Impfen Pfropfen Transplantieren

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Descripción

Impfen, Pfropfen, Transplantieren

In Gedenken an Cornelia Vismann (1961−2010)

Impfen, Pfropfen, Transplantieren herausgegeben von Uwe Wirth Band 2 der Reihe Wege der Kulturforschung herausgegeben von Uwe Wirth und Veronika Sellier im Auftrag des Migros-Kulturprozent

Mit Beiträgen von Emmanuel Alloa, Michael Bies, Davide Giuriato, Irmela Krüger-Fürhoff, Bettine Menke, Hans-Jörg Rheinberger, Sylvia Sasse, Falko Schmieder, Eckhard Schumacher, Cornelia Vismann (†), Juliane Vogel, Heide Volkening, Uwe Wirth und Cornelia Zumbusch

Kulturverlag Kadmos Berlin

Logiken und Praktiken der Kulturforschung Band 2 der Reihe Wege der Kulturforschung herausgegeben von Uwe Wirth und Veronika Sellier im Auftrag des Migros-Kulturprozent Diese Publikation enstand im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wege der Kulturforschung des L’arc Romainmôtier, eine Institution des Migros-Kulturprozent.

Das Migros-Kulturprozent ist ein freiwilliges, in den Statuten verankertes Engagement der Migros für Kultur, Gesellschaft, Bildung, Freizeit und Wirtschaft www.kulturprozent.ch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­­­ wertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2011, Kulturverlag Kadmos Berlin. Wolfram Burckhardt Alle Rechte vorbehalten Internet: www.kv-kadmos.com Umschlaggestaltung: kaleidogramm, Berlin. Emblem: »Les deux sont un«. Aus: Emblemata Amatoria (1608). Emblem Project Utrecht Gestaltung und Satz: kaleidogramm, Berlin Druck: Alfa Print Printed in EU ISBN (10-stellig) 3-86599-105-X ISBN (13-stellig) 978-3-86599-105-8

Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uwe Wirth Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0) . . . . . . . . . . . .

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Falko Schmieder Vom Lobpreis der Veredelung zum Prospekt der Vernichtung. Aspekte einer Problemgeschichte der Pfropfmetapher . . . . . . . . . . . 29 Cornelia Vismann Genealogische Ordnung und ungeschlechtliche Vermehrungsweise . 51 Hans-Jörg Rheinberger Pfropfen in Experimentalsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Emmanuel Alloa Fremdkörper. Fragmente einer Theorie des Eindringlings . . . . . . . . 75 Cornelia Zumbusch Innovation oder Kontamination? Kreuzungen der Impfmetapher zwischen Kant und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Michael Bies Geburten aus dem Geist der Pfropfung? Zu Kant und Goethe . . . . 101 Davide Giuriato ›Blendlinge‹. Zur Theorie der Übersetzung bei Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Sylvia Sasse Wörter und Äpfel. Prozesse der Hybridisierung bei Michail M. Bachtin und Ivan Vl. Mičurin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Juliane Vogel Anti-Greffologie. Schneiden und Kleben in der Avantgarde . . . . . . . 159

Bettine Menke Stimmen/Gemurmel: Aufpfropfungen, Exzitationen, Szenen in Marthalers Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Irmela Marei Krüger-Fürhoff »Eine Letter aus einer anderen Schriftart«. Zur Poetik zeitgenössischer Transplantationsfiktionen am Beispiel von Ulrike Draesners Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)« und Sabine Grubers Roman Über Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Eckhard Schumacher »Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs . . . . . . 213 Heide Volkening Mode als Aufpfropfung. Über Rouge, crossdressing, Monogrammstoffe und deren Fälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Dank Die vorliegende Publikation entstand im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wege der Kulturforschung, die 2007 im L’arc  –  Littérature et atelier de réflexion contemporaine – in Romainmôtier stattgefunden hat. Das L’arc ist eine Institution des Migros-Kulturprozent. Für die großzügige Unterstützung der Tagung und des Drucks sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0) Uwe Wirth

Der zweite Band der Reihe Wege der Kulturforschung, der den Titel Impfen, Pfropfen, Transplantieren trägt, widmet sich der Frage nach dem Wechselverhältnis von Kulturtechniken und Kulturmodellen – am Beispiel einer Kulturtechnik, die, so die These, zentrale Bedeutung für das Verständnis von Kultur als Kulturprozess hat: die Kulturtechnik des Pfropfens. Was ist damit gemeint? »Die Griechen nennens emphuteuein, die Lateiner inserore [sic!], die Deutschen Impffen oder pfropffen«, schreibt Johannes Coleri im Abschnitt »Pfropfen« seines 1620 erschienenen Hausbuchs Oeconomiae, und ist nie anders denn eine versetzung der gebrochenen Pfropfreiser  /  und eine Fügung in die Stemme / das sie darinnen […] einwachsen sollen / und dem Stamme eine zame und gute Art der Früchte bringen.1

Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike im Obst-, Oliven‑ und Weinanbau Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. Bemerkenswerterweise vollzieht sich dieses Konservieren durch Kopieren, aber nicht im Sinne einer statischen Bewahrung des Vorhandenen und insofern Gesetzten, sondern im Sinne einer dynamischen Bereitstellung dessen, was sich auch in Zukunft transplantieren, das heißt ›versetzen‹ lässt. Die Pfropfung nimmt dabei noch in anderer Weise eine Versetzung vor: Sie versetzt  –  Heidegger lässt grüßen!  –  die Natur in einen Bereitstellungsmodus: Sie erweist sich damit als Technik und als Kulturtechnik zugleich. 1



Coleri: Oeconomiae oder Hausbuchs erster Theil, S. 148.

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Diese, mit der Agrikulturtechnik der Aufpfropfung implizierte, Dynamik ist der Bezugspunkt zu einer anderen grundlegenden Kulturtechnik: der Kulturtechnik des Schreibens. »Schreiben heißt aufpfropfen (greffer). Es ist dasselbe Wort«2, behauptet Jacques Derrida in Dissemination und leitet daraus die Aufgabe ab, die etymologische Einheit der Pfropfung und des Graphen (des graphion, wie Derrida in Klammern präzisierend hinzufügt, also des Schreibstichels) systematisch zu erforschen, aber auch die »Analogie zwischen den Formen textueller Pfropfung und den sogenannten pflanzlichen oder, mehr und mehr, tierischen Pfropfungen«.3 Eben dieses Projekt soll durch den vorliegenden Band vorangetrieben und im Sinne einer Allgemeinen Greffologie erweitert werden: Ausgehend von einer systematischen Erforschung der Analogien zwischen pflanzlichen, tierischen und textuellen Pfropfungen geht es darum, die Übergänge zwischen der Aufpfropfung als Kulturtechnik und der Aufpfropfung als Kulturmodell zu erkunden. Der Begriff des Kulturmodells ist hierbei so zu verstehen, dass die Pfropfung als metaphorologisch wirkungsmächtige Wissensfigur in den Blick genommen wird  –  eine Wissensfigur, die für grundlegende Reproduktions‑ und Transformationsformen innerhalb einer Kultur, aber auch zwischen verschiedenen Kulturen steht, etwa als Figur des Übergangs zwischen epistemischen Kulturen des Wissens, medialen Kulturen des Darstellens, poetischen respektive technischen Kulturen des Herstellens und ideologischen respektive religiösen Kulturen der Weltanschauung. Im Folgenden möchte ich daher der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab?4 Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen?

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Derrida: »Dissemination«, S. 402. Im Original heißt es: »Écrire veut dire greffer. C’est le même mot« (Derrida: »La dissémination«, S. 395). Derrida: »Die zweifache Séance«, S. 226. »Unter anderem«, so Derrida, »könnte uns das helfen, zum Beispiel das Funktionieren einer Anmerkung am Rande der Seite sowie das eines Exergon zu verstehen, und inwiefern sie für den, der zu lesen weiß, mitunter wichtiger sind als der sogenannte Grund‑ oder Haupttext« (ebd.). Vgl. hierzu: Bhabha: The Location of Culture; Young: Colonial desire; Bronfen/Marius/ Steffen: Hybride Kulturen; Schneider: »Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹«; Canclini: Hybrid Cultures.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei? »Der Holzbirnbaum«, schreibt Georg Simmel in seinem Essay »Vom Wesen der Kultur«, »trägt holzige und saure Früchte. Damit ist die Entwicklung, zu der ihn sein wildes Wachstum bringen kann, an ihr Ende gelangt«.5 An eben diesem Punkt, so fährt Simmel fort, »hat der menschliche Wille und Intellekt eingegriffen und den Baum durch allerhand Beeinflussungen zur Produktion der Eßbirne geführt, d. h. ›kultiviert‹«.6 Damit wird unser Blick auf all jene Prozesse der Kultivierung ausgerichtet, die die wilden Ursprünge der ›Holzbirne‹ von den süßen Veredelungsformen der, sagen wir, ›Guten Louise‹7 trennen. Die durch »allerhand Beeinflussung« bewirkte Kultivierung zur Eßbirne kommt, daran lässt ein Blick auf die Kulturgeschichte der Obstgärtnerei keine Zweifel, entweder durch kontrollierte Kreuzung oder durch Aufpfropfung zustande.8 Der Grundgedanke der kontrollierten Kreuzung ist die von Menschen geplante Auslese im Rahmen von Hybridisierungsprozessen, um die Genkombination zu verändern. Wie bei jeder anderen sexuellen Fortpflanzung auch, heißt die Formel der Züchtung: Aus zwei mach drei. Allerdings sind die zwei nicht von derselben Art. So ist etwa der Maulesel eine Hybridmischung – eine Kreuzung aus Pferd und Esel. Anders als bei der Hybridisierung kommt es bei der Aufpfropfung nicht zu einer Vermischung der Gene. Vielmehr werden zwei unabhängige Organismen im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verbunden, um sie zu einer funktionalen Einheit zu machen. Insofern folgt die Logik der Pfropfung der Prämisse: Aus zwei mach eins. Ein Blick auf die technische Seite der Aufpfropfung verdeutlicht, was diese Formel bedeutet: Die Pointe der Pfropfung besteht darin, dass man, wie es in Oliver Allens Handbuch der Gartenkunde heißt, 7 5 6



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Simmel: »Vom Wesen der Kultur«, S. 364. Ebd. Mittelgrosse Herbstbirne, saftreich, süss-säuerlich, schmelzend, gelbgrüne, sonnenseits braunrote Frucht. Mittelstark wachsend, anspruchslos: http://pflanzenboerse-online.de  /  birnen.htm (30.7.2010). Umgekehrt bemerkt Theophrast in seiner Naturgeschichte der Gewächse, man könne beobachten, dass sich die Eigenschaften von Pflanzen, die man ihrem natürlichen Wachstum überlässt, verschlechtern: »Aus den Kernen der edlen Birne erwächst die schlechte Holzbirne«. Darum, so Theophrast, »räth man, sie zu pfropfen«, denn nur was »durch Theilung der Mutterpflanze durch Impfen und Pfropfen sich vermehrt, giebt die gleichen Früchte«. Theophrast’s Naturgeschichte der Gewächse, S. 54 und S. 64.

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Uwe Wirth Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt.9

Die Verbindung zwischen den beiden Teilen wird durch die Wundheilungskräfte des verletzten Kambiums hergestellt, also jener Schicht direkt unter der Rinde, die den eigentlich lebendigen Teil eines Baumes ausmacht. Das heißt, das verletzte Kambium der Unterlage muss mit dem verletzten Kambium des Pfropfreises unmittelbar in Berührung kommen. Die Voraussetzung hierfür ist der Einsatz spezieller Werkzeuge, etwa des sogenannten Kopuliermessers, mit dem sowohl in die Unterlage als auch in den Reis passgenaue Kerben geschnitten werden. Dabei bringt die Kultivierungstechnik der Aufpfropfung einen Begriff der Schnittstelle ins Spiel, der ein weites Feld kulturwissenschaftlicher und medientechnischer Implikationen eröffnet.10 Die Schnittstelle steht, um es sehr allgemein zu formulieren, für die Notwendigkeit, ein ›Dazwischen‹ zu organisieren,11 und das heißt vor allem: Übergänge herzustellen, um die Zirkulation von Säften und Kräften zu ermöglichen. Hier kommt neben dem Kultivieren und dem Konservieren noch ein dritter wesentlicher Aspekt der Pfropfung ins Spiel: das Konfigurieren. Die Frage ist nun, wie diese Organisation des Dazwischen, dieses Herstellen von Übergängen, dieses Konfigurieren und Re-Konfigurieren sowohl in einem technischen (sprich kulturtechnischen) Sinne als auch im Rahmen der verschiedenen Diskurse, in denen die Aufpfropfung als Metapher (sprich als Kulturmodell) vorkommt, beschrieben wird. Betrachtet man die Pfropfung aus einer kulturtechnischen Perspektive, dann steht offenbar die Steigerung der Fruchtbarkeit im Zentrum des Interesses. So lesen wir in Zedlers Universallexicon: Allen: Pfropfen und Beschneiden, S. 62. Vgl. hierzu Wirth: »Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur‑ und Mediengeschichte«, S. 111−121. 11 Vgl. Debray: »Für eine Mediologie«, S. 67. 9



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Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Baum pfropffen wird sonst auch impffen, pelzen, und zwegen genennet, und heißet bey dem Garten-Bau diejenige Arbeit, dadurch ein wilder und unfruchtbarer Stamm vermittelst eines darauf gesetzten, von einem fruchtbaren Baum gebrochenen Zweiges oder so genannten Pfropf-Reises verbessert wird. Es ist dieses eine herrliche Erfindung, dadurch wilde Bäume zahm, unfruchtbare fruchtbar, und wohltragend gemacht, alte Bäume durch Aufsetzung frischer Reiser gleichsam verjünget, die Spat-Früchte in Früh-Früchte, ja sogar die Farbe und der Geschmack an denenselben verwandelt und verändert werden.12

Die Steigerung der Fruchtbarkeit ist indes nur der sichtbare Aspekt eines Kultivierungsprozesses, in dessen Verlauf etwas natürlich Gewachsenes in etwas kulturell Gemachtes transformiert wird. Dies wird besonders deutlich in der Encyclopédie Diderots und D’Alemberts, in der die Aufpfropfung als Kulturtechnik geschildert wird, die für einen aufgeklärten, ja fast herrischen Umgang mit der Natur steht. So heißt es in der Encyclopédie unter dem Lemma »Greffe«, die Aufpfropfung sei der »Triumph der Kunst über die Natur«, denn man könne mit diesem Verfahren die Natur zwingen, eine neue Pflanzenart herzustellen.13 Gemäß dieser (botanisch nicht korrekten) Auffassung ändert die Pfropfung die Formen einer Pflanzenart und fügt ihr »das Gute, das Schöne und das Große hinzu«.14 Insofern stellt die Pfropfung nicht nur einen Übergang zwischen Natur und Kultur her, sondern sorgt sogar für eine Neu-Konfiguration: Sie übersetzt ›Naturdinge‹ in ›Kulturdinge‹ bzw. versetzt den Naturzustand in den Kulturzustand. Die Praktiken des Pfropfens bewegen sich offenbar in einer zwielichtigen epistemischen Zone, in der es zu Übergängen, aber auch zu Interferenzen zwischen den ›natürlichen‹ Gesetzmäßigkeiten von Organismen einerseits und den Eingriffen des menschlichen Intellekts andererseits kommt: So weist Oscar Hertwig in seiner Allgemeinen Biologie darauf hin, das Gelingen der Aufpfropfung hänge in erster Linie von der »vegetativen Affinität« der Pflanzenteile ab, also vom Verwandtschaftsgrad der Gewebezellen. Hertwig zufolge kann man in das Wesen der vegetativen Affinität tiefer eindringen durch Herstellen von Verbindungen zweier vegetativer Körper derselben Art oder verschiedener Arten durch das Experiment des Pfropfens, Okulierens, Transplantierens usw.15

Der letzte Satz macht deutlich, dass es sich bei der Aufpfropfung offensichtlich um eine Praktik handelt, die im Rahmen eines »Experimentalsystems« stattfindet,16 wobei die Experimentalidee, also die Idee, welche Pflanzen 14 15 12 13

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Zedler: Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, S. 762. D’Alembert  /  Diderot (Hg.): Encyclopédie, Stichwort »Greffe (Jar.)«. Ebd. Hertwig: Allgemeine Biologie, S. 505. Vgl. Rheinberger: Experiment Differenz Schrift, S. 16.

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teile miteinander verbunden werden sollen, konzeptionell konfiguriert ist. Konzeptionell konfiguriert bedeutet hier sowohl die Vorprägung durch eine gärtnerische oder wissenschaftliche Praxis, als auch die Vorprägung durch weltanschauliche, mythische oder phantastische Ideen. Dabei treten zwischen realen Pfropf-Experimenten und virtuellen Pfropf-Phantasien Differenzen auf. So begegnen wir in Vergils Lied vom Landbau einer Pfropf-Phantasie, die, obwohl die Antike mit der Praxis des Pfropfens wohl vertraut war, einem unrealistischen, virtuellen Konzept des anything goes zu folgen scheint: Oftmals auch sehen wir Zweige auf fremden Bäumen gedeihen, ohne Beeinträchtigung; so trägt ein verwilderter Birnbaum Äpfel, die aufgepfropft wurden; rot leuchten auf Steinkirschen Pflaumen. Aufgepfropft wird rauhrindigen Erdbeerbäumen die Walnuß; wilden Platanen der Apfel, der dort sich ganz prächtig entwickelt; Buchen schimmern hell von Kastanienblüten, auf Eschen blüht es von Birnen, am Ulmenstamm mampfen die Wildschweine Eicheln.17

Diesem mythisch-phantastischen Aufpfropfungskonzept entgegengesetzt ist zum einen die gärtnerischer Auseinandersetzung mit der Pfropfung als einer experimentellen Kulturtechnik, die den Charakter einer biologischen bricolage hat, zum anderen die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Aufpfropfung als einem Experimentalsystem, dessen Ergebnisse Rückschlüsse auf biologische Funktionsweisen erlauben: sowohl mit Blick auf das Wachstum der Pflanzen als auch mit Blick auf die Entstehung der Arten. So legt Darwin in seinem Buch Über die Entstehung der Arten die Grundlagen für Hertwigs These von der »vegetativen Affinität«, wenn er schreibt: Wie bei der Bastardbildung so ist auch beim Propfen die Fähigkeit durch die systematische Verwandtschaft beschränkt; denn es ist noch Niemand gelungen, Baumarten aus ganz verschiedenen Familien aufeinander zu propfen, während dagegen nahe verwandte Arten einer Gattung und Varietäten einer Art gewöhnlich, aber nicht immer, leicht aufeinander gepropft werden können. Doch wird auch dieses Vermögen ebensowenig wie das der Bastardbildung durch systematische Verwandtschaft in absoluter Weise beherrscht. […] Der Birnbaum kann viel leichter auf den Quittenbaum, den man zu einem eigenen Genus erhoben hat, als auf den Apfelbaum gepropft werden, der mit ihm zur nämlichen Gattung gehört. Selbst verschiedene Varietäten der Birne schlagen nicht mit gleicher Leichtigkeit auf dem Quittenbaum an […].18

17 18

Vergil: Lied vom Landbau, S. 79. Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein, S. 333.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Die Tendenz dieser Argumentation ist klar: die Frage der Fruchtbarkeit hängt – ebenso wie die Frage, ob eine Pfropfung gelingt oder nicht – vom Grad der Artverwandtschaft ab, aber auch von der Art und Weise, wie man bestimmt, was noch zu einer Gattung und was schon zu einer anderen Gattung gehört. In dieser Hinsicht interagiert die natürliche Evolution der Arten mit der künstlichen Definition der Artgrenzen. Hier spielt noch ein weiterer Punkt hinein, der bereits in den Artikeln im Zedler und in der Encyclopédie anklang: Die Frage, ob das Hinzufügen respektive Einfügen eines ›artfremden‹ Pflanzenteils gelingt, wird im Rahmen eines ökonomischen Dispositivs gestellt. Der Aufpfropfung liegt erstens die Zielvorgabe einer qualitativen und quantitativen Steigerung der Erträge zugrunde. Unfruchtbare Pflanzen sollen fruchtbar gemacht, saure Früchte zu süßen Früchten veredelt werden. Zweitens geht es bei der Aufpfropfung darum, Zeit zu sparen, nämlich die Zeit, die eine ausgesäte Pflanze brauchen würde, um tragfähige Wurzeln zu bilden. Die Aufpfropfung bewirkt also eine Beschleunigung. Drittens steht die Aufpfropfung im Zeichen der Kontrolle. So lässt sich der künstliche, nicht-sexuelle Reproduktionsprozess besser steuern als die natürliche, sexuelle Fortpflanzung. In allen drei Hinsichten erweist sich die Aufpfropfung als dispositives Verfahren der Steigerung und der Steuerung. Mehr noch: Mit der Ausführung dieses dispositiven Verfahrens, wird nicht nur der Raum zwischen Natur und Kultur konfiguriert, sondern zugleich auch die Grenze zwischen Naturzustand und Kulturzustand markiert. Um diese Grenze geht es Simmel in seinem Birnen-Beispiel: Dort, wo das wilde Wachstum an sein Ende gelangt, setzen die Praktiken der Kultivierung ein. Praktiken, die darauf abzielen, die Kräfte der Natur, die »vorgefundenen Energien«, wie es bei Simmel heißt, zu einer »ihren bisherigen Entwicklungsmöglichkeiten prinzipiell versagten Höhe« zu führen.19 Dergestalt thematisiert die Pfropfung als Kulturtechnik nicht nur in einem ganz praktischen Sinne die Schnittstellen zwischen Natur und Kultur, sondern sie initialisiert darüber hinaus auf einer konzeptionellen Ebene, nämlich als Kulturmodell, ein Grenzbewusstsein: Derjenige, der Pflanzen veredelt, wird sich der Differenz zwischen Natur‑ und Kulturzustand bewusst, ja, bereits die Idee, Pflanzen veredeln zu wollen, impliziert ein Konzept, dass es eine ›natürliche Grenze‹ des wilden Wachstums gibt, die durch zielgerichtete Interventionen verschoben werden kann. So besehen 19

Simmel: »Vom Wesen der Kultur«, S. 365.

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führt bereits die Vorstellung von einer Kulturtechnik wie der Aufpfropfung zu einer Steigerung von Energien, nämlich zu einer Steigerung der geistigen Energien desjenigen, der seine technische Phantasie mobilisiert, um sich zu überlegen, wie er erfolgreich Agrikultur betreibt. Es gibt, mit anderen Worten, offensichtlich so etwas wie eine greffe conceptionelle. Hier müssen wir noch einen Schritt weitergehen: Kulturtechniken wie die Aufpfropfung erfordern Kulturtechniken der Überlieferung. Es ist nicht damit getan, eine botanische Technik zu etablieren, um erfolgreich den physischen Übergang zwischen verschiedenen Pflanzenteilen durch eine Verbindung (im wörtlichen Sinne) zu organisieren. Man muss auch eine mediale Technik etablieren, um den kommunikativen Übergang zwischen verschiedenen zeitlichen und räumlichen Kontexten zu ermöglichen. So schreibt Hartmut Böhme in seinen Überlegungen »Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs«: Colere meint nicht nur, dass man eine Technik hat, etwa die des Pfropfens, sondern über eine Technologie verfügt, d. i. das Wissen über die Regeln des Baumpfropfens.20

Mit anderen Worten: Das experimentell erworbene Wissen, wie man Natur kultiviert, schafft das Bedürfnis, auch dieses erworbene Wissen zu kultivieren, damit es konserviert wird und für nachfolgende Generationen verfügbar bleibt. Dies kann entweder in Form einer mündlichen Tradition (begleitet von Praktiken der Einübung) geschehen, oder aber mit Hilfe von Schriftkonserven, etwa Gartenhandbüchern. Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt angekommen, nämlich an dem Punkt, wo sich die Frage stellt, ob die evidente These, dass die Aufpfropfung eine Kulturtechnik ist, zu der These erweitert werden kann, Kultur lasse sich als Pfropfung verstehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Aspekte hinweisen, die vielleicht dazu beitragen, die kühne These Kultur als Pfropfung zu plausibilisieren. Der erste Aspekt schließt an Simmels Argumentation in »Vom Wesen der Natur« an, der offensichtlich einen recht emphatischen Begriff von Kultivierung hat, denn er grenzt die Arbeit des Gärtners, der den Birnbaum kultiviert, von der Arbeit eines Schiffbauers ab, der einen Baumstamm absägt und ihn zu einem Mast verarbeitet. Der Gärtner bringt den Birnbaum zu der »vollkommensten Entfaltung seiner eigenen Natur«, indem er die »in der organischen Anlage seiner Naturform schlummernden Möglichkeiten entwickelt«.21 Der Schiffbauer nimmt den Baumstamm dagegen in einer 20 21

Böhme: »Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft)«, S. 57. Simmel: »Vom Wesen der Kultur«, S. 366.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Weise in Dienst, die nicht in seiner »eigenen Wesenstendenz liegt; sie wird ihm vielmehr rein von außen, von einem seinen eigenen Anlagen fremden Zwecksystem hinzugefügt«.22 Mit Blick auf den ersten Fall muss man einschränkend feststellen, dass die in der Pflanze schlummernden Möglichkeiten vor allem durch Hybridisierung ›geweckt‹ und zur Entfaltung gebracht werden. Insofern ist Hybridisierung die Voraussetzung dafür, dass es so etwas wie Aufpfropfung überhaupt geben kann, denn woher sollten sonst die Pfropfreiser kommen, mit denen man die Unterlage veredelt? Genaugenommen ist die Aufpfropfung im Kontext der Botanik also nur eine sekundäre Kultivierungstechnik. Hier kommt indes ein zweiter Aspekt ins Spiel: Die praktisch-materiale Form der Aufpfropfung im Rahmen der Agrikultur ist – so möchte ich behaupten – der Ausgangspunkt für einen erweiterten Pfropfungsbegriff, der nicht mehr nur eine Kulturtechnik, sondern ein Kulturmodell bezeichnet, sobald man die Pfropfung als konzeptionell-symbolische Form fasst.23 Als symbolische Form steht die Pfropfung für eine Operation, mit der man von außen an einen Gegenstand, etwa einen Baumstamm, ein Konzept heranträgt, um diesen Gegenstand in ein fremdes Zwecksystem zu integrieren und so seine Funktionsmöglichkeiten zu erweitern und zu steigern. Wie bei der materialen Form der Pfropfung wird bei der symbolischen Form der Pfropfung ein ›Dazwischen‹ konfiguriert – allerdings nicht in Form einer organischen Wundheilung, die die Zirkulation von Pflanzensäften ermöglicht, sondern als konzeptionelle Verbindung: Es werden geistige Energien mobilisiert, um neue Verbindungsmöglichkeiten zu imaginieren und diese als Gedankenexperiment, als konzeptionelle bricolage, zu erproben. In eben diesem Sinne erweist sich die symbolische Form der Pfropfung als greffe conceptionelle. Diese Idee scheint auch Gaston Bachelard im Hinterkopf gehabt zu haben, wenn er in L’eau et les rêves bemerkt, die Pfropfung stelle sich »als ein wesentlicher Begriff dar, um die menschliche Psychologie zu begreifen«, sie sei »das menschliche Zeichen, das notwendige Zeichen, um die menschliche Einbildungskraft zu charakterisieren«.24 Für Bachelard ist die Pfropfung weniger eine bewusste Operation als vielmehr eine Dynamik, die es zuwege bringt, »der materiellen Einbildungskraft den Überfluß an Formen zu verleihen« und der »formalen Einbildungskraft den Reichtum

Ebd. Vgl. Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, S. 67. 24 Bachelard: L’eau et les rêves, S. 14 (hier zitiert nach der Übersetzung in Derrida: Dissemination, S. 226, Fn. 16). 22 23

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und die Dichte der Stoffe zu übermitteln«.25 Dabei ist die Aufpfropfung nicht nur ein Modell der menschlichen Psyche, sondern sie wird als Modell der menschlichen Psyche zu einer Wissensfigur und damit zu einem kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. Insofern kann man im Ausgang von Bachelard die Aufgabe einer greffologisch geschulten Kulturwissenschaft darin sehen, »die verschiedenen Zweige der materialisierenden Einbildungskraft oberhalb der Pfropfung zu studieren, wenn eine Kultur einer Natur ihren Stempel (marque) aufgedrückt hat«.26 Dies gilt in besonderem Maße für die Kunst, denn: »Die Kunst ist der Herkunft nach aufgepfropfte Natur«.27 Mit dieser zunächst noch recht abstrakten Aufgabenstellung werden wir keineswegs auf neue Wege der Kulturforschung geschickt. So führt schon Aby Warburg die Aufpfropfung explizit als Metapher einer kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise ein. Nachdem er in »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« die »klassisch-veredelte, antike Götterwelt« erwähnt, die uns seit Winckelmann »so sehr als Symbol der Antike überhaupt eingeprägt [sei], daß wir ganz vergessen [hätten], daß sie eine Neuschöpfung der gelehrten humanistischen Kultur ist«, zitiert Warburg eine Passage aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik. Der Humanismus ist, schreibt Warburg, »[die] Epoche, wo Logik und Magie wie Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls), ›auf einem Stamme geimpfet blühten‹«. In der »kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität«, so Warburg weiter, »liegen bisher ungehobene Erkenntniswerte zu einer vertieften positiven Kritik einer Geschichtsschreibung, deren Entwicklungslehre rein zeitbegrifflich bedingt ist«.28 Das ›Impfen‹ ist, wie wir oben bereits aus Zedlers Universallexicon erfahren haben, ein Synonym für den Vorgang des Pfropfens. Bei Jean Paul wird die Pfropfmetapher dazu verwendet, eine andere Metapher zu erläutern, nämlich seine Redeweise vom »Doppelzweig des bildlichen Witzes«,29 der entweder »den Körper beseelen oder den Geist verkörpern« kann: »Ursprünglich«, so Jean Paul, als »der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte, war dieser Doppel-Tropus noch keiner«, denn zu dieser Zeit seien die Metaphern »nur abgedrungene Synonyme des Leibes und Geistes«30 gewesen.

27 28 29 30 25 26

Ebd. Ebd. Ebd., S. 15 Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, S. 491f. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 184. Ebd.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Hier scheinen mir drei Punkte bemerkenswert: Erstens handelt es sich bei der Metapher des Impfens um eine besondere Form der Pfropfung, bei der auf einen Stamm zwei verschiedene Reiser transplantiert werden: Mensch und Welt bei Jean Paul, Logik und Magie bei Warburg. Wir haben es also mit dem Phänomen der Parallel-Pfropfung zu tun. Zweitens wird die Parallel-Pfropfung auf einen Stamm von Warburg zu einer epistemischen Metapher aufgewertet, wenn er behauptet, in der »kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität« lägen »bisher ungehobene Erkenntniswerte«. Die Aufpfropfung wird damit zu einem kulturwissenschaftlichen Darstellungsmodell von Polaritäten, die sich aus der gleichen Wurzel nähren, ohne dass es eine natürliche Verbindung zwischen Wurzel und Reis gibt. Das heißt, die Aufpfropfung wird hier zu einem kulturwissenschaftlichen Modell für die Darstellung von Gleichzeitigkeiten, Verschiedenartigkeiten, Brüchen und Schnittstellen. Drittens ist erstaunlich, wie sich das Zitament im Akt des Zitierens unter der Hand – nämlich unter der zitierenden Hand Warburgs – verändert. Aus dem Doppel-Tropus Beseelen  /  Verkörpern, der bei Jean Paul an die metaphorische Sprechweise rückgebunden war, wird bei Warburg das assoziierte Paar Metapher und Tropus. Das heißt, Warburg gruppiert die bei Jean Paul vorgefundenen Begriffe um, ja er nimmt im Akt des Zitierens selbst einen Akt der Aufpfropfung vor. Eben dies ist die zentrale These Derridas in seinem epochemachenden Aufsatz »Signatur Ereignis Kontext«, nämlich dass das Zitieren als Pfropfung, als greffe citationelle gefasst werden muss:31 als Dynamik, durch die nicht nur Zeichen wiederholt, sondern Zeichen im Akt der Wiederholung in ihren Funktionsmöglichkeiten erweitert werden. Nach Derrida gründet insbesondere die Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten von schriftlichen Zeichen in einer »Kraft zum Bruch« mit externen, historischen oder räumlichen, aber auch internen, syntagmatischen Kontexten. Diese Kraft zum Bruch ist die Voraussetzung dafür, dass ein Zeichen »auf absolut nicht sättigbare Weise

31

Vgl. Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, S. 32.

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unendlich viele neue Kontexte zeugen« kann.32 Aufgrund dieser »wesensmäßigen Iterabilität« lässt sich, so Derrida weiter, ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefaßt oder gegeben ist, herausnehmen, ohne dass es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genau genommen alle Möglichkeiten der ›Kommunikation‹ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder es ihnen aufpfropft.33

Hier wird nun auf eigentümliche Weise das Prinzip der Schrift durch das Konzept der Aufpfropfung erklärt, und zwar zunächst als Form des Zitierens, als greffe citationelle. Überboten wird diese Analogie dann in »La dissémination«, wenn Derrida die eingangs bereits erwähnte Behauptung aufstellt: »Écrire veut dire greffer. C’est le même mot«.34 Nun ist die Aufpfropfungsmetapher in literaturwissenschaftlichen Diskursen keineswegs unbekannt  –  so untersucht Antoine Compagnon in seinem Buch La Seconde Main ou le Travail de la Citation detailliert die »gestes archaïque du découper-coller«,35 durch die sich die greffe als collagierende und montierende Transplantationsoperation auszeichnet, und Gérard Genette verwendet den Ausdruck greffer in den Palimpsestes zur Bezeichnung einer besonderen Form der intertextuellen Überlagerung.36 Gleichwohl scheint mir Derridas, durch ihre Generalisierung provozierende, Formulierung »Écrire veut dire greffer. C’est le même mot« eine doppelte Pointe zu haben. Erstens steht der Ausdruck greffer nicht nur für die Aufpfropfung im botanischen und die Transplantation im chirurgischen Sinne, sondern die Greffe ist im Französischen auch die Bezeichnung für eine Schreibkanzlei. Der Greffier ist ein Notariatsschreiber, der Schriftstücke kopiert, registriert und archiviert.37 Greffer heißt also nicht nur im metaphorischen, sondern auch im wörtlichen Sinne so viel wie Schreiben, nämlich so viel wie Abschreiben. Zweitens kommt der Einführung des Aufpfropfungskonzepts eine stra­tegische Funktion zu. Die greffe citationelle ist Derridas Antwort auf Austins Behauptung, das Zitieren von Sprechakten sei als parasitärer Gebrauch von Sprache anzusehen. Nach Austin ist die normale Sprach 34 35 36 37 32 33

Ebd., S. 32. Ebd., S. 27f. Derrida: »La dissémination«, S. 395. Compagnon: La Seconde Main ou le Travail de la Citation, S. 17. Vgl. Genette: Palimpsestes, S. 11. Vgl. Stichworte Greffe und Greffier, in: D’Alembert  /  Diderot: Encyclopédie, S. 924: »Greffier (scriba, actuarius, notarius, amanuensis) (Jurisprud.) est un officier qui est préposé pour recevoir & expédier les jugemens & autres actes qui émanent d’une jurisdiction; il est aussi chargé du depôt de ces actes qu’on appelle le greffe«.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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verwendung dadurch ausgezeichnet, dass der Sprecher mit dem Akt der Äußerung explizit oder implizit bestimmte, handlungsrelevante Verbindlichkeiten eingeht. Sobald sie zitiert, rezitiert oder fiktionalisiert werden, verlieren Äußerungen ihre illokutionäre Kraft.38 Man kann durchaus zugestehen, dass Austin mit dieser Feststellung richtig liegt – problematisch ist (und da hat Derrida meines Erachtens einen wichtigen Punkt erkannt) die Behauptung, dass das Funktionieren von Sprache notwendigerweise an die illokutionäre Kraft von Äußerungen gekoppelt wird, dass man der Sprache keine andere als eine illokutionäre Funktion zugestehen will. Während Austin den parasitären Gebrauch als »Auszehrung«, als etiolation bezeichnet,39 das heißt als Schwächung der Pflanze durch Lichtmangel oder durch überschnelles Wachstum (das sogenannte Ins-Kraut-Schießen), um dergestalt ein Bild für den illokutionären Kraftverlust zu finden, impliziert der Einsatz der Aufpfropfungsmetapher gerade keine Schwächung, sondern eine Steigerung der Funktionsmöglichkeiten, auch wenn hier wie dort der ›Gastgeber‹, die Wirtspflanze also, das Hinzukommende (sei es ein Parasit, sei es ein Pfropfreis) mit Nährstoffen versorgt. Mit anderen Worten: Derrida wertet mit dem Einsatz des Aufpfropfungskonzepts Austins negativ konnotierte Rede vom parasitären Gebrauch von Sprache um. Das Zitat ist kein schwächender, sondern ein stärkender Parasit. An dieser Stelle sei auf eine untergründige Verbindung zu Platons Auseinandersetzung mit der Schrift im Phaidros verwiesen: Eine Auseinandersetzung, die, wie immer wieder betont wird, nicht so sehr als pauschale Ablehnung der Schrift im Namen des mündlichen Dialogs zu werten ist,40 sondern vielmehr als kritische Reflexion der Möglichkeiten von Schrift als Medium der Übermittlung von Wissen, als Medium der Überbrückung eines zeitlichen, räumlichen und kulturellen ›Dazwischens‹. Die Geschichte vom Gott Theut, der dem König Thamus die Schrift als neues Medium präsentiert und damit auf große Skepsis stößt, ist wohlbekannt. Allerdings hat diese Geschichte noch ein Nachspiel, das zumeist unerwähnt bleibt: Um zu verdeutlichen, dass die Schrift einem immer nur das sagen kann, was man ohnehin schon weiß, mithin nicht mehr ist als eine symbolische Spielform der Sprache, erzählt Sokrates dem Phaidros noch eine zweite Geschichte, in der die Schrift mit der Aussaat in einen Ziergarten, einem, wie es heißt, »Buchstabengärtchen«, verglichen wird.

Vgl. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 43f. Im Original: Austin: How to do Things with Words, S. 21. 39 Ebd. 40 Vgl. das Vorwort von Heinz Schlaffer in: Goody  /  Watt  /  Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur.

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Uwe Wirth Ein Landmann, der Verstand hat, wird er [fragt Sokrates] den Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen, wenn er schaut, dass diese binnen acht Tagen schön stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt tut, den Samen aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt?41

Die zeitliche Differenz zwischen acht Tagen und acht Monaten impliziert eine Differenz, die den Ertrag betrifft. Was schnell wächst, und das heißt: Was ins Kraut schießt, bringt keine Frucht, sondern ist nur ein Spiel, ein Zeitvertreib. Das Buchstabengärtchen wird mithin zur Chiffre einer kraftlosen Kommunikationsform, die auf schnelle Effekte anstatt auf ›Nachhaltigkeit‹ setzt. Bemerkenswert erscheint mir hierbei, dass das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Kommunikation im Rekurs auf zwei agrikulturelle Techniken beschrieben wird: Die ernste Kunst des Landbaus und die spielerische Form des Gärtnerns. Doch was hat das alles mit der Pfropfung als Kulturmodell zu tun? Bei Platon offensichtlich nichts, bei Derrida eine ganze Menge: Erst der Rekurs auf die Pfropfung als Kulturmodell eröffnet Derrida (der an verschiedenen Stellen auf Platons Bild vom Buchstabengärtchen anspielt)42 die Möglichkeit, einen Übergang zwischen dem fruchtbringenden Ackerbau und dem schnellwachsenden Ziergarten herzustellen. Die Aufpfropfung impliziert als Erweiterung und Steigerung von Funktionsmöglichkeiten eine Beschleunigung, die aber nicht dem Verdikt der Auszehrung verfällt, sondern wie der vom verständigen Landmann bestellte Acker, Früchte hervorbringt: Früchte, die womöglich erst nachdem sie von einem verständigen Greffier veredelt worden sind, die in ihnen schlummernden Möglichkeiten vollkommen entfalten können, also erst im Rahmen ihrer Kultivierung qua Aufpfropfung ihre gesteigerte Natur zum Vorschein bringen. Wenn wir bereit sind, das Aufpfropfungskonzept als Modell für die Funktionsweise von Schrift in einem sehr allgemeinen Sinne zu akzeptieren, und wenn wir zugleich von einem Zusammenhang zwischen Kultur und Schriftkultur ausgehen, dann können wir die These Pfropfen als Kulturmodell zuspitzen: Insofern Schriftkulturen dem Konzept der Aufpfropfung (verstanden als doppelte Bewegung der Re-Kontextualisierung und des Re-Arrangements, also der Re-Konfiguration von bereits Geschriebenem) folgen, wird (Schrift)kultur als Pfropfung beschreibbar.

41 42

Platon: Phaidros, S. 181. Vgl. Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, S. 26.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Eben dieses Beschreibungsmodell begegnet uns als poetisches Konzept in Jean Pauls Roman Leben Fibels, in dem eine fiktive Geschichte der Schrift erzählt wird, nämlich die Erfindung der Abc-Fibel durch einen gewissen Herrn Fibel, der freilich kein Genie, sondern ein bloßer Abschreiber, ein Greffier im wörtlichen Sinne, ist.43 Die erste Biographie dieses Herrn Fibel  –  eine vierzigbändige Anhäufung von Nichtigkeiten  –  wurde, so die Fiktion des Romans, durch Kriegswirren zerstreut, ist also nur noch Bruchstückhaft vorhanden und muss nun von Jean Paul mühsam am Wohnort Fibels wieder zusammengelesen werden. Dabei protokollieren die einzelnen Kapitelüberschriften jeweils den Fundort. Im »20. oder Pelz-Kapitel« lesen wir: Dieses ganze Kapitel wurde in einem Impf‑ oder Pelzgarten im Grase gefunden und schien zum Verbinden der Pelz-Wunden gedient zu haben, was einer leicht fein-allegorisch deuten könnte, wenn er denn wollte.44

Platons Buchstabengärtchen hat sich hier zu einem Impf‑ oder Pelzgarten verwandelt, in dem Textfragmente als provisorische Hilfsmittel für eine biologische bricolage verwendet werden. Umgekehrt dient das damit aufgerufene Aufpfropfungskonzept als Allegorie für eine Poetik, die die Grenze zwischen originalem und kopierendem Schreiben ironisch thematisiert. Auf diese Weise wird – auf der Ebene der histoire und auf der Ebene des discours – das Verfahren der greffe citationelle als poetisches intertextuelles Verfahren, als greffe intertextuelle, vorgeführt. Interessanterweise hat dieses intertextuelle Verfahren aber auch einen interkulturellen Subtext, der sich auf die These Kultur als Pfropfung beziehen lässt. Irgendwann im Lauf der Lektüre dieses Buches fragt man sich, warum der Papierhändler, bei dem Jean Paul die ersten Fragmente der Lebensgeschichte Fibels »um den Papierpreis« erwirbt, in einer auffallend plakativen Weise als jüdischer Papierhändler beschrieben wird. Vor dem Hintergrund des Pfropfungskonzepts lässt sich hier folgende Antwort geben. Insofern die als Makulatur erworbenen Fragmente das Rohmaterial sind, aus dem Jean Paul seinen Roman »zusammenleimt«,45 steht dieses Material, die fragmentarischen, zerstreuten Textteile also, in funktionaler Analogie zu einer Unterlage, die durch die Eingriffe des kundigen Buchstabengärtners Jean Paul zu einer Geschichte veredelt wird. Der Umstand, dass der Papierhändler als jüdischer Papierhändler beschrieben wird, markiert ihn dabei als Repräsentant jener Religion, auf die das Christentum gepfropft wurde.

Vgl. Wirth: »Die Schreib‑Szene als Editions‑Szene«, S. 153−171. Jean Paul: Leben Fibels, S. 464. 45 Ebd., S. 375. 43 44

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Tatsächlich beschreibt Paulus im 11. Kapitel des Römerbriefs das Verhältnis zwischen Juden und Christen als Aufpfropfung: Danach sind die Juden die natürlichen Zweige eines edlen Ölbaums, dessen Wurzel der Stammvater Abraham ist. Nun wurden, so Paulus, etliche dieser Zweige »um ihres Unglaubens willen« (Röm 11,20) von Gott herausgebrochen. An ihre Stelle wurden die Christen als Zweige eines wilden Ölbaums »hineingepfropft« (Röm 11,19). Vor dem Hintergrund dessen, was wir bisher über die Aufpfropfung als Kulturtechnik erfahren haben, ist dieses Bild in höchstem Maße paradox. Unedle Zweige eines Oleasters in einen, über Jahrhunderte gezüchteten edlen Ölbaum zu pfropfen  –  das macht, weiß Gott, keinen Sinn. Aus theologischer Sicht macht die Sache aber sehr wohl Sinn: allegorischen Sinn. Die Logik der Pfropfung wird in Römer 11 paradoxal re-konfiguriert, um zu zeigen, dass der göttliche Intellekt auch auf andere Weise eingreifen kann, wie es die Gesetze der Biologie nahelegen: Die göttliche Kraft zum Bruch transzendiert die Gesetze der Bio-Logik. Interessant wird es, wenn sich der allegorische Sinn einer greffe conceptionelle und der botanische Sinn der Aufpfropfung als Kulturtechnik begegnen. Eben dies geschieht im Vorwort zu Johann Domitzers 1529 erschienen Gartenhandbuch Ein newes Pflantzbüchlein. Dort beschreibt Domitzer die gärtnerischen Eingriffe, mit denen der »kleine zweig« abgebrochen und »in einem anderen stumpffen Baum […] ein gepfropft und begraben« wird, als Modell für die »aufferstehung des fleisches«.46 Denn der Mensch ist wie ein Zweig: »Gott der rechte pflanzer bricht den zweich­ ab  /  das ist nimt uns das zeitlich leben  /  pfropfet uns in die erde  /  das ist / man begrebt uns auff dem kirchhoff«. Am jüngsten Tag jedoch, stehen wir wieder auf und fangen an zu »grunen un blüen / nicht anders denn wie ein schöner / edler / fruchtbarer Baum grunet und blüet«.47 Dergestalt wird die gärtnerische Kulturtechnik konzeptionell durch ein religiöses Weltbild überformt: Die durch das Pflanzbüchlein zu erlernende Technik der Pfropfung bekommt einen eschatologischen und einen religionspädagogischen Effee. Domitzers Gartenhandbuch will nämlich nicht nur Allegorie der Auferstehung sein, sondern auch »Exempel« dafür, dass wir »Christliche lieb / einer gegen dem andern […] beweisen«. Diese Liebe erweist sich in Analogie zur Gartenpflege (hier wird der Gärtner zum Erzieher gemacht) darin, dass man die »zweig am stemme stets abschneide« und »kein unkraut herumb wachsen laß«.48 Mit dieser Parallelsetzung werden Domitzer: Ein newes Pflantzbüchlein, S. 4. Ebd. 48 Ebd. 46 47



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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wir zu Zeugen einer Transformation der Kulturtechnik Aufpfropfung in das Modell Kultur als Pfropfung. Auch beim Ölbaumgleichnis in Römer 11 lässt sich solch eine Transformation beobachten, da es zu einer Interferenz zwischen den Verfahrens‑ und Funktionsweisen einer bekannten Agri-Kulturtechnik, und der Indienstnahme dieser Kulturtechnik für die Beschreibung einer ›außergewöhnlichen‹ interkulturellen Konfiguration, kommt. In gewisser Hinsicht begegnet uns hier ein Modell für interkulturelle Beziehungen, das vieles von dem Vorweg nimmt, was im Kontext der Postcolonial Studies als Hybridkultur bezeichnet wird:49 Die Aufpfropfung konzeptualisiert jenen space in between, der durch interkulturelle Prozesse der Aneignung und Übersetzung (zumindest teilweise) überwunden werden soll. Die Engführung von Aufpfropfung und Übersetzung findet sich bemerkenswerterweise schon bei Schleiermacher, wenn er  –  gleichsam als Fortschreibung des Ölbaumgleichnisses in Römer 11  –  den christlichen Geist, der im Neuen Testament zum Ausdruck kommt, als Resultat einer »Sprachmischung« ansieht, »in der das Hebräische der Stamm ist, worin das Neue zunächst gedacht worden ist, das Griechische aber aufgepfropft«.50 Eine ethnologische Wendung findet die Indienstnahme des Pfropfungsmodells für die Beschreibung konzeptioneller Interferenzen rund hundert Jahre später in der Sprachphilosophie von Quine, wenn er seine Methode der »radikalen Interpretation« am Beispiel des Verstehens einer fremden Kultur erläutert, nämlich als Verfahren, »exotische Schößlinge so lange auf einen alten wohlvertrauten Baum zu pfropfen […] bis nur noch das Exotische sichtbar ist«.51 Ich denke, die zuletzt erwähnten Beispiele haben gezeigt, dass die These Kultur als Pfropfung in dem Maße plausibilisierbar ist, in dem sich beschreiben lässt, wie die Kulturtechnik der Pfropfung als Kulturmodell bzw. als Modell kulturellen Verstehens ins Spiel gebracht wird. Dies gilt offensichtlich nicht nur mit Blick auf die von Derrida vorgeschlagene »systematische Abhandlung der textuellen Pfropfung«: 52 Neben den unterschiedlichen Spielformen der greffe textuelle sind auch die greffe intertextuelle, die greffe interculturelle sowie die Differenz zwischen greffe materielle und greffe conceptionelle mit ins Programm aufzunehmen. Eben dies ist das Projekt einer Allgemeinen Greffologie, die es sich zur Aufgabe

Vgl. hierzu Bachmann-Medik: Cultural Turns, S. 200; Bhabha: The Location of Culture, S. 112 sowie Young: Colonial desire, S. 9. 50 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 90. 51 Quine: Wort und Gegenstand, S. 133. 52 Derrida: »Die zweifache Séance«, S. 226. 49

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macht, die Bruch-, die Schnitt‑ und die Veredelungsstellen von textuellen, kulturellen, medialen und epistemischen Prozessen zu untersuchen. Literatur Allen, Oliver E.: Pfropfen und Beschneiden. Time-Life Handbuch der Gartenkunde, Amsterdam 1980. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979 [Original: How to do Things with Words, Oxford 1975]. Bachelard, Gaston: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1942. Bachmann-Medik, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Bhabha, Homi: The Location of Culture, London u. a. 1994. Böhme, Hartmut: »Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs«, in: Literaturwissenschaft  –  Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, hg.  v. Renate Glaser  /  Matthias Luserke, Opladen 1999, S. 48−68. Bronfen, Elisabeth  /  Benjamin Marius  /  Therese Steffen (Hg): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997. Canclini, Néstor García: Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity, Minneapolis u. a. 2005. Cassirer, Ernst: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, in: ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, S. 63−92. Coleri, Johannis: Oeconomiae oder Hausbuchs erster Theil, Wittenberg 1620. Compagnon, Antoine: La Seconde Main ou le Travail de la Citation, Paris 1979. D’Alembert, Jean Le Rond  /  Denis Diderot: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, Bd. 7, Paris u. a. 1751−1781. Darwin, Charles: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein, nach der letzten englischen Ausgabe wiederholt durchgesehen von Julius Victor Carus, 9. Aufl., Stuttgart 1899. Debray, Régis: »Für eine Mediologie«, in: Kursbuch Medienkultur, hg. von Claus Pias  /  Joseph Vogl  /  Lorenz Engell u. a., Stuttgart 1999, S. 67−75. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext« [1972], in: Limited Inc., aus dem Französischen von Werner Rappl, Wien 2001, S. 15−45. Derrida, Jaques: »Die zweifache Séance«, in: Dissemination, hg.  v. Peter Engelmann, übersetzt v. HansDieter Gondek, Wien 1995, S. 193−320. Derrida, Jacques: »Dissemination«, in: Dissemination, hg.  v. Peter Engelmann, übersetzt v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995, S. 323−414. Derrida, Jacques: »La dissémination«, in: La dissémination, Paris 1972, S. 319−407. Domitzer, Johann: Ein newes Pflantzbüchlein. Von mancherley artiger Pfropffung vnd Beltzung der Bawm, Wittenberg 1529. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982. Goody, Jack  /  Ian Watt  /  Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1986. Hertwig, Oscar: Allgemeine Biologie, Jena 1923. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (1804), in: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Norbert Miller, Bd. 9, München 1975. Jean Paul: Leben Fibels des Verfassers der Bienrodischen Fabel, Berlin 1963 (1812). Platon: Platon’s Werke. Erste Gruppe: Gespräche zur Verherrlichung des Sokrates. Phaidros oder vom Schönen, übersetzt v. L. Georgii, Stuttgart 1853. Quine, Willard Van Orman: Wort und Gegenstand, aus dem Engl. übers. von Joachim Schulte, in Zus.-Arb. mit Dieter Birnbacher, Stuttgart 1980 [1960]. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment Differenz Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn 1992. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Hermeneutik und Kritik, mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte, hg. und eingeleitet v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977 [1838]. Schneider, Irmela: »Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹. Diskurse des Hybriden«, in: Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, hg. v. ders.  /  Christian W. Thomson, Köln 1997, S. 13−66. Simmel, Georg: »Vom Wesen der Kultur«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901−1908, hg. v. Alessandro Cavalli  /  Volkhard Krech, Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1997, S. 363−372. Theophrast’s Naturgeschichte der Gewächse, übersetzt und erläutert von Kurt Sprengel, Hamburg 1822.



Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell

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Vergil: Lied vom Landbau, Werke in einem Band, hg.  und aus dem Lateinischen übersetzt v. Dietrich Ebener, Berlin 1987. Warburg, Aby: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« (1920), in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Gesammelte Schriften. Erste Abteilung. Band 1.2, Berlin 1998, S. 490−558. Wirth, Uwe: »Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur‑ und Mediengeschichte«, in: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), hg.  v. Lorenz Engell  /  Joseph Vogl  /  Bernhard Siegert, Weimar 2006, S. 111−121. Wirth, Uwe: »Die Schreib‑Szene als Editions‑Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels«, in: ›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‹. Schreiben von der Frühen Neuzeit bis 1850, hg. v. Martin Stingelin, München 2004, S. 153−171. Young, Robert J. C.: Colonial desire. Hybridity in theory, culture and race, London u. a. 1995. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd.  3, Halle u. a. 1732−1754 (Reprint Graz 1961−1964).

Vom Lobpreis der Veredelung zum Prospekt der Vernichtung. Aspekte einer Problemgeschichte der Pfropfmetapher* Falko Schmieder Das 21. Jahrhundert hatte noch nicht begonnen, da wurde es von vielen schon vorgreifend als das »Jahrhundert der Umwelt«1 bezeichnet. Unterdessen ist die sogenannte ›ökologische Krise‹ zu einem Dauerthema geworden und es besteht weithin Konsens darüber, dass die angesprochene Problematik zu einer der größten Herausforderungen der Gegenwart und näheren Zukunft gehört. An der Frage allerdings, wie dieser Herausforderung begegnet werden soll, scheiden sich die Geister. Ein Grund dafür liegt darin, dass es sich bei der sogenannten ›ökologischen Krise‹ nicht  – wie der Begriff suggerieren mag – um eine Krise der Natur, sondern um eine Krise der bestehenden gesellschaftlichen Formen des Stoffwechsels mit der Natur handelt. Die historische Paradoxie dieser Krise besteht darin, dass die prognostizierte zunehmende Selbstgefährdung der Gattung gerade aus der herrschenden Form ihrer ökonomischen Reproduktion resultiert. Die Exzeptionalität und Dramatik der aktuellen Problemlage lässt sich verdeutlichen anhand des Gärtner-Gleichnisses, das an die Herkunft des Begriffs der Kultur aus der Landwirtschaft und dem Gartenbau erinnert.2 Aus der Perspektive kulturvergleichender Zusammenschau wurde es häufig als »ein universales Paradigma schöpferischer Weltaneignung«3 betrachtet, unter dem Vorstellungen vom Zusammenhang von Natur, Ästhetik, Volkswirtschaft, Sozialethik sowie leib-seelischer Gesundheit gebündelt worden sind und das »zum Grundbestand menschlicher Selbst‑ und Weltdeutung«4 gehöre. Unter den aktuellen Bedingungen erscheint dieses vermeintlich universelle Weltdeutungsmuster als eklatanter Anachronismus, weil das Motiv 2 3 * 1



4

Ich danke Uwe Wirth für Anregungen und Hinweise zum Thema. Weizsäcker: Erdpolitik, S. 3 Vgl. Perpeet: »Kultur, Kulturphilosophie«. So Jacob: »Erziehung, Garten, Menschenbild«, S. 1 im Anschluss an Rassem: »Das GärtnerGleichnis«. Jacob: »Erziehung, Garten, Menschenbild«, S. 17.

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der »Tragödie der Kultur«5 und deren Destruktivität im Rahmen dieses Weltdeutungsmusters systematisch unterbelichtet bleiben. Es ist dann auch kein Zufall, dass schon in der Vergangenheit andere Figuren – etwa die des Totengräbers – einspringen mussten, um diese Dimensionen abzudecken.6 Vor diesem Hintergrund verdient das Interesse der neueren Kulturwissenschaft an einer Figur Beachtung, die ihren Ursprung ebenfalls auf dem Gebiet des Gartenbaus hat: die Figur der Aufpfropfung. Nachdem zunächst weitgehend unabhängig voneinander und in verschiedenen Disziplinen Beiträge zu jeweils einzelnen Elementen dieser Figur erschienen sind, haben sich allmählich die Bezugnahmen verdichtet, bis schließlich das Projekt einer »Allgemeinen Greffologie« ins Auge gefasst wurde. Uwe Wirth hat in seinen »Prolegomena« zu diesem Projekt den Versuch unternommen, die vielfältigen Beiträge zum Thema in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und ein neues Forschungsfeld zu konstituieren.7 In verschiedenen Perspektiven erscheint die Aufpfropfung als ein »kulturwissenschaftliches Darstellungsmodell von Polaritäten« (4), als »Modell interkultureller Beziehungen« (7), als eine Metapher für diverse sekundäre Praktiken (vgl. ebd., 5) sowie als Metapher »für das Funktionieren von Experimentalsystemen« (6), schließlich als eine »Figur des Wissens für die Organisation eines Dazwischen und zugleich [als] eine Funktionsmetapher für das Herstellen von Übergängen« (2) der verschiedensten Arten: zwischen Natur und Kultur, Diesseits und Jenseits, verschiedenen Kulturen, Körpern oder Texten. (vgl. ebd.) Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff der Schnittstelle, der die kulturwissenschaftlichen und medientechnischen Implikationen und damit die Aktualität dieser Figur eröffnet, die kaum zufällig zu einer Zeit ins Blickfeld rückt, die durch wachsende Verdichtung medialer Vermittlung bei gleichzeitiger Zunahme (inter-)kultureller Beziehungskonflikte und ökologischer Probleme gekennzeichnet ist. Dass es dem neuen Unternehmen nicht nur um eine Analyse einzelner Elemente der Figur der Aufpfropfung in ihren verschiedenen historischen und gegenwärtigen Gebrauchszusammenhängen, sondern um die Begründung einer neuen positiven Theorie zu tun ist, wird aus dem Resümee der »Prolegomena zu einer allgemeinen Greffologie« deutlich: Diese wird dargestellt als ein Konzept, mit dem sich »sowohl die Bruch‑ und Schnittstellen als auch die ›Veredelungsstellen‹ von kulturellen und medialen Prozessen thematisieren« (7) bzw. – in etwas anderer Formulierung – mit dem sich

5 6



7

Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«. Vgl. dazu Thurn: »Gärtner und Totengräber«, der die Figur des Totengräbers als Komplement zum Gärtner-Gleichnis angesehen hat. Vgl. Wirth: »Prolegomena zu einer allgemeinen Greffologie«. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.



Vom Lobpreis der Veredelung zum Prospekt der Vernichtung

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»die Gelingensbedingungen von artifiziellen Hybridisierungsprozessen […], aber natürlich auch die mehr oder weniger komischen ›Unglücksfälle‹, unter einem medien‑ und kulturwissenschaftlichen Blickwinkel« (7) sondieren lassen. Die Greffologie, die in gewisser Hinsicht das Erbe des Gärtner-Gleichnisses antritt, soll mithin nicht nur Anschlussmöglichkeiten an avancierte Theorieformen bieten, sondern stellt auch in Aussicht, die Dimension des ›Misslingens der Kultur‹ reflektieren zu können. Im Folgenden soll es darum gehen, vermittels der Methode der Begriffsgeschichte die historische Entwicklung der Pfropfmetapher zu analysieren. Da ungeachtet des jüngsten Interesses an der Aufpfropfung bisher wenig begriffsgeschichtlich relevantes Material zu diesem Thema erschlossen ist, kann es sich hier nur um einen ersten Versuch in dieser Richtung handeln. Das besondere Interesse der Untersuchung gilt den historischen Knoten‑ und Umschlagpunkten, an denen sich fundamentale semantische Bedeutungsverschiebungen ergeben haben. Nach der begriffsgeschichtlichen Entwicklung soll dann zum Abschluss noch einmal der umfassende Anspruch der »Prolegomena« diskutiert werden, die allgemeine Greffologie als positive (Kultur-)Wissenschaft zu begründen. Von der hohen Wertschätzung, die die Praxis des Pfropfens bereits in der Antike genoss, legen die Werke der römischen Klassiker ein Zeugnis ab.8 Bei Vergil erscheint das Pfropfen als eine Praxis des Überflusses und Überschusses, die über den Rahmen der einfachen Reproduktion hinausweist. Der spezielle Kunstfertigkeit erfordernde Eingriff in die Natur wird geschätzt, weil seine Produkte dem Menschen besondere Genüsse verschaffen.9 Die paradigmatische Bedeutung des Pfropfens als Kulturarbeit und ästhetische Produktion bringt Ovid zum Ausdruck, wenn er unter dem Begriff der Pflege gleichrangig das Pfropfen, kosmetische Praxen sowie das Schmücken und Verschönern von Häusern darstellt.10 Freilich klingt bei beiden Autoren auch schon an, dass sich die Veredelungspraxis der Vereinigung zweier Pflanzen unter Verhältnissen vollzieht, die durch Verrohung und »Zwietracht«11 gekennzeichnet sind. Unter diesen Bedingungen konnte die Hybridisierungspraxis des Pfropfens zum Bildspender für die Veranschaulichung sozialer und kultureller Differenzen werden. Ein frühes Beispiel dafür ist Paulus’ Brief an die Gemeinde in Rom. Die jüdische Religion wird darin als edler und echter Ölbaum dargestellt, die vom Glauben abgefallenen Juden erscheinen als ausgebrochene Zweige dieses Ölbaums, die Christen als Zweige eines wilden Ölbaums, die dem Vgl. Rex: Die lateinische Agrarliteratur. Vgl. Vergil: »Lied vom Landbau«, insb. S. 90−95. 10 Vgl. die ersten Verse aus Ovid: Schönheitsmittel. 11 Vergil: »Hirtengedichte«, S. 21. 8 9



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edlen Ölbaum eingepfropft worden sind.12 Das Ziel einer Rückkehr aus der religiösen Entfremdung stellt Paulus in den Bildern der gelungenen Wiedereinpflanzung der abgetrennten natürlichen Zweige und der gelungenen Einpflanzung der Zweige des wilden Ölbaums dar.13 Paulus hat mit seinem metaphorischen Rekurs auf die Praxis des Pfropfens zur Veranschaulichung religiöser Differenzen ein Wahrnehmungsmodell zur Verfügung gestellt, das sehr einflussreich geworden ist14 und an das noch heutige Kommentatoren anknüpfen.15 Diese Kontinuität sollte aber nicht den Blick für die Spezifik der Paulusschen Pfropfmetaphorik verstellen: Im Einklang mit seiner Vorstellung von der prinzipiellen Versöhnbarkeit der verschiedenen Religionen verwendet Paulus nämlich die Pfropfmetapher in einem positiven, affirmativen Sinn und damit in einer Weise, die für die agrarische und naturalwirtschaftliche Epoche von der Antike bis zur frühen Neuzeit insgesamt charakteristisch gewesen sein dürfte. Als beispielhaft dafür kann die Passage angesehen werden, die sich in Johann Domitzers Vorwort zu seinem Pflantzbüchlein aus dem Jahre 1529 findet. Das Pfropfen wird darin als eine Art praktischer Gottesbeweis dargestellt: »Denn / wie hette doch der Allmechtig ewig gutig Gott / die aufferstehung des fleisches / besser mügen beweisen / und uns die selbigen zu glauben / stercken un gewiß machen / den eben durch die pfropffung un Pelzung der Baum«.16 Gibt uns Domitzer zufolge die Pfropfung oder – wie es auch heißt – die »ympfung der Bäum« quasi naturwüchsig ein Exempel der »Form und Gestalt« des Glaubens und der Liebe, so ist bei Martin Luther das Vertrauen in die natürliche Kraft der Offenbarung bereits stark geschwächt. Folgerichtig gilt sein besonderes Interesse den Aktivitäten und Formen des Erwerbs und der Verbreitung des christlichen Glaubens. Anders als bei Domitzer, der noch dem traditionellen kontemplativen Erkenntnisideal folgt, tragen bei Luther die Erkenntnis Gottes und die Verbreitung des Glaubens schon den Stempel der Arbeit (und der List), was im Bild des Einpfropfens festgehalten ist: In der Logik seines Bildes ist der christliche Missionar als ein Gärtner anzusehen, der das Edelreis des Gotteswortes in die Herzen der Menschen einpfropft, um deren Sinn auf das Höchste zu richten.17

Vgl. Paulus: Röm 11, 17−24. Vgl. ebd. 14 So eröffnet beispielsweise das Zedler Universallexicon den Artikel »Pfropffen« mit der Paulus-Stelle, vgl. Bd. 28, Sp. 1633, S. 1633. 15 Vgl. Vycinas: Our Cultural agony, S. 135; Falter: Das Christentum und die Dynamik der Säkularisierung, S. 79. 16 Domitzer: Ein newes Pflantzbüchlein, S. 4. 17 Vgl. Luther: Martin Luthers Werke, Bd. 28, S. 121; Bd. 36, S. 530, 598. 12 13



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Im Zuge der Heraufkunft des Humanismus lockerte sich die Bindung der Metapher der Pfropfung an religiöse Inhalte und an das Paradigma der Theologie, und es etablierten sich Wahrnehmungsweisen, die sich der Metapher zur Veranschaulichung rein diesseitiger Probleme bedienten. Es lassen sich dabei zwei Formen des Übergangs zum Einsatz der Metapher in diesem neuen (säkularen) Sinne unterscheiden: eine erste, in der der theologische Kontext übersprungen und gleichsam unmittelbar wieder an den anthropologischen Diskurs der Antike angeknüpft wird, und eine zweite, die sich des antiken Erbes im Durchgang durch den theologischen Diskurs versichert. Ein Beleg für die erste Form findet sich in dem 1529 erschienenen Buch Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter‑ und Geistesbildung der Kinder. Dessen Verfasser, Erasmus von Rotterdam, begründet darin die Erziehungsnotwendigkeit des Menschen anthropologisch, wobei die Praxis der Erziehung in Analogie zur gärtnerischen Praxis betrachtet wird: Die Natur gibt dir ein Stück Land zu eigen, das zwar noch unbebaut ist, aber einen guten Boden hat: du aber lässest es aus Sorglosigkeit von Disteln und Dornen überwuchern, die in der Folge bei allem Fleiße kaum wieder auszurotten sind. In dem unscheinbaren Samenkorn, welch mächtiger Baum ist darin verborgen, was für Früchte wird er tragen, wenn er groß geworden! Dieser ganze Erfolg aber wird zu nichte, wenn du den Samen nicht in die Erde senkst; wenn du das zarte aufsprießende Keimchen nicht sorgfältig hütest; wenn du es nicht durch Pfropfen gewissermaßen zähmest. Und bei der Veredlung der Pflanze bist du wachsam, bei der deines Sohnes aber schläfst du!18

Die zweite Transformation der Pfropfmetapher vollzog sich zumeist in Form einer Übertragung aus dem Zusammenhang der christlichen Mission bzw. der Mission des Christentums in den Zusammenhang der weltlichen Erziehung. Die antitheologische Stoßrichtung dieser Übertragung folgte dabei dem allgemeinen Trend, das Projekt der Erhebung des Menschen zunehmend weniger an die Beziehung zu Gott und statt dessen an die Praxis der Selbsterziehung und praktischen Weltbemächtigung zu knüpfen. Luther hatte mit seiner Betonung der Bedeutung des menschlichen Handelns für die Erhebung zu Gott (und seinem agitatorischen Pfropfkonzept) der neuen Auffassungsweise vorgearbeitet. Einen Schritt weiter als Luther ist Johann Amos Comenius gegangen, der sein theologisch-pädagogisches Konzept mit dem antiken Erziehungsdiskurs zu vermitteln suchte. Schon Ovid hatte, wie dargestellt wurde, die agrartechnische Veredelung mit der Kultivierung der menschlichen Sinne im Zusammenhang gesehen. In exemplarischer Form wurde die Verknüpfung von Agrartechnik und Erziehungspraxis von 18

Erasmus von Rotterdam: »Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter‑ und Geistesbildung der Kinder«, S. 122.

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Seneca vollzogen, der in seiner Abhandlung »Über die Milde« (um 54  /  55) jene »[verständigen] Gärtner« zum Vorbild des Weisen erkor, die nicht nur gut gewachsene Hochstämme aufziehen, sondern auch die aus irgendeinem Grund verkrümmten Stämme an Pfähle binden, die ihnen Halt geben. Die einen beschneiden sie, damit die Seitenäste nicht den schlanken Wuchs hemmen, andere, die in schlechter Lage zurückgeblieben sind, düngen sie kräftig, wieder andere, die im Schatten des Nachbarn verkümmern, schneiden sie frei.19

Comenius knüpft in dem um 1650 konzipierten vierten Teil seiner Allgemeinen Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge, der sogenannten Pampaedia (›Allerziehung‹), an diese Stelle bei Seneca an, und es scheint so, als ob er Luthers christlich-missionarischen Pfropfbegriff in diesen Kontext einzubetten suchte: »Die Pampaedia«, so Comenius, ist ein gebahnter Weg zur Ausbreitung des Lichts der Pansophie in die Gedanken, die Rede und die Handlungen der Menschen. Sie ist eine kunstreiche Anweisung, mit deren Hilfe dem Geiste, der Sprache, den Herzen und Händen aller Menschen Weisheit einzupflanzen ist. Aus diesem Grunde setzen wir auf das Titelblatt dieser Beratung ein Bild aus der Kunst des Baumgärtners. Dort pfropfen die Gärtner vom Baum der Pansophia, den sie zu beschneiden haben, Reiser auf die Setzlinge. Sie wollen den ganzen Garten Gottes, das Menschengeschlecht, mit gleichgearteten jungen Bäumchen bepflanzen.20

Die Idee zu diesem Titelblatt mit dem Motiv vom Pädagogen als Pfropfmeister ist nicht umgesetzt worden.21 Wie hoch indes der Stellenwert dieses Titelblatts einzuschätzen ist, wird daran kenntlich, dass sich Comenius in einem Abschnitt seiner Allgemeinen Beratung, der der »Welt der menschlichen Arbeit« gewidmet ist, auch direkt mit der Praxis des Pfropfens beschäftigt.22 Comenius nimmt also nicht nur metaphorisch auf die Praxis des Pfropfens Bezug, sondern sie bildet als Praxis einen wichtigen Teil innerhalb seines allgemeinen Programms der »Verbesserung der menschlichen Dinge«. In groben Umrissen ist damit das spätere pädagogische Projekt des Schulgartens präfiguriert, in dem das Erlernen von Gartenbautechniken als integraler Bestandteil einer universellen Persönlichkeitsbildung angesehen wurde.23 Seneca: »Über die Milde«, S. 127. Comenius: Allgemeine Beratung, S. 237. 21 Vgl. dazu den Kommentar von Franz Hofmann in Comenius: Informatorium der Mutterschul, S. 160. Hofmann hat nach zeitgenössischen Bildelementen eine Rekonstruktion des Titelkupfers unternommen; vgl. ebd., S. 112. 22 Vgl. Comenius: Allgemeine Beratung, Kapitel V: »Die Wissenschaft, wie man sich kenntnisreich mit Pflanzen, Kräutern, Sträuchern und Bäumen beschäftigt und was daraus hervorgeht«, S. 191−193. 23 Zur großen Bedeutung von Comenius für die Pädagogik bis hin zur aktuellen Bildungspolitik vgl. Fauth: »Johann Amos Comenius«. 19 20



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Vergleicht man die Auffassungen von Domitzer, Luther und Comenius miteinander, dann ist zunächst festzuhalten, dass alle drei die Metapher der Pfropfung in einem positiven Sinne im Rahmen eines religiösen Deutungsmusters benutzen. Anhand ihrer konkreten Verwendungen  der Pfropfmetapher lässt sich dabei der Prozess einer fortschreitenden Verweltlichung verfolgen, die in dem geplanten Titelblatt zu Comenius’ Allgemeiner Beratung ihren Ausdruck findet. Dass sich der Inhalt des 1650 prospektierten Titelblatts im wesentlichen mit der von Erasmus 1529 entworfenen Konzeption deckt, kann als Zeichen dafür gelten, dass dieser Prozess der Verweltlichung nicht geradlinig verläuft, sondern von Ungleichzeitigkeiten, retrograden Entwicklungen und Frakturen als Folge konkurrierender Weltanschauungen geprägt gewesen ist. Ungeachtet der theoretischen Rivalität und parallelen Existenz unvereinbarer Deutungen lässt sich jedoch für den Zeitraum von 1500−1650 die dominante Tendenz einer Ausscheidung theologischer Gehalte aus dem Pfropfdiskurs erkennen. Die veränderte Weltsicht verkörpert sich auch in einem französischen Emblem aus dem Jahre 1608, das den Liebesgott Amor als Pfropfmeister zeigt. Nach der Säkularisierung der Figur der Aufpfropfung ließ sich somit die Geschichte der Menschen als universeller Pfropfverkehr beschreiben: Aus der Versenkung und Vereinigung in Gott ist das lustvolle Miteinander der Geschlechter geworden, das den ›Rohstoff‹ für die veredelnde Pfropfpraxis des Pädagogen liefert. In der Literatur von der Mitte des 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert lässt sich eine erstaunliche Vervielfältigung des Pfropfdiskurses und allgemein ein enormer Bedeutungszuwachs der Metaphorik erkennen. Greifbar wird dieser Umschwung daran, dass nun auf das Pfropfparadigma schon im Titel von Büchern,24 in Eröffnungssätzen von Romanen25 oder in der Namensgebung von Romangestalten26 angespielt wird. Von besonderer Bedeutung war der Einsatz der Metapher der Pfropfung auf dem Feld der Ästhetik. Es wurde bemerkt, dass die experimentelle Praxis des Pfropfens als Verfahren der künstlichen Übertragung und Vereinigung von Heterogenem Ähnlichkeiten mit diversen literarischen Verfahren aufwies, die daraufhin häufig in Analogie zur Pfropfung dargestellt wurden, so vor allem die Praxen des Zitierens, des Übersetzens sowie der Kombination verschiedener literarischer Gattungen, Schreibstile oder Motive. Darüber hinaus wurde insbesondere in den Romanen dieser Zeit mit der Metapher

Vgl. Sélis: L’inoculation du bon sens; Thümmel: Die Inoculation der Liebe. Vgl. Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 26 Vgl. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. In diesen Zusammenhang gehört auch der Magister Pelz aus Jean Pauls Leben Fibels. 24 25

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der Pfropfung selbst experimentiert, die in unterschiedlichste Kontexte hineingetragen wurde, um neue Perspektiven zu eröffnen. Weitere wichtige Felder, auf denen die Metapher der Pfropfung zum Einsatz gelangte, waren die Philosophie und die Pädagogik. Der inhaltliche Schwerpunkt lag dabei auf der Problematisierung des Verhältnisses des Menschen zur äußeren und inneren Natur. Wie weit verbreitet es war, ästhetische und moralphilosophische Erwägungen unter dem Paradigma des Pfropfens zu verhandeln, tritt an einer Passage aus der 1772 erschienenen Schrift Ueber die moralische Schönheit und Philosophie des Lebens von Gottlob Benedict von Schirach hervor. Dieser kann in Bezug auf die – auch von ihm betriebene – Kritik am Systemdenken »nunmehro auf genug Schriften in mancherley Formen« verweisen, welche die Tugend als Schönheit zu empfehlen, und mit allen Reitzen geschmückt, der Liebe und Bewunderung werth zu machen gesucht haben, welche durch Empfindungen das Herz zu erwärmen und es zum Liebhaber der göttlichen Tugend zu machen sich bestrebt haben. Man hat sich die edle Mühe gegeben Pfropfreiser der Moral in alle Gattungen der Litteratur zu pflanzen. Glückliche Bemühung, wenn sie gedeiht!27

Auf der Grundlage dieses vervielfältigten Pfropfdiskurses bahnt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Neubewertung der Pfropfmetapher an. Die Betonung der Aspekte der harmonischen  Verbindung und natürlichen Einheit des Verschiedenen tritt zugunsten der Betonung der Aspekte der Heterogenität des Verbundenen und der Gewaltförmigkeit der Verbindung zurück; die positive Konnotierung der Pfropfmetapher, die allen noch so heterogenen Inanspruchnahmen bis Ende des 17. Jahrhunderts gemeinsam war, beginnt sich sukzessive aufzulösen und es treten neue Auffassungen hervor, in denen die Metapher des Pfropfens als ein dezidiert polemisches Mittel fungiert. Der allgemeinste Grund für diese Umwertung des Hauptsinns der Metapher dürfte in gesellschaftlichen Erscheinungen liegen, die von vielen Zeitgenossen als Pervertierung der natürlichen Ordnung angesehen worden sind: die Verdrängung der Naturalwirtschaft durch eine neue Produktionsordnung, die auf dem abstrakten Prinzip der Verwertung des Werts beruht und nur mehr negativ an die Dimension des menschlichen Bedürfnisses rückgebunden ist; die Auflösung der ständischen Ordnung als gewaltförmige Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und vom Boden, die in der Konsequenz nicht zur Nivellierung, sondern zur Herausbildung neuer Formen sozialer Ungleichheit geführt hat;28 27 28

Schirach: Ueber die moralische Schönheit und Philosophie des Lebens, S. 28f. Vgl. Marx: Das Kapital.



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schließlich die Prozesse der Kolonisierung, die zur wirtschaftlichen und politischen Unterwerfung nichteuropäischer Kulturen unter das Joch der Eroberer führten. Unter den Vorzeichen der Erfahrung einer ›verkehrten‹ Welt konnte das traditionelle pädagogische Projekt der Veredelung des Wilden in die Glorifizierung des Edlen Wilden umschlagen. Vor allem im Anschluss an Jean Jacques Rousseau bildete sich eine zivilisationskritische Strömung heraus, die den Widerspruch der bestehenden Kultur und Gesellschaft zur Natur problematisierte und auf einen reflektierteren Umgang mit den natürlichen Voraussetzungen drängte. Begriffsgeschichtlich ist aufschlussreich, dass der Prozess der Negativisierung der Pfropfmetaphorik zeitlich parallel zur Herausbildung der sogenannten Kollektivsingulare verläuft, die eine Verselbständigung oder Eigendynamik der Verhältnisse bzw. einen systemischen Zwang anzeigen;29 darüber hinaus ist es bedeutsam, dass im selben Zeitraum das Kompositum der Lebensphilosophie30 entsteht, dessen Herausbildung als Reaktion auf die Prozesse der Herrschaft der  –  wie Hegel sie dann nennt  –  ›zweiten Natur‹ verstanden werden muss, auf die die neuen Kollektivsingulare verweisen. Konkreter betrachtet tritt die Pfropfmetapher als negatives Kampfkonzept immer dort auf den Plan, wo es um die Kritik eines abstrakten Rationalismus und um die Rehabilitierung der spezifischen Eigenwertigkeit und Vitalität ursprünglicher (Natur-)Anlagen geht. So bedient sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft der Pfropfmetapher im Zusammenhang der Unterscheidung des Verstandes, der »einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig«, und der Urteilskraft als eines besonderen Talentes, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Spezifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann: so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher.31

Eine ähnliche Verhältnisbestimmung findet sich bei dem Kantianer Friedrich Schiller auf dem Gebiet der Psychologie und Ästhetik: »Was ich auch auf meine einmal vorhandene Anlage und Fertigkeit Fremdes und Neues Vgl. Koselleck: »Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache« sowie ders.: »›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹«. 30 Vgl. Kosenina: »Pfropfreiser der Moral in allen Gattungen der Literatur«, insb. S. 99−110. 31 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 184f. 29

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pfropfen mag, so wird sie immer ihre Rechte behaupten; in anderen Sachen werde ich nur insoweit glücklich sein, als sie mit jener Anlage in Verbindung stehen; und alles wird mich am Ende wieder darauf zurückführen«.32 Von besonderer Bedeutung für die Herausbildung der negativen Grundfigur des Pfropfens sind auch die Diskurse über private und allgemeinöffentliche Erziehung. Auch hier wird der Pfropfbegriff häufig eingesetzt, um äußerlich bleibende, nicht organisch mit der Natur des Menschen verbundene Prozesse der Bildung oder das Oktroyieren abstrakter Regelsysteme und Vorschriften zu kritisieren.33 Besonders die Ausführungen des Sozialreformers und Pädagogen Heinrich Pestalozzi lassen dabei die fundamentale Bedeutung von Rousseau für die Wende zur Negativisierung des Hauptsinns der Metapher der Pfropfung erahnen: Jede Wissenschaftslehre, die durch Menschen diktiert, expliziert, analisiert wird, welche nicht übereinstimmend mit den Gesetzen der Natur reden und denken gelernt haben; und so wieder, jede Wissenschaftslehre, deren Definitionen den Kindern wie ein Deus ex machina in die Seele gezaubert oder vielmehr wie durch Theatersouffleurs in die Ohren geblasen werden müssen, wird, insoweit sie diesen Gang geht, notwendig zu einer elenden Komödianten-Bildungs-Manier versinken. Da, wo die Grundkräfte des menschlichen Geistes schlafend gelassen und auf die schlafenden Kräfte Worte gepfropft werden, da bildet man Träumer, die um so unnatürlicher und flatterhafter träumen, als ihre Worte groß und anspruchsvoll waren, die auf ihr elendes, gähnendes Wesen aufgepfropft worden sind.34

Betrachtet man diese ersten negativ-kritischen Verwendungen der Pfropf­ meta­pher jeweils näher, dann stellt sich unabweisbar der Eindruck der Schiefheit der Metapher ein, die deshalb gewaltsam aufgesetzt und eigentümlich deplaziert wirkt, weil in der gärtnerischen Praxis des Pfropfens doch eine ›natürliche‹ Vermittlung der Partner geleistet ist, während die Pfropfmetapher gerade in Dienst genommen wird, um unüberbrückbare Gegensätze, misslungene Beziehungen oder das (drohende) Scheitern kultureller Vermittlungsprozesse anzuzeigen. Weiter ist die negative Pfropfmetaphorik irritierend, weil das Ziel der Pädagogen, Reformer und philosophischen Aufklärer in der Begründung vernünftiger kultureller Verhältnisse, also gerade nicht in der totalen Negation kultureller Vermittlungsformen besteht, wie sie die negative Verwendung der Pfropfmetaphorik suggeriert. Hinzu kommt schließlich noch, dass die gärtnerische Praxis des Pfropfens sowie die Produkte, die sie hervorbringt, weiterhin ein hohes Ansehen genossen; als Beispiele hierfür können die Einträge im Universallexicon Schiller: »Brief an Gottfried Körner vom 2. Februar 1789«, S. 191−194. Vgl. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, S. 218. 34 Pestalozzi: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, S. 112. Zur Bedeutung von Rousseau für Pestalozzi und andere Pädagogen vgl. Hofmann: »Vorwort«, S. 5−24. 32 33



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sowie der Encyclopädie dienen, in denen die Pfropfpraxis als ein Triumph der menschlichen Naturbeherrschung angesehen wird.35 Nach diesen Ausführungen deutet sich schon an, dass der Einsatz der negativen Pfropfmetapher in kulturtheoretischen Zusammenhängen problematisch ist, weil er auf einer dualistischen Entgegensetzung von Natur und Kultur beruht, während es doch um die Überwindung einer als lebenswidrig erfahrenen Kultur durch eine andere Kultur geht, was im Bild der Pfropfung nicht mehr eingefangen werden kann. Offensichtlich ist die in kritischer Intention verwendete negative Pfropfmetapher selbst widersprüchlich, denn der Sinngehalt der Metaphorik und die Intention der Kritik fallen auseinander. Auf die hier in Rede stehenden regressiven Implikationen des kulturkritischen Pfropfbegriffs wird zurückzukommen sein. Ein Widerspruch der negativen Pfropfmetapher wurde darin gesehen, dass es sich bei der gärtnerischen Praxis um eine gelungene Verbindung handelt, während die negative Pfropfmetapher auf misslungene oder zu missbilligende Prozeduren abzielt. Dieser Widerspruch ist nicht zu schlichten. Er erscheint jedoch in einem etwas anderen Licht, wenn er vor dem Hintergrund der Einführung einer neuen Technik am Beginn des 18. Jahrhunderts betrachtet wird, die von den Zeitgenossen sofort in einem engen Zusammenhang mit dem agrikulturellen Verfahren der Pfropfung gesehen worden ist: Es handelt sich um die Praxis der Variolation. Die Kunde von dieser Praxis erreichte Europa durch die Vermittlung von Reisenden, Wissenschaftlern und politischen Botschaftern aus der Türkei, die unabhängig voneinander von verschiedenen Praktiken der Einheimischen berichteten, Kindern die Blattern einzugeben.36 Eines dieser Verfahren bestand darin, mit einer großen Nadel die Haut der Kinder zu ritzen und Blatternstoff in den Körper zu verpflanzen – ein Vorgang, den die Einheimischen dem Bericht der Lady Mary Worthley Montague zufolge nach dem Vorbild der agrikolaren Technik engrafting (›Einpfropfung‹) nannten.37 In den europäischen Sprachen ist diese metaphorische Übertragung rasch nachvollzogen worden.38 Da zur Charakterisierung des gärtnerischen Pfropfens diverse Synonyme – im Deutschen etwa die Termini Inokulation, Einimpfung, Einpfropfung oder Beltzung – existierten,39 war Vgl. Zedler: Universallexikon, Artikel »Pfropffen«, Bd.  28, Sp. 1633; D’Alembert  /  Diderot: Encyclopédie ou Dictionnaire Raissoné des Sciences, Artikel »Greffe«, Bd.  7, insb. S. 921. 36 Vgl. Timoni: An Account, or History, of the Procuring the Small Pox. 37 Vgl. Montague: Briefe, S. 37−39. 38 Vgl. Abraham: Das Blatter-Beltzen; Wreden: Vernünfftiger Gedancken von der Inoculation der Blattern. 39 Vgl. hierzu den einleitenden Aufsatz von Uwe Wirth in diesem Band: »Die Griechen nennens emphuteiuein, die Lateiner inserore, die Deutschen Impfen oder pfropffen« – mit 35

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die Bezeichnung des neuen medizinischen Verfahrens von Beginn an überdeterminiert. Zugleich war damit aber auch die Möglichkeit gegeben, über die terminologische zu einer begrifflichen Ausdifferenzierung zu gelangen. Wie noch zu zeigen sein wird, erhielt diese terminologische Differenzierung erst im 20. Jahrhundert stabile Konturen. Die Berichte über das neue Verfahren lösten sofort heftige öffentliche Debatten aus und brachten eine Vielzahl von Schriften hervor, die von dem Bewusstsein der Grenzen der sprachlich geleisteten Anähnelung an das agrikole Pfropfverfahren zeugen, das man zu dieser Zeit zwar praktisch gut beherrschte, über dessen interne Vorgänge man jedoch so gut wie nichts wusste. Angesichts des Umstands, dass die Blatternepidemien, gegen die es um 1720 keine wirksamen Schutzmittel gab, Tausenden Menschen das Leben kosteten, ist es nur verständlich, dass sich die höchsten Autoritäten des Staats, der medizinischen Wissenschaft und der Kirche in den Streit um das neue Verfahren einmischten und praktische Versuche, die die Wirksamkeit des Verfahrens prüfen sollten, entweder förderten oder kritisch verfolgten.40 Anders als um das gärtnerische Pfropfen, das wohl niemals ernsthaft in Frage gestellt worden war, bildeten sich in Bezug auf das neue Verfahren der medizinischen Pfropfung zwei Lager der Befürworter und der Gegner heraus. Auch wenn es falsch ist, den Gegensatz der Lager mit der Kampffront zwischen säkularer Vernunft und religiösem Glauben zu identifizieren, so ist doch zu erkennen, dass der Streit um das medizinische Pfropfen auch ein Politikum war,41 bei dem die Stellung des Menschen in der Welt, sein Verhältnis zu traditionellen Autoritäten sowie die Legitimität des wissenschaftlichen Experimentierens mitverhandelt wurde. Deutlich wird das an der Vielzahl der sachfremden religiösen Bezüge, die auch die Schriften der Verteidiger des neuen Verfahrens durchziehen. Lässt man die genuin theologischen Argumente einmal außer acht, dann konnten sich die Gegner vor allem auf die gerade in der Anfangszeit noch relativ hohen Opferzahlen berufen, die der Einsatz des neuen Verfahrens kostete und die schließlich die englische Regierung bestimmten, die Praxis des Impfens zu verbieten. Was den Gegnern vor allem als ›unnatürlich‹ bzw. – in theologischer Sprache  –  als Aktion wider die Absichten des Schöpfers (bzw. als »Eingriff in die Vorsehung«)42 erschien, war der Umstand, dass diesen Worten eröffnet Johannes Coleri das Kapitel vom Pfropfen seines 1620 erschienenen Hausbuchs Oeconomiae, vgl. ebd., S. 148. Vgl. auch die verschiedenen deutschen Ausgaben der Werke von Lucius Columella, z. B.: Columella: Das Ackerwerck; ders.: Agricultur, oder Ackerbaw. 40 Vgl. dazu die Dokumentation der Royal Society of London: Procuring the Small Pox. 41 Vgl. Condamine: »Abhandlung von der Einpfropfung der Pocken«, der einen guten Überblick über die Geschichte der Impfung und den Diskussionsstand um 1750 vermittelt. 42 Hensler: »Rezension«, S. 214.



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gesunden Personen ein Stoff eingepfropft bzw. eingeimpft werden sollte, von dem man nicht viel mehr wusste, als dass er potentiell zum Tod führen konnte. Anders als das Verfahren der gärtnerischen Pfropfung, das in seinen Wirkungen auf die behandelten Pflanzen beschränkt bleibt und das entweder gelingt oder nicht gelingt, wachsen damit nach der Erfindung bzw. Entdeckung der medizinischen Pfropfung dem Begriff des Gelingens neue Bedeutungsschichten zu, denn technisch betrachtet erscheint hier auch eine Pfropfung als gelungen, die den Tod des Geimpften zur Folge hat. Das Ziel musste es also sein, das Verfahren so zur Anwendung zu bringen, dass keine unerwünschten Nebenwirkungen oder unkontrollierbaren Folgeprobleme auftraten; es ging also  –  in Anlehnung an eine Schrift von Wilhelm von Humboldt formuliert – darum, die Grenzen der Wirksamkeit des Blatternstoffes zu bestimmen.43 Das zeitweilig erlassene staatliche Verbot des medizinischen Impfens lässt darauf schließen, dass dieses Ziel in den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung sehr häufig verfehlt worden ist. Damit fällt nun auf das oben dargestellte Problem, dass es sich bei der gärtnerischen Pfropfung um eine gelungene Verbindung handelt, während die negative Pfropfmetapher auf misslungene oder zu missbilligende Prozeduren abzielt, ein neues Licht. Immanuel Kant dürfte einer der ersten gewesen sein, der die Metapher der Pfropfung in einem negativen Sinn verwendet hat. Heinrich Bohn weist in seinem Handbuch der Vaccination aus dem Jahre 1875 darauf hin, dass Kant »aus leichtverständlichen theoretischen Befürchtungen sich gegen die Methode der medizinischen Einpfropfung aufgelehnt hat, da ihm nicht mehr beschieