriff die sozialen Strukturen als das Grundproblem. Weder eine allgemeine wirtschaftliche Entwicklung noch die „Grüne Revolution“ seien unabdingbar, um für eine gute Ernährung zu sorgen.46 Wie Bressani sah auch Bhar Ende der 1980er Jahre die Haltung der Regierungen als eines der zentralen Probleme an: Our major obstacle was that the governments, impotent to overcome fundamental causal factors of the nutritional problems, demanded ,solutions‘ such as technologies of easy application and of low cost. Some were developed for certain types of specific problems, but 43 Ricardo Bressani, How IFT Can Help Developing Countries. View from Central America, in: Food Technology 19. 1965, S. 97 – 99, hier S. 99. 44 Ebd., S. 98. 45 Moiss Bhar, Reflexiones sobre el desarrollo del INCAP, in: Boletin de la Oficina Sanitaria Panamericana 78. 1975, H. 1., S. 3 – 7. 46 Nutrition Goal Called Possible, in: The Milwaukee Journal, 29. 8. 1975, S. 26. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Abbildung 2: Ricardo Bressani (li.) und Moiss Bhar (re.) bei einem Besuch des guatemaltekischen Präsidenten Julio Csar Mndez Montenegro am INCAP. Quelle: Instituto de Nutricin de Centro Amrica y Panam, Informe Anual 1966, S. 48. in any case were transitory measures; obviously, they could not be presented as a means to solve at depth, the problems of insufficient and inadequate feeding, caused fundamentally by socioeconomic factors.47

Trotz der Ausbildung in den USA und der Einbettung in einen internationalen Forschungskontext hing die zentralamerikanische INCAP-Führung also nicht einfach technokratischen Ideen nach und war sich der Grenzen ihrer Aktivitäten sehr wohl bewusst. Sie bediente sich diverser disziplinärer Techniken und Ansätze, um die lokalen Realitäten besser zu verstehen – von Biochemie über Anthropologie zur Soziologie. Für die INCAP-Führungsgruppe bot die Zusammenarbeit mit den U.S.-amerikanischen Forschenden nicht nur internationale Anerkennung, sondern auch eine gewisse Legitimation gegenüber den eigenen Regierungen.

47 INCAP Bibliothek, Moiss Bhar, My Experience as Director of INCAP. 1961 – 1974, in: INCAP, Annual Report, Guatemala 1988, S. vii – ix. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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III. INCAP und die Entwicklungsmaschinerie in Zentralamerika Während INCAP auf der einen Seite in der nutrition community schnell ein hohes Ansehen gewann, entwickelten sich auf der anderen Seite Konflikte mit anderen internationalen Organisationen und NGOs, die ebenfalls auf dem Gebiet der Ernährung tätig waren. In den frühen Jahren gab es vor allem Zusammenstöße mit UNICEF und der FAO. Diese Konflikte lassen sich nicht nur als Konkurrenz in einem neuen Handlungsfeld lesen, denn sie hatten durchaus inhaltliche Hintergründe. INCAP bevorzugte lokale Ressourcen als Lösung für die Ernährungsprobleme der Region; dagegen votierten FAO und UNICEF für eine Umverteilung der weltweit vorhandenen Nahrungsmittelressourcen, was mittelfristig oft die Gestalt von Nahrungsmittelhilfe annahm. Während sich die INCAP-Forschenden auf dem internationalen Parkett erfolgreich wissenschaftliche Netzwerke aufbauten, agierten sie regional als Vertreter der Institution INCAP und waren deshalb in Auseinandersetzungen mit anderen Organisationen verwickelt. Die frühen Auseinandersetzungen mit UNICEF drehten sich um die Verteilung von Milchpulver. Sowohl FAO wie auch UNICEF blieben lange der Überzeugung verhaftet, dass tierische Proteine für eine gesunde Entwicklung unabkömmlich und anderen pflanzlichen Proteinen überlegen seien, was die INCAP-Forschung zum größten Teil widerlegt hatte.48 Obwohl INCAP einen katastrophalen Proteinmangel bei großen Teilen der Bevölkerung feststellte, protestierte das Institut resolut gegen UNICEFs Importe von Milchpulver: Nicht nur sei Milch in den Tropen schwierig zu handhaben, die Einfuhr von Milchpulver sei auch kurzsichtig, weil sie die lokale Produktion senken würde. Das Institut schlug stattdessen vor, die Mangelernährung mit lokal produzierten und kulturell verträglichen Mitteln zu bekämpfen und trieb die Entwicklung von Incaparina voran.49 WHO-Vertreterinnen und -Vertreter unterstützten INCAPs Kritik an der Nahrungsmittelhilfe, und schließlich begann auch UNICEF, Alternativen zum Milchpulver in Betracht zu ziehen.50 Am konfliktreichsten blieben die Beziehungen zur FAO. Deren Vertreter warfen INCAP 1968 vor, das Institut wolle alle Aktivitäten im Ernährungsbereich unter seine Kontrolle bringen, ohne die nötigen Kompetenzen und Personalkapazitäten zu haben. Als INCAP 1967 ein regionales Ernährungs48 Maggie Black, The Children and the Nations. The Story of Unicef, New York 1986, S. 140 – 150; Stanisław K. Kon, Milk and Milk Products in Human Nutrition (= FAO Nutritional Studies, Bd. 27), Rom 1972. 49 Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Report of the Regional Seminar on School Feeding in South America. Bogota, Colombia, 27 Oct – 8 Nov 1958 (= FAO Nutrition Meetings Report Series, 1959); Shaw, Incaparina in Central America, S. 320 – 333; Berth, „El maz, nuestra raz“, S. 21 – 49. 50 Corinne A. Pernet, L’UNICEF et la lutte contre la malnutrition en Amrique centrale, entre cooprations et concurrences, in: Relations Internationales 161. 2015, S. 27 – 42. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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komitee gründete und die FAO erst nach dem Gründungstreffen dazu einlud, beklagte sich die FAO erneut, zuerst erfolglos bei Bhar und dann bei PAHODirektor Abraham Horwitz.51 Ende der 1960er Jahre zog sich die FAO zeitweise ganz aus Zentralamerika zurück, nahm dann aber auf Bitten der Regierungen hin die Aktivitäten wieder auf. Die FAO war bereit, die Forschungskompetenz des Instituts anzuerkennen, akzeptierte aber nicht dessen direkte Interventionen im Bereich der applied nutrition, die in den 1960er Jahren an Bedeutung gewannen. INCAP musste sich ebenfalls mit NGOs wie der U.S.-amerikanischen CARE (Cooperation for Assistance and Relief Everywhere) auseinandersetzen. CARE verteilte in den 1960er Jahren Nahrungsmittelhilfe im großen Stil und stützte sich dabei zu einem großen Teil auf U.S.-amerikanische Nahrungsmittel, die im Rahmen des Public Law 480 (PL 480) zur Verfügung gestellt wurden.52 Als ein CARE-Team in Nicaragua und Guatemala das Terrain sondierte, stieß besonders das Ansinnen, CSM-Produkte (Corn-Soy-Milk) zu verteilen, auf Widerstand. Da mit Incaparina eine lokale Alternative vorhanden war, befürchtete das guatemaltekische Gesundheitsministerium, die Verbreitung von CSM-Produkten könnte Incaparinas Position auf dem lokalen Markt schwächen.53 Auch in Nicaragua sprach sich INCAP gegen das Einströmen importierter Produkte aus. Dieser Widerstand war ungewohnt für CARE und irritierte den erst kurz zuvor in die Region entsandten Mitarbeiter. Er klagte, dass die Ernährungsabteilung des nicaraguanischen Gesundheitsministeriums im Banne INCAPs stehe und führte den Erfolg Incaparinas auf eine große Propagandamaschinerie sowie Appelle an den zentralamerikanischen Nationalismus zurück.54 Zwar erreichte INCAP ein zeitweises Verbot der Verteilung von CSM-Produkten in Guatemala, aber dieser punktuelle Erfolg bedeutete keine Verankerung von INCAPs Ideen in der regionalen Politik.55 Das Ernährungsinstitut suchte jedoch auch den Dialog, um die internationalen Organisationen von alternativen Programmen zu überzeugen. Bhar argumentierte gegenüber CARE-Vertretern, die Nahrungsmittelhilfe trage nicht zu einer Stärkung der lokalen Nahrungsmittelproduktion bei. Daraufhin begann 51 FAO Archives, ESN TA 2 / 7, E. Labarthe, FAO Sr. Agricultural Advisor in Central America; H. P. Teulon, Chief UN, Relaciones de la FAO con el INCAP (Instituto de Nutricin para Centro Amrica y Panam), 13. 2. 1968. 52 Heike Wieters, Of Heartfelt Charity and Billion Dollar Enterprise. From Postwar Relief to Europe to Humanitarian Relief to „Everywhere“ – CARE, Inc., in Search of a New Mission, in: Frey, Organizations and Development, S. 220 – 239. 53 CARE Archives, B 840, Discursive Report, August - October 1966. 54 Aus den Berichten wird allerdings klar, dass der Mitarbeiter die Institutionen in Zentralamerika kaum kannte. CARE Archives, B 657, Fred Anderson to William M. Langdon, 25. 11. 1966; CARE Archives, B 80, Fred S. Anderson to Bertran D. Smucker, 8. 8. 1967; CARE Archives, B 657, Discursive report, September – November 1966. 55 CARE Archives, B 657, William Langdon to Fred Anderson, 27. 11. 1966. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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die NGO tatsächlich, ein Projekt zum Sojaanbau in Guatemala zu fördern.56 Nur zwei Jahre später begannen die beiden Organisationen eine direkte Kooperation. Die Welternährungskrise war ebenfalls Auslöser für diesen Sinneswandel, denn CAREs interne Analysen verwiesen mit Sorge darauf, dass es in Zukunft weniger U.S.-amerikanische Nahrungsmittelhilfe geben werde.57 Obwohl CARE New York das Incaparina-Projekt immer mit großem Misstrauen beäugt und als Konkurrenz wahrgenommen hatte, kooperierte CARE in den 1970er Jahren mit INCAP, um die Produktion von Incaparina zu erhöhen, unter anderem mit einer Mais-Spende durch das PL 480 Programm.58 Während sich aus der anfänglichen Konkurrenz zwischen CARE und INCAP eine Kooperation entwickelte, entstanden Spannungen mit der medizinischen Fakultät der Universität San Carlos (USAC). Dort wie auch an der ganzen Universität, gewann seit den 1960er Jahren eine neue Generation von Forschenden an Einfluss, die sich intensiv mit der Situation der unteren Gesellschaftsschichten auseinandersetze, Theorien der Entwicklung diskutierte und sich in oppositionellen Bewegungen engagierte. Die wissenschaftlichen und politischen Debatten waren zunehmend von der Dependenztheorie geprägt, weshalb Universitätsangehörige zum Beispiel die U.S.-amerikanischen Aktivitäten im Bereich der Familienplanung heftig attackierten.59 Im August 1975 veröffentlichte die Zeitung El Grfico eine heftige Kritik an einer INCAP-Studie zu Ernährung und Arbeitsproduktivität von Landarbei56 CARE Archives, B 1172, Wallace J. Campbell to Frank L. Goffio, 17. 7. 1972. 57 Vgl. zur Geschichte der Krise Christian Gerlach, Die Welternährungskrise 1972 – 1975, in: GG 31. 2005, S. 546 – 585. 58 Die CARE-INCAP Kooperation ging auf ein Treffen Paul Hartenbergers mit Moiss Bhar bei einer Konferenz in Indien zurück. Auf Bhars Ersuchen wurde Hartenberger temporär in Guatemala stationiert. Beteiligt waren auch das guatemaltekische Gesundheitsministerium sowie die Firma Alimentos S. A., die Incaparina produzierte. INCAP schaffte einen sog. Brady Crop Cooker an, der die Verarbeitung von Soja und Getreide für Nahrungsmittelpulver erlaubte. Paul Hartenberger, A Collection of Personal CARE Memories (1968 – 1975), http://c.ymcdn.com/sites/www.carealumninow.org/resource/ resmgr/memories/1968–1975__usa_ind_idn__p_ha.pdf; CARE Archives, Box 168, A Summary of CARE’s Current Indigenous Food Projects, probably 1975; CARE Archives, Box 169, CARE-Guatemala Updated „Incaparina“ Program, May 1975. INCAP erforschte auch das Potenzial von Soja, siehe Ricardo Bressani, Soybeans as a Source of Protein for Human Feeding in Latin America, in: Agricultural Research Service (Hg.), Proceedings of International Conference on Soybean Protein Foods. 17. – 19. October 1966, Peoria, IL 1967, S. 28 – 37. 59 Annika Hartmann, „Das Rückgrat für Familienplanung in Guatemala“. Die Asociacin de Pro-Bienestar de la Familia in transnationaler Vernetzung und lokaler Kritik, in: Rinke u. Gonzlez de Reufels, Expert Knowledge in Latin American History, S. 303 – 331; dies., La familia pequeÇa, ¿vive major? Investigacin demogrfica, expertos transnacionales y debates acerca de la „explosin de poblacin“ en Guatemala despus de 1945, in: Mesoamrica [2015]. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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tern.60 Die Studie hatte gezeigt, wie die schlechte Ernährung die Produktivität der Landarbeiter auf ein tägliches Niveau von drei bis fünf Arbeitsstunden senkte. Eine wöchentliche Investition von nur 35 Cent (peso centroamericano) in Nahrungsergänzung pro Person wäre auf mehreren Ebenen gewinnbringend: Sie würde das Wohlergehen der Arbeiter steigern, die Produktivität und damit die Einkünfte der Plantagenbesitzer erhöhen sowie der Volkswirtschaft dienen. Das Komitee zur Planung, Erziehung und Entwicklung der medizinischen Fakultät der USAC akzeptierte die Daten als stichhaltig, kritisierte jedoch deren Interpretation: INCAP wolle ein ökonomisches Problem in ein biologisches umwandeln. Für die geringe Produktivität der Landarbeiter könne nicht die Ernährung allein verantwortlich gemacht werden, sondern es seien die Ausbeutungsverhältnisse auf den Plantagen, die auch die Motivation der Arbeiter auf ein Minimum reduziere.61 Die Expertise des Instituts kam so auf lokaler Ebene von zwei Seiten unter Beschuss. Einerseits warf die medizinische Fakultät dem Institut indirekt vor, mit U.S.-amerikanischen Ausbeutern zu kooperieren und die Interessen der guatemaltekischen Landarbeiter nicht zu verteidigen. Andererseits waren auch die Militärs schnell bereit, die Forschungsergebnisse zur Unterernährung der ländlichen Bevölkerung als Nestbeschmutzung zu bewerten. Der Tadel der USAC hob eine grundsätzliche Problematik am Institut hervor: Die Abteilung applied nutrition übte klar Kritik an den herrschenden sozialen Strukturen, doch andererseits war INCAP bemüht, die Kooperation der regionalen Regierungen zu gewinnen und reale Verbesserungen in der Ernährung der Bevölkerung herbeizuführen. Dies führte zu Studien wie der obengenannten, die eine Investition in Ernährung als Win-win-Situation für alle Beteiligten darstellten.62

60 Der genaue Titel der Studie wird nicht genannt, aber INCAP beschäftigte sich seit Ende der 1960er Jahre mit diesen Themen. Vgl. z. B. INCAP Bibliothek, Justo Csar Galacia Celada, Estudios sobre la influencia del estado nutricional en la capacidad bsica para el trabajo. Gasto calrico de diversas actividades habituales del campesino guatemalteco, Diss. Universidad de San Carlos de Guatemala 1967. Wahrscheinlich bezieht sich die Kritik auf Fernando Viteri u. Benjamin Torffln, Ingestin calrica y trabajo fsico de obreros agrcolas en Guatemala, in: Boleti´n de la Oficina Sanitaria Panamericana 78. 1975, S. 58 – 74. 61 Das Komitee beschuldigte INCAP zudem, die Marginalisierten für die Unterentwicklung verantwortlich zu machen. Paradoxerweise lehnte das Komitee aber auch Lohnerhöhungen für die Landarbeiter mit der paternalistischen Begründung ab, dass diese das Mehreinkommen nur für alkoholische Getränke oder Ramsch ausgäben und sich so stärker in die kapitalistische Konsumgesellschaft integrieren würden. La USAC comenta la dieta campesina establecida por INCAP, in: El Grfico, 20. 8. 1975. Die Autorinnen danken Annika Hartman für eine Kopie dieses Artikels. 62 Sicherlich war INCAP auch keine homogene Institution: Es gab Abteilungen innerhalb INCAPs, die sich dem Dependenzgedanken weniger verpflichtet fühlten. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Durch seine institutionelle Struktur und die Vernetzung mit anderen internationalen Organisationen war INCAP Teil der Entwicklungsmaschinerie. Diese Entwicklung beschleunigte sich seit den 1960er Jahren, als das Institut im Bereich der applied nutrition eine Pionierrolle einnahm. An verschiedenen Punkten geriet das Institut mit seinem Fokus auf Eigenständigkeit jedoch in Widerspruch zur Maschinerie und versuchte in der Region Entscheidungshoheit gegenüber anderen internationalen Akteuren zu behaupten. Im Falle der Nahrungsmittelhilfe streute es sogar aktiv Sand ins Getriebe, indem INCAP versuchte, die Verteilung von Milchpulver und Sojamilch zu unterbinden. War die Anerkennung der wissenschaftlichen Expertise in der internationalen nutrition community groß, mussten sich die Forschenden in der Region nicht nur gegen nationalistische Militärs, sondern auch gegen Angriffe von links behaupten.

IV. Die Suche nach globaler Ausstrahlungskraft und die Ausbildung regionaler Experten Nach einem Jahrzehnt der intensiven Forschung und der entsprechenden Publikationen hatte sich INCAP einen guten Ruf erarbeitet. An lokale Bedingungen angepasste Methoden für die Feldforschung, innovative Ideen wie Incaparina und die Entwicklung neuer, für die Tropen geeigneter Technologien in der Lebensmittelwissenschaft erregten internationales Aufsehen. Auch wenn sich INCAP durch Konflikte mit anderen Organisationen exponierte, blieb das Institut eine wichtige Referenz für Ernährungsexperten in Entwicklungsprojekten. Da das fehlende Expertenwissen als ein Hindernis für die Entwicklung der Region angesehen wurde, baute INCAP seit den Gründungsjahren diverse Ausbildungsprogramme auf. Diese waren während der 1950er Jahre noch nicht sehr strukturiert und fanden unter anderem in Form von summer schools statt. Dabei setzte INCAP zunächst auf die Weiterqualifizierung von Ärzten und bot einen Ausbildungsgang in Angewandter Ernährungswissenschaft für Mediziner an, der auf Spanisch und Englisch durchgeführt wurde. Dieses Programm hatte elf Jahre lang Bestand und bildete mehr als 192 Mediziner, mit Teilnehmenden nicht nur aus Zentral- oder Lateinamerika, sondern auch aus den USA, Europa, und Asien, aus.63 Die PAHO, FAO, UNICEF und staatliche U.S.-amerikanische Institutionen finanzierten die entsprechenden Stipendien.64 63 Carlos Tejada, Las actividades docentes del INCAP, in: Boletn de la Oficina Sanitaria Panamericana 78. 1975, S. 30 – 37, hier S. 30. 64 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de julio de 1962 – 30 de junio de 1963, XIV Reunin del Consejo, Guatemala 1963, S. 21. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Auch als Ausbildungsstätte für verschiedene UN-Organisationen wurde INCAP immer wichtiger. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nahmen 83 Personen an ein- oder zweijährigen Weiterbildungen, dem sogenannten Advanced Tutorial Program, teil, darunter zehn aus Asien und vier aus Afrika.65 Die überregionale Ausstrahlung war in Lateinamerika am stärksten, doch durch den Status einer UN-Ausbildungsstätte wuchs auch der Einfluss auf anderen Kontinenten. Diese Zusatzausbildungen für Universitätsabgänger oder langjährige Praktiker trugen aber nur bedingt dazu bei, die zentralamerikanischen Bedürfnisse nach nicht-medizinischen Ernährungsfachleuten für Bildung und öffentliche Gesundheit zu befriedigen. Der Mangel an solchen Fachkräften, den INCAP 1963 als Hindernis für den Erfolg der Ernährungspolitik darstellte, war in Lateinamerika kein Sonderfall. Die PAHO konstatierte 1966, dass es in ganz Lateinamerika an etwa 2.000 Ernährungsfachleuten für die Grundversorgung im Gesundheitswesen mangele.66 Noch 1970 schätzte INCAP den regionalen Bedarf auf dreihundert Fachleute.67 Diese Ausbildungsleistung musste im Wesentlichen selbst erbracht werden, da es in Lateinamerika nur wenige passende Ausbildungsprogramme gab. INCAPs Vorstellung war es, die medizinisch-biologische, auf das Individuum fokussierte Ausbildung der dietistas durch die Perspektiven der Angewandten Ernährungswissenschaft für Gemeinschaften (nutricin comunitaria) und die öffentliche Gesundheit zu erweitern.68 Im Jahre 1960 führte INCAP den ersten zweijährigen Studiengang für dietistas ein,69 doch mit 65 USAID, Final Report of the Institute of Nutrition of Central America and Panama (INCAP) 1984. FFF-2361, S. 1 – 8, http://pdf.usaid.gov/pdf_docs/pdaau176.pdf. 66 Übersetzung aus dem spanischen Original INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de julio de 1962 – 30 de junio de 1963, XIV Reunin del Consejo, Guatemala 1963, S. 20; Biblioteca Conmemorativa Orton IICA / CATIE [im folgenden IICA / CATIE], PAHO, Conferencia sobre adiestramiento de nutricionistas-dietistas de salud pfflblica. Caracas, Venezuela, 24 – 30 de julio de 1966 (= Publicacin Cientfica), Washington, D. C. 1967, S. 2. 67 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 diciembre de 1969. XXI Reunin del Consejo, Guatemala 1970, S. 15. 68 Ernährungswissenschaftlerinnen der Cornell University waren Anfang der 1960er Jahre in einer Beraterrolle am Studiengang beteiligt. Daphne A. Roe u. a., Charlotte Marie Young, Ithaca 1979, http://ecommons.library.cornell.edu/bitstream/1813/18896/2/ Young_Charlotte_Marie_1979.pdf; Bernice Hopkins, Latin America’s New School of Nutrition and Dietetics, in: Journal of the American Dietetic Association 40. 1962, S. 15 – 18. 69 Das argentinische Instituto de Nutricin war die erste lateinamerikanische Ausbildungsstätte für dietistas, wobei der Beruf anfänglich auf Ernährung von Krankenhauspatienten spezialisiert war. Laura B. Lpez u. Susana Poy, Historia de la Nutricin en la Argentina. Nacimiento, esplendor y ocaso del Instituto Nacional de la Nutricin, in: Diaeta 30. 2012, http://www.scielo.org.ar/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S1852– 73372012000300006#ref. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Kohorten von nur zwanzig Frauen aus ganz Lateinamerika konnte dem Fachkräftemangel nicht begegnet werden.70 Gleichzeitig fanden Verhandlungen mit der USAC in Guatemala über die Entwicklung von Ausbildungsangeboten statt, die 1966 in der Gründung der Escuela de Nutricin mündeten. Das vierjährige Studium war durch eine breite disziplinäre Verankerung gekennzeichnet: Nicht nur Biologie und Mathematik, sondern auch Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Englisch und Wirtschaft gehörten zu den Pflichtfächern. Obwohl mit dem zweiten Studienjahr ernährungswissenschaftliche Aspekte ins Zentrum rückten, integrierte die Ausbildung Themen wie Bevölkerungsentwicklung, audiovisuelle Kommunikation und Anthropologie. Das letzte Studienjahr war der praktischen Ausbildung gewidmet: Die angehenden nutricionistas nahmen an diversen Projekten in Schulen, Dorfgemeinschaften oder Gesundheitskliniken teil.71 Die Abschlussarbeiten dokumentierten oft angewandte Ernährungsprojekte in den Herkunftsländern der Absolventinnen, was dabei half, INCAPs Ansätze zu verbreiten.72 Jährlich nahmen zwölf bis fünfzehn Studierende teil, womit von 1966 bis 1980 insgesamt 161 Studierende das Programm absolvierten, die Mehrheit von ihnen aus Zentralamerika.73 INCAPs Ausbildungsprogramme waren ein wichtiger Impuls für die Professionalisierung der nutricionistas, aber gleichzeitig auch eine große Herausforderung: Es gab weder Lehrmittel, um Personal für tiefere Ränge im Bildungs- und Gesundheitsbereich auszubilden, noch Materialien, die auf ein zentralamerikanisches Publikum ausgerichtet waren. Jahrelang entwickelten die Lehrkräfte eigene Texte und Broschüren, bevor Susana Icaza und Moiss Bhar 1972 schließlich das Lehrmittel „Nutricin“ publizierten, welches für Jahrzehnte ein Standardwerk in ganz Lateinamerika blieb.74 Offensichtlich stuften die guatemaltekischen Behörden den Studiengang als geeignet ein, 70 Curso Especializado de Nutricin Aplicada para Dietistas de Amrica Latina, CENADAL. Von den 12 Teilnehmerinnen von 1963 stammten 3 aus Brasilien, 2 aus Argentinien, 2 aus Kolumbien, 2 aus Bolivien und jeweils eine aus Peru, Panama und Venezuela. 71 Die Begriffe dietista und nutricionista wurden eine gewisse Zeit parallel verwandt, wobei sich schließlich nutricionista (Ernährungswissenschaftlerin) durchsetzte, womit stärker Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens in den Vordergrund traten. PAHO, Conferencia sobre adiestramiento, S. 12 – 13. 72 Vgl. z. B. folgende Liste im Jahresbericht INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1979, Tegucigalpa, D.C. Honduras 1980, S. 190. 73 INCAP Bibliothek, INCAP Annual Report, Guatemala 1981, S. 6; INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 diciembre de 1966. XVIII Reunin del Consejo, Tegucigalpa 1967, S. 35; INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 diciembre de 1969, XXI Reunin del Consejo, Guatemala 1970, S. 20. 74 Moiss Bhar u. Susana J. Icaza, Nutricin, Mexico 1972. Das Buch erschien bis 1992 in diversen Neuauflagen. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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denn die staatliche USAC übernahm ihn im Jahre 1983 vollständig. Mit diesen licenciadas75 hatte das Ausbildungsprogramm also lokale Experten für den Ernährungssektor hervorgebracht, die ihre Karriere mehrheitlich in Zentralamerika verfolgten und sich in einem regionalen Berufsverband organisierten.76 Die nutricionistas bildeten ein wichtiges Scharnier im Wissenssystem für Ernährungsfragen, denn sie sollten die Ansätze und Forschungsergebnisse des Instituts in die Praxis überführen. Gleichzeitig trugen sie über die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeiten die Praxiserfahrungen zurück in den Wissensspeicher des Instituts. Allerdings hatten nicht alle Absolventen und Absolventinnen der Escuela de Nutricin Gelegenheit, ihre Kenntnisse in den Dienst der zentralamerikanischen Länder zu stellen. Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst wurden oft aufgrund politischer Kriterien oder persönlicher Beziehungen vergeben. Berichte aus Guatemala beklagten, dass nach dem Regierungswechsel 1966 die Ernährungsfachfrauen in den Ministerien entlassen wurden und konstatierten, dass es nur noch eine Spezialistin in den Institutionen der öffentlichen Gesundheit gäbe. Appelle an die Mitgliedsstaaten, die ausgebildeten Absolventinnen und Absolventen in die Gesundheitsministerien zu integrieren, fruchteten kaum.77 In Nicaragua zum Beispiel hatten von den 59 Angestellten der Ernährungsabteilung des Gesundheitsministeriums nur sieben eine Ausbildung als Ernährungswissenschaftler.78 Im Jahr 1975 arbeiteten nach fast zehn Jahren von 51 Absolventinnen und Absolventen nur zwanzig im Bereich der öffentlichen Gesundheit.79 Die Ausbildung von Fachleuten allein konnte der Ernährungspolitik in Zentralamerika kein größeres Gewicht verleihen. Alle diese Ausbildungsprogramme sollten dazu dienen, INCAPs integrative Ansätze in der Ernährungswissenschaft sowie in der Ernährungspolitik innerund außerhalb Zentralamerikas zu verbreiten. Dieses Ansinnen war je nach Berufsgruppe und Geschlecht unterschiedlich erfolgreich. INCAPs Konzeption der Ausbildung von Ernährungsfachleuten basierte auf einem Pyramiden75 Der Status einer licenciada genoss ein gewisses gesellschaftliches Ansehen. 76 IICA / CATIE, 643.1063 A837 1969, Asociacin de Nutricionistas y Dietistas de Centro Amrica y Panam (ANDECAP), 5. Congreso, Managua, 2 – 5 de julio. Informe final, Managua 1969, S. 25. 77 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 diciembre de 1971. XXII Reunin del Consejo, Guatemala 1972, S. 16 u. S. 22. 78 George Pyner u. a., Nutrition Sector Assessment for Nicaragua, Managua 1976, S. 53 – 55. 79 Positive Berichte über die Einbindung von nutricionistas kamen mehrheitlich aus Costa Rica. IICA / CATIE, 643.1063 A837 1969, Asociacin de Nutricionistas y Dietistas de Centro Amrica y Panam (ANDECAP), 5. Congreso, Managua, 2 – 5 de julio. Informe final, Managua 1969, S. 20 – 27; INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1974, S. 149. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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modell, dessen Basis die nutricionistas bildeten, die sich erst ein Arbeitsfeld schaffen mussten. In der nächsten Stufe folgte die Gruppe der spezialisierten Fachkräfte, die über eine akademische Ausbildung mit einer Zusatzqualifikation im Bereich der Ernährungswissenschaft verfügte und schließlich bildete INCAP auch leitendes Personal aus, das die Ernährungspolitik strukturieren und Entscheidungen fällen sollte. In den zwei letztgenannten Bereichen konnte INCAP den Anspruch erfüllen, international sehr gut vernetzte Fachleute auszubilden: In einer 1975 publizierten Bilanz zeigte INCAP, dass über 1.450 Personen an den verschiedenen Ausbildungsmodulen teilgenommen hatten. Die große Mehrheit, 896 Personen, stammte aus Zentralamerika. Neben 190 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den USA besuchten 304 Personen aus anderen lateinamerikanischen Staaten die Kurse, vereinzelt nahmen auch Personen aus Afrika, Europa und Asien teil. Die Weltkugel, die den Artikel illustriert, suggeriert eine Verbreitung über alle Kontinente und gibt Aufschluss über den Anspruch der Institution: Forschungsergebnisse und Philosophie des Instituts sollten die eigene Region verlassen – der Weg in die Praxis war allerdings ein steiniger.

Abbildung 3: Regionale Verteilung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der INCAPAusbildungsprogramme bis Ende 1973. Quelle: Carlos Tejada, Las actividades docentes del INCAP, in: Boletn de la Oficina Sanitaria Panamericana 78. 1975, H. 1, S. 31.

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V. Vom Labor in die Politik: INCAP, USAID und die multisektorale Planungspolitik Im Laufe der 1960er Jahre machten der anfängliche Optimismus und der Stolz auf gewisse Erfolge einer Frustration Platz. Die Ernährungssituation der breiten Masse hatte sich in Zentralamerika nur wenig geändert. Deswegen sollte INCAP sich in den 1970er Jahren vermehrt um die unmittelbaren Bedürfnisse der Mitgliedstaaten kümmern und entwarf Pläne, um die Angewandte Ernährungswissenschaft zu stärken. Damit leitete das Institut auch eine Phase des Wissenstransfers in neue, politische Handlungsräume ein: Das Wissen sollte in ein Planungswissen transformiert werden – ein Prozess, der neue Schwerpunktsetzungen am Institut erforderlich machte. Im Austauschprozess zwischen den internationalen Organisationen und den neu geschaffenen nationalen Planungsgremien nahm das INCAP eine wichtige Scharnierfunktion ein. Gleichzeitig organisierte es den interregionalen Austausch der Planungsgremien.80 Dieser Prozess entwickelte sich vor dem Hintergrund einer Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Guatemala. Seit 1954 waren Militärregierungen an der Macht gewesen, wobei sich die Militarisierung der Gesellschaft in den 1960er Jahren verstärkte. Im Zuge der U.S.-Militärhilfe, die sich zwischen 1956 und 1963 verzehnfachte, erhielten Militärs auch eine Ausbildung für zivile Aufgaben im Rahmen der Military Civic Action Programs. Vor allem in ländlichen Regionen mit einer starken Guerilla-Präsenz beteiligte sich das Militär an Infrastruktur- und Alphabetisierungsprojekten, die teils mit U.S.-amerikanischer Finanzierung durchgeführt wurden. Bei den Wahlen von 1966 kam mit Julio Csar Mndez Montenegro, dem ehemaligen Dekan der juristischen Fakultät an der USAC, erstmals wieder ein ziviler Präsident an die Macht. Zahlreiche Intellektuelle hegten bei seinem Amtsantritt die Hoffnung auf Wandel, die jedoch einer schnellen Desillusionierung wich, denn Mndez Montenegro musste dem Militär versichern, sich nicht in dessen Angelegenheiten und die Bekämpfung der Guerilla einzumischen. Schon im November 1966 verhängte er den Ausnahmezustand; die von den USA initiierten Aufstandsbekämpfungsprogramme wurden weiter vorangetrieben. Bald entstanden die ersten Todesschwadronen, die Studierende, Gewerkschafter und Oppositionelle ermordeten. Trotz kurzer Phasen der Mäßigung zu Beginn der 1970er Jahre nahm die Repression im Zuge der GuerillaBekämpfung kein Ende, nicht einmal, als U.S.-Präsident Jimmy Carter der guatemaltekischen Regierung 1977 die Militärhilfe strich.81

80 Für eine afrikanische Perspektive auf das erhoffte emanzipatorische Potenzial der Planungspolitik vgl. Andreas Eckert, „We Are All Planners Now.“ Planung und Dekolonisation in Afrika, in: GG 34. 2008, S. 375 – 397. 81 Jim Handy, Gift of the Devil. A History of Guatemala, Boston 1984, S. 155 – 175; Greg Grandin, The Last Colonial Massacre. Latin America in the Cold War. Chicago 2004, S. 97 – 99. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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In diesem schwierigen politischen Umfeld gab es einen erneuten Wechsel auf der Führungsebene des INCAP, da Moiss Bhar 1974 das Institut verließ, um die WHO-Ernährungsabteilung in Genf zu übernehmen. Der Direktorenposten blieb in guatemaltekischer Hand und ging an Carlos Tejada über, der sich mit den Ausbildungsprogrammen am INCAP verdient gemacht hatte. Ansonsten warb das Institut in den 1970er Jahren mit dem Belgier Ivan Beghin und dem Spanier Jos Aranda Pastor erstmals Europäer an, die bereits Arbeitserfahrung in den Amerikas vorzuweisen hatten. Diese dritte Führungsgeneration legte das Augenmerk auf die Angewandte Ernährungswissenschaft und beschäftigte sich intensiv mit der sozioökonomischen Komponente der Ernährungsprobleme. Diese wurde seit den Anfängen INCAPs immer wieder thematisiert; das Institut hatte jahrelang die Notwendigkeit von Reformen im Wirtschafts- und Agrarsektor sowie die Kooperation der entsprechenden Ministerien gefordert. Während der 1970er Jahre rekrutierte INCAP mehr Ökonomen, um sich selbst um diese Belange kümmern zu können. Forschungsaktivitäten und Publikationen des Instituts reflektieren die neuen Schwerpunkte: Studien korrelierten Unterernährung mit Landbesitz und argumentierten, die Wurzel der Probleme sei struktureller Natur, denn sie liege in der großen Armut und sozialen Ungerechtigkeit.82 Die Dependenztheorie war in Guatemala und vor allem an der USAC seit den 1960er Jahren im Aufwind und schlug sich auch in INCAP Publikationen wieder, die vehement gegen technokratische Ansätze in der Entwicklungspolitik argumentierten: There is no technocratic solution to malnutrition. Nutrition interventions cannot be effective and at the same time remain in pristine isolation, free from political considerations. Nutrition is not aseptic. This point needs to be emphasized; in fact, it is so important that it cannot be overstressed.83

Die Autoren bezogen sich auch auf die Diskussionen während der WHO Konferenz von 1977, auf der die Health for All by the Year 2000-Strategie beschlossen worden war. Danach sollten alle Menschen auf der Welt bis zum Jahr 2000 Zugang zu einem Gesundheitssystem haben, das ihnen ein wirtschaftlich und sozial produktives Leben ermögliche. Ihr Verständnis von Entwicklung integrierte das Wirtschaftswachstum, soziale Gerechtigkeit, Wohlergehen sowie eine ausgeglichene Verteilung von Gütern und Services. Schließlich sollte die Ernährungspolitik ein integrativer Teil der Entwicklungsplanung sein. Damit war INCAP auf einer Linie mit der 1970 von der UN formulierten Entwicklungsstrategie, die explizit global ausgerichtet eine Verschmelzung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte in den Entwicklungsplänen vorsah. 82 Vctor E. Valverde u. a., Relationship Between Family Land Availability and Nutritional Status, in: Ecology of Food and Nutrition 6. 1977, S. 1 – 7. 83 Ivan Beghin u. a., Malnutrition, National Development, and Planning, in: Bulletin of the Pan American Health Organization 13. 1979, S. 285 – 292, hier S. 286. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Seit den 1970er Jahren etablierte sich ein neues Paradigma in der globalen Ernährungspolitik, dessen schnellem Aufstieg ein rasantes Scheitern in den 1980er Jahren folgte: die multisektorale Planungspolitik. Deren Vertreter forderten eine Änderung der Schwerpunktsetzung: Unterernährung sei kein gesundheitliches Problem, sondern ein Entwicklungsproblem, weshalb die Planung ihren Fokus auf Armutsbekämpfung legen müsse. Ernährung sollte dabei einen zentralen Stellenwert in den nationalen Entwicklungsplänen einnehmen. Das Modell der multisektoralen Planungspolitik verbreitete sich zu Beginn der 1970er Jahre über verschiedene Konferenzen, Publikationen und Organisationen. Ende 1971 richtete das MITeine Konferenz aus, an der neben Alan Berg auch der ehemalige INCAP-Direktor Nevin Scrimshaw federführend beteiligt war.84 Über dreihundert Wissenschaftler sowie wichtige Vertreter der UN nahmen an der Konferenz teil.85 Für die Umsetzung in Lateinamerika gründeten PAHO, WHO und FAO 1971 das Inter-Agency Project for the Promotion of National Food and Nutrition Policies, das seinen Sitz in Santiago de Chile hatte. Das Projekt nahm mit den relevanten Institutionen in den einzelnen Nationalstaaten Kontakt auf, versuchte die Gründung einer nationalen Planungseinheit zu erwirken und leistete dabei technische sowie finanzielle Unterstützung. Häufig finanzierten auch die FAO und USAID weitere Projekte zur Umsetzung der Strategie.86 Die propagierte multisektorale Planungspolitik sah konkret fünf Schritte vor : Erstens müssten die Dimensionen von Hunger und Unterernährung genau untersucht und zweitens die Ursachen identifiziert werden. Der dritte Schritt bestand in der Festlegung der geplanten Maßnahmen, wobei viertens Vergleiche mit anderen Optionen angestellt werden sollten, um Kosten und Effizienz zu prüfen. Der fünfte Schritt sah eine abschließende Phase des Monitorings und der Evaluation vor.87 Besonders die ersten beiden Schritte hatten seit den 1950er Jahren zu INCAPs Agenda gehört, wobei die applied nutrition-Programme der 1960er Jahre eine weitere Vorstufe der Planungspolitik bildeten. Folgerichtig griff das Institut bereits früh den neuen Ansatz auf. Innerhalb des INCAPs lag die Umsetzung 84 Berg war von 1972 bis 1995 Senior Nutrition Officer bei der Weltbank. 1973 publizierte er das Buch „The Nutrition Factor. Its Role in National Development“, das den Ansatz der multisektoralen Planungspolitik stark verbreitete. 85 Alan Berg u. a. (Hg.), Nutrition, National Development and Planning. Proceedings of an International Conference Held at Cambridge, Massachusetts, October 19 – 21, 1971, Cambridge, MA 1973. 86 Escobar, Encountering Development, S. 120 – 121; Enzo Nussio u. Corinne A. Pernet., The Securitisation of Food Security in Colombia, 1970 – 2010, in: Journal of Latin American Studies 45. 2013, H.4., S. 641 – 668. 87 John Osgood Field, Multisectoral Nutrition Planning. A Post-Mortem, in: Food Policy 12. 1987, S. 15 – 28, hier S. 16. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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der multisektoralen Planungspolitik in der Hand der Division of Applied Nutrition, die seit 1971 von Ivan Beghin geleitet wurde. Kontakte zum InterAgency Project-Koordinierungsbüro in Chile baute INCAP erst ab 1972 auf.88 Auch wenn INCAP in den folgenden Jahren eng mit dem Büro kooperierte, stellte die Umsetzung der Planungspolitik durch eine regionale Instanz mit eigenem Personal doch eine Besonderheit dar. Bestand die Division of Applied Nutrition noch in den 1960er Jahren nur aus einer Person, wuchs sie durch die finanzielle Unterstützung der Kellogg Foundation bis 1975 auf acht Personen an.89 Die Stiftung finanzierte ebenfalls eine intensivere Betreuung der Mitgliedsstaaten: Allein im ersten Jahr reisten die Mitglieder der Abteilung 15 Mal in die Mitgliedsstaaten, um Kontakte aufzubauen und an der Umsetzung von Pilotplänen zu arbeiten. Insgesamt stieg die Anzahl der Reisen des INCAP-Personals in die Länder der Region von 71 im Jahr 1970 auf 189 im Jahr 1975 an und erreichte die Gesamtsumme von 944 Aufenthaltstagen.90 Einige Reisen dienten weiterhin der Teilnahme an Konferenzen oder Ausbildungsprogrammen, aber die Forschenden verließen zunehmend ihre Labore, um in die Politikberatung einzusteigen. Das Bestreben, immer mehr Forschende in die Ernährungsplanung einzubeziehen, stieß jedoch nicht bei allen Abteilungen auf Akzeptanz.91 Zu den Spannungen trug vermutlich bei, dass das USAID Regionalbüro ROCAP (Regional Office for Central America and Panama) bei den Versuchen, eine regionale Ernährungspolitik zu etablieren, federführend war.92 In der Praxis versuchte INCAP zunächst, in jedem Mitgliedsstaat den Aufbau einer eigenständigen Planungseinheit innerhalb der Ministerien zu erreichen. Oft deuten knapp gehaltene Zeilen in den Jahresberichten darauf hin, dass die Etablierung von Ernährungsplänen bei den betroffenen Ministerien nicht

88 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1972. XXIV Reunin del Consejo, Guatemala 1973, S. 1; INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1973. XXV Reunin del Consejo, Panam 1974, S. 6 – 7. 89 ROCAP, Project Evaluation Report 78 – 8: 596–0065, Regional Nutrition. PD-AAB-509A1, Guatemala 1978, S. 12 – 13. 90 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 diciembre de 1971. XXII Reunin del Consejo, Guatemala 1972; INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1973, Panam 1972, S. 2. 91 ROCAP, Project Evaluation Report, S. 58; Thomas John Bossert u. a., Sustainability of U.S. Government Supported Health Projects in Guatemala 1942 – 1987, Washington, D. C. 1988, S. 25. Bossert verfasste auch wissenschaftliche Artikel zur Gesundheits- und Entwicklungspolitik, siehe Thomas John Bossert, Can We Return to the Regime for Comparative Policy Analysis? Or, the State and Health Policy in Central America, in: Comparative Politics 15. 1983, S. 419 – 441. 92 Leider ist die Arbeit des USAID Regionalbüros bisher kaum erforscht worden. Die gesichteten Berichte verweisen auf zahlreiche interne Widersprüche, was die Unterstützung der Militärregime betrifft. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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beliebt war. Bereits 1974 konstatierte das Institut, die Pläne der einzelnen Staaten seien viel zu allgemein formuliert und es mangele an politischem Willen zur Veränderung, an Ressourcen sowie an ausgebildetem Personal. Die Mitgliedsstaaten befürworteten kurze, punktuelle Programme, ohne die zugrundeliegenden Probleme anzugehen.93 Im folgenden Jahr finanzierten USAID und die Kellogg Foundation ein Großprojekt zu Methoden der Planungspolitik.94 Das auf vier Jahre angelegte Projekt hatte ein Gesamtvolumen von über 2,8 Millionen U.S.-Dollar.95 Diese Unterstützung war brisant, da sich die politischen Verhältnisse in einigen zentralamerikanischen Ländern zuspitzten: Nach einem jahrelangen Bürgerkrieg siegte in Nicaragua 1979 die sandinistische Revolution, was den Befreiungsbewegungen in den Nachbarländern einen erheblichen Auftrieb verlieh. Die USA reagierten darauf mit einer Intensivierung der Nahrungsmittelhilfe in der Region, die einen materiellen Beitrag zur Stabilisierung der Militärregierungen leisten sollte.96 Ein Evaluationsbericht aus dem Jahr 1978 hob hervor, dass INCAP und USAID in der multisektoralen Planungspolitik die gleichen Ziele verfolgten und dass sich die Projekte optimal ergänzten. Besonders die Umsetzung der Planungspolitik in Honduras wurde als positives Beispiel hervorgehoben, da dort Mara Teresa Menchffl als INCAP-Vertreterin die neue Planungspolitik unterstützte. Schwieriger sei dagegen die Situation in El Salvador, wo 1978 die neue Planungsinstanz in direkter Konkurrenz mit einer bestehenden Institution stand, sodass eine Blockadesituation eintrat. Im Falle Guatemalas waren ebenfalls über sieben Jahre hinweg kaum Fortschritte zu verzeichnen, obwohl entsprechende Institutionen geschafften worden waren: In 1969, the President of Guatemala decreed that a Nutrition Policy Program be initiated. Nothing was ever done. In 1974, the Health Sector of the Ministry of Health was awarded a grant by AID to create […] a Nutrition Planning Program. With technical assistance from INCAP personnel, various seminars and workshops were held and documents prepared outlining an organization plan for a Food and Nutrition Program. Because of changes in key government personnel who would play a role in the formation of such a program, little happened until 1976.97

93 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1974, S. 41. 94 Vgl. INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1975, San Jos 1976, S. 3; Eckert, „We Are All Planners Now.“, S. 396 – 397. 95 ROCAP, Project Evaluation Report, S. 14 – 16. Ein anderes Dokument weist für die Jahre 1976 – 1981 eine USAID Finanzierung von 3,5 Mio. Dollar für die Förderung der regionalen Ernährungspolitik nach. Bossert u. a., Sustainability of U.S. Government Supported Health Projects, S. 154. 96 Rachel Garst u. a., Feeding the Crisis. U.S. Food Aid and Farm Policy in Central America, Lincoln 1990. 97 ROCAP, Project Evaluation Report, S. 87 f. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Die schwierigen Rahmenbedingungen erklären den Stillstand teilweise: Die Wahlen von 1970 markierten in Guatemala den erneuten Aufstieg des Militärs. Im November 1970 begann ein einjähriger Ausnahmezustand, der eine neue Welle des Terrors gegen die Opposition einleitete. 1976 erschütterte zudem noch ein Erdbeben das Land, das über 20.000 Tote forderte. Danach intensivierten sich Militärpräsenz und Repression besonders in den ländlichen Regionen Guatemalas erneut. Trotz dieser tiefgreifenden Krisen schweigen sich die meisten Berichte darüber aus, wie in einer derartigen Situation überhaupt eine multisektorale Planungspolitik implementiert werden könne. Evaluationsberichte diagnostizierten auch eine große Frustration unter den INCAP-Wissenschaftlern.98 Während die USAID-Evaluationen den politischen Kontext vollkommen ausblendeten, erlaubte sich INCAP allgemeine Kommentare. Der INCAPJahresbericht für 1979 hielt zum Beispiel fest, Guatemala habe seinen Ernährungsplan angenommen, während in Honduras eine Zustimmung kurz bevorstehe. Trotzdem sei das kein Signal zur Entwarnung, denn die Pläne bedürften einer langfristigen Betreuung, um die schleppende Umsetzung voranzutreiben.99 Ein Jahr später wies INCAP darauf hin, dass die Prognosen für die kommende Dekade unter einem großen Fragezeichen stünden: Das Klima sozialer Unruhe sowie die politischen Umbrüche, gemeint war die sandinistische Revolution in Nicaragua, würden Auswirkungen auf alle Staaten der Region haben.100 Immer wieder schwanken die INCAP-Publikationen zwischen zwei Tendenzen: Einerseits propagierten sie die multisektorale Planungspolitik, was auch einer Verpflichtung gegenüber den Geldgebern geschuldet sein mag. Andererseits fanden sich zwischen den Zeilen bereits früh immer wieder Zweifel und – je mehr Zeit verstrich – auch Resignation. Dies lässt sich exemplarisch an zwei Publikationen aus den Jahren 1979 und 1980 verdeutlichen. Mehrere Mitglieder der Division of Applied Nutrition bilanzierten 1979, dass das institutionelle Chaos die Umsetzung einer Ernährungspolitik schwäche: Teilweise wetteiferten mehrere Gremien mit derselben Funktion um finanzielle Ressourcen. Außerdem blieben oft gerade die Mitglieder mit einem großen Ernährungswissen ohne realen Einfluss. Schließlich widersprachen sich häufig die verschiedenen Gesetze und Dekrete innerhalb eines Landes, was zu weiterer Verwirrung führte. Die Autoren resümierten: Etwas Ähnliches passiert mit den Plänen und Programmen, bei denen es sich um sehr gemischte Instrumente handelt, die aus diversen Projekten bestehen. Diese Projekte werden von verschiedenen Organismen an verschiedenen Orten umgesetzt. Wenn alle diese Elemente nicht in konkrete Arbeitsprogramme mit einem Budget, Aktivitäten und Aufgaben 98 Ebd., S. 51. 99 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1979, S. 143. 100 Ebd., S. 147 f. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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umgesetzt werden, werden sie nicht zur Realität und die Ernährungssituation der Bevölkerung verschlechtert sich weiter, obwohl die Politik und Pläne in der Theorie perfekt scheinen.101

Ein Jahr später fand die erste internationale Konferenz zur Planungspolitik in Guatemala mit 69 Teilnehmern aus 18 Ländern statt.102 Die daraus hervorgegangene Publikation propagierte weiterhin die multisektorale Planungspolitik, vor allem mit Beiträgen wichtiger internationaler Vertreter wie des ehemaligen PAHO-Direktors Abraham Horwitz oder Toms Uribe, ehemaliger Direktor des Plan Nacional de Alimentacin y Nutricin de Colombia.103 Im Vorwort verwiesen Jos Aranda-Pastor und Lenn Senz jedoch darauf, dass die Erneuerung der institutionellen Rahmenbedingungen offenbar viel leichter falle als die Umsetzung konkreter Projekte.104 Das überaus komplexe institutionelle Geflecht, das sich die INCAP-Wissenschaftler ausmalten, erhöhte die Gefahr des Scheiterns, auch wenn die Autoren die Rückschläge auf einen Mangel an legaler und finanzieller Unterstützung zurückführten.105 Seit Ende der 1970er Jahre ging der finanzielle Anteil der PAHO am Institutshaushalt zurück, während die Unterstützung durch USAID immer mehr an Bedeutung gewann.106 Dies hatte Rückwirkungen auf die Forschungsagenda des Instituts, auf der sich immer mehr Themen fanden, denen USAID eine hohe Bedeutung beimaß, wie zum Beispiel Familienplanung und Nahrungsmittelhilfe. Trotzdem bewies INCAP eine gewisse Unabhängigkeit von der U.S.-amerikanischen Außenpolitik: INCAP führte nach der sandinis101 Übersetzung aus dem spanischen Original: Juan del Canto u. a., Planificacin de la alimentacin en Centroamrica y Panam. Experiencias, in: Lenn Senz u. Jos ArandaPastor (Hg.), Desarrollo del proceso de planificacin multisectorial de la alimentacin y nutricin en Centro Amrica y Panam. Memorias de un Seminario Subregional para Centro Amrica y Panam, celebrado en Tres Ros, Costa Rica, del 15 al 17 de noviembre 1978, Guatemala 1979, S. 5 – 31, hier S. 10 – 11. 102 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1980, Managua 1981, S. 138. 103 Jos Aranda-Pastor u. Lenn Senz (Hg.), El proceso de planificacin de la alimentacin y nutricin. Memorias de una Conferencia Internacional celebrada en Antigua, Guatemala del 15 al 18 de abril de 1980, Guatemala 1981. 104 Dies., El proceso de planificacin alimentaria-nutricional: un reto y una esperanza, in: dies., El proceso de planificacin, S. vii – xi. 105 Lenn Senz u. a., La Institucionalizacin del Proceso de Planificacin de la Alimentacin y Nutricin. La experiencia en el Istmo Centroamericano, in: Aranda-Pastor u. Senz, El proceso de planificacin, S. 45. 1982 fand die zweite überregionale Konferenz zur Ernährungsplanung in Panama statt, mit 109 Delegierten, darunter auch Vertreter aus Mexiko, Peru, Brasilien und den USA. Die Ergebnisse wurden jedoch nicht dokumentiert. Vgl. INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1982, Guatemala 1983, S. 33 f. 106 Bossert, Sustainability of U.S. Government Supported Health Projects, S. 152 – 160. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Abbildung 4: Schema zur multisektoralen Planungspolitik in El Salvador. Quelle: Jos Aranda-Pastor u. Lenn Senz, (Hg.), El proceso de planificacin de la alimentacin y nutricin. Memorias de una Conferencia Internacional celebrada en Antigua, Guatemala del 15 al 18 de abril de 1980, Guatemala 1981, S. 60.

tischen Revolution Projekte in Nicaragua durch und setzte diese auch nach dem Amtsantritt Ronald Reagans 1981 fort, was wahrscheinlich Konflikte mit USAID provozierte. Im Jahresbericht für 1981 äußerte sich das Institut positiv darüber, dass die sandinistische Regierung der Ernährung eine hohe Priorität gewähre.107

107 INCAP Bibliothek, Informe Anual 1 de enero – 31 de diciembre de 1981, Guatemala 1982, S. 33. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Insgesamt dauerte die Hochphase der multisektoralen Planungspolitik nur eine kurze Zeit. Eine vernichtende Bilanz in der Zeitschrift Food Policy proklamierte 1987, das Haupterbe des Ansatzes sei „eine Serie an Diagrammen und Ablaufplänen, die das Ernährungssystem abbildeten“.108 Der Autor John O. Field nannte drei Gründe für das Scheitern: Erstens seien die für die Planung notwendigen Informationen nicht einfach abrufbar gewesen. Zweitens habe ein starker Fokus auf der akademischen Forschung die praktische Umsetzung marginalisiert. Drittens basierte die Planungspolitik auf der Annahme, dass die Regierungen gewillt seien, die schlechte Ernährungslage zu verbessern, was in vielen betroffenen Staaten jedoch nicht der Fall sei. Auch wenn Field damals das Ende der multisektoralen Planungspolitik prophezeite, erlebte sie dennoch Mitte der 1990er Jahre ein Revival. Die Weiterführung erfolgte allerdings in modifizierter Form, wobei besonders vom Konzept der kleinen Planungszellen Abstand genommen wurde.109 Der Niedergang der multisektoralen Planungspolitik fiel im Falle INCAPs mit einer institutionellen Krise zusammen. Im Juni 1980 entführte eine bewaffnete Guerilla-Gruppe den Direktor Carlos Tejada sowie einen weiteren Mitarbeiter. Zwar wurden beide nach sieben Wochen Gefangenschaft freigelassen, doch Tejada kehrte nicht mehr ans Institut zurück. Andere wichtige Wissenschaftler wie Gustavo Arroyave und Raymond Martorell, die ihren Wohnsitz in die USA verlegten, verließen nach Drohungen das Land.110 In Guatemala spitzte sich die politische Lage mit dem Militärputsch von General Efran Ros Montt im Jahr 1982 noch weiter zu und die Repression nahm bisher ungeahnte Ausmaße an. Gleichzeitig begannen die Debatten über einen neuen Grundlagenvertrag für INCAP. Dieser sah vor, dass das Institut von einem Teil der PAHO zu einem rein zentralamerikanischen Institut werden würde, was einen einschneidenden Statusverlust bedeutete. INCAP versuchte in verschiedenen Rechtfertigungsdokumenten verzweifelt, jedoch ohne Erfolg, seine internationale Strahlkraft und die erbrachten Dienstleistungen für Organisationen und Länder außerhalb Zentralamerikas darzulegen. Mit dieser Deklassierung INCAPs ging der Verlust der privilegierten PAHO-Anstellungsbedingungen einher, was zu einer weiteren Abwanderungswelle von international vernetzten, hochkarätigen Wissenschaftlern führte. Manche wechselten an die Universitäten, insbesondere an die guatemaltekische Universidad del Valle, andere an privat 108 Übersetzung aus dem Englischen: John Osgood Field, Multisectoral Nutrition Planning, S. 14. Alan Berg verteidigte die Planungspolitik umgehend in einer Replik, siehe Alan Berg, Nutrition Planning is Alive and Well, Thank You, in: Food Policy 12. 1987, S. 365 – 375. 109 James Garrett u. a., Multisectoral Approaches to Nutrition. Rationale and Historical Perspectives, in: James Garrett u. Marcela Natalicchio (Hg.), Working Multisectorally in Nutrition. Principles, Practices, and Case Studies, Washington, D. C. 2001, S. 8 – 19. 110 Moiss Bhar, Reflections on the Legacy of INCAP, in: Food and Nutrition Bulletin 31. 2010, S. 173 – 175, hier S. 175. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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unterstützte Forschungsinstitutionen. INCAPs Ruf in der wissenschaftlichen Community verlor so in den 1980er Jahren einiges von seinem Glanz.111

VI. Fazit Trotz aller widrigen Umstände fungierte INCAP in Guatemala-Stadt über Jahrzehnte als wichtiges Koordinationszentrum für Ernährungspolitik. Dabei überlebte das Institut zunächst eine doppelte Konfliktlage: Erstens war INCAP dem starken Druck des Kalten Krieges ausgesetzt, der Guatemala seit den 1950er Jahre erschütterte und zur Etablierung einer Militärherrschaft führte. Zweitens geriet INCAP mit seinen Projekten für eine Ernährung auf Basis lokaler Ressourcen in derselben Phase in Konflikt mit den anderen Akteuren der globalen Entwicklungsmaschinerie, die ihren Einfluss in Zentralamerika behaupten wollten. Doch INCAP suchte auch die Diskussion und positionierte sich mit alternativen Entwicklungsvisionen. In manchen Fällen entstanden aus den anfänglichen Konflikten Kooperationen. Hilfreich war dabei der gute wissenschaftliche Ruf einiger INCAP-Forscher. Die führenden Wissenschaftler, mit denen INCAP gemeinhin identifiziert wird, absolvierten mehrheitlich einen Teil ihrer Ausbildung in den USA und bauten schnell Netzwerke in der internationalen Expertengemeinschaft auf. So vermieden sie die Marginalisierung, die lateinamerikanische Wissenschaftler der vorherigen Generation noch stark getroffen hatte. Durch Personenförderung, Forschungsverträge und Beraterstellen leisteten auch verschiedene internationale Organisationen einen Beitrag, um die INCAP-Forscher weiter in die Entwicklungscommunity zu tragen. Aus diesem Interaktionsprozess entstand ein „Kontakt-Wissen“, das in die Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitspolitik und die USAC einfloss, gleichzeitig aber durch die Anwendung in der Praxis weiterentwickelt wurde. Die Forschungsresultate der INCAP-Wissenschaftler zu den Ernährungsgewohnheiten, alternativen Ressourcen, an die Tropen angepassten Technologien sowie den Langzeitfolgen der Unterernährung wurden breit rezipiert und verschafften ihnen eine hohe Anerkennung unter internationalen Ernährungsexperten. Auch der interdisziplinäre Ansatz, der physiologische Analysen mit anthropologischem, soziologischem und schließlich volkswirtschaftlichem Wissen verband, wurde zunehmend akzeptiert. Die Bibliothek 111 Da nicht alle Mitgliedsstaaten der Veränderung zustimmten, war die Kompromisslösung, dass nur der Direktor und sein Stellvertreter weiterhin den Status als PAHOAngestellte genossen. Hilda Leticia Castro Arriola, Impact of Internal and Environmental Factors on an International Institute for Technical Cooperation on Food, Nutrition and Health, Diss. Cornell University 1999, S. 132 – 147. Zu Solomons Wechsel an ein pivates Forschungsinstitut siehe Jonathan Steffen, A Day in the Life of Dr. Noel W. Solomons, in: Sight and Life 26. 2012, S. 72 – 75. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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des INCAP archiviert diesen besonderen Wissensspeicher, der einen reichhaltigen Fundus für zukünftige wissensgeschichtliche und entwicklungspolitische Forschungen bietet. Der Wissenstransfer der zentralamerikanischen Expertise erfolgte über unterschiedliche Wege. INCAP selbst war ein Zentrum des inner-lateinamerikanischen Süd-Süd-Austausches und etablierte auch eigenständig regionale Gremien. In diesem Sinn profitierte INCAP lange Zeit von seinem Status als PAHO-Unterorganisation, den es bis 1980 innehatte. Der Wissenstransfer auf andere Kontinente erfolgte hingegen oft nicht direkt, sondern durch U.S.amerikanische Mittler und internationale Organisationen. Der Transfer in die regionale Politik erwies sich als schwieriger. INCAPForschungen wie die groß angelegte Studie von 1965 bis 1967 lieferten wichtige Ergebnisse, um die Ernährungssituation in der Region besser beurteilen und deren Bezug zu gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Problemen klarstellen zu können. Empfehlungen für eine angemessene Ernährung und deren Kosten sollten lokalen Politikern den großen Handlungsbedarf klar machen. Das Ziel, Absolventinnen und Absolventen der Escuela de Nutricin direkt in den Ministerien unterzubringen, um auf deren Arbeit Einfluss zu nehmen, konnte jedoch nur begrenzt umgesetzt werden. Die Präsenz der Experten allein reichte nicht aus, um Ernährung zu einem wichtigen Politikfeld zu machen. Die Situation verschärfte sich in den 1970er Jahren, als das Institut einen Schwenk zur multisektoralen Planungspolitik und damit zur direkten Intervention in die lokalen politischen Verhältnisse machte. Dabei erhielt die Argumentation für eine unabhängige Entwicklung neue Nahrung durch die Dependenztheorie, deren Spuren in den Publikationen einiger Wissenschaftler deutlich nachweisbar sind. Von deren radikaleren Vertretern an der USAC geriet das Institut aber auch in die Kritik, die vermutlich mit dem wachsenden Einfluss U.S.-amerikanischer Stiftungen am INCAP zusammenhing. Die politischen Eliten reagierten mit Unwillen auf eine reformorientierte Ernährungspolitik und beschränkten sich bei der Umsetzung meist auf neue institutionelle Arrangements. Je instabiler die politische Lage in der Region war, desto geringer wurden die Handlungsspielräume für eine Ernährungspolitik, die auch die sozialen Ursachen der Unterernährung einbezog. Die 1980er Jahre waren in weiten Teilen der Region durch Gewalt und Bürgerkrieg gekennzeichnet. Die schwierige Zeit fiel im INCAP mit einer strukturellen Krise zusammen, in der das Institut viele Ressourcen verlor: einerseits führende Wissenschaftler, andererseits Beiträge von internationalen Geldgebern. Auch wenn eine Evaluation von INCAPs langfristigem Einfluss nicht das Ziel dieses Aufsatzes sein kann, möchten wir als Inspiration für die weitergehende Forschung eine abschließende Anekdote präsentieren: Zehn Jahre nach Ende des guatemaltekischen Bürgerkrieges, der bis 1996 gedauert hatte, begannen die guatemaltekischen Regierungen, sich vermehrt um die ErnährungssicherGeschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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heit zu kümmern. Nach vorbereitenden Maßnahmen der Mitte-Links-Regierung von lvaro Colom kündigte der ehemalige Präsident Otto Prez Molina, ein Ex-General, der verschiedener Vergehen gegen die Menschenrechte und der Korruption angeklagt ist und deshalb im September 2015 zurücktreten musste, einen nationalen Pakt gegen den Hunger an, der von Brasiliens Hambre Zero inspiriert war.112 Verantwortlich für die Umsetzung des „Null Hunger“-Programms war Luz Lainfiesta Soto, Guatemalas Ministerin für soziale Entwicklung von 2012 bis 2013. Lainfiesta hatte 1981 den INCAP / USAC Studiengang als nutricionista abgeschlossen. Vielleicht ist es also kein Zufall, dass durch das Programm Bolsa Segura, eine Lebensmittelausgabe für mittellose Familien, nicht Cornflakes und Milchpulver, sondern Bohnen, Maismehl sowie auch Incaparina ausgegeben werden. Trotzdem ist Guatemala das Land mit dem höchsten Anteil an chronischer Unterernährung in Lateinamerika geblieben.113 Dr. Christiane Berth, Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstrasse 49, 3000 Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Corinne A. Pernet, Universität Basel, Europainstitut Basel, Gellertstrasse 27, Postfach, 4020 Basel, Schweiz E-Mail: [email protected]

112 Der Begriff „Hambre Zero“ (auf Deutsch „Null Hunger“) geht auf ein brasilianisches Regierungsprogramm zur Bekämpfung von Hunger und Armut unter Präsident Luiz Lula da Silva im Jahr 2003 zurück. In den folgenden Jahren lancierten mehrere lateinamerikanische Staaten ähnliche Programme. 2012 begannen auch die UN ihre „Zero Hunger Challenge“-Kampagne. 113 Agregan nuevos productos a la bolsa, in: Siglo 21, 25. 03. 2013. Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 613 – 648  Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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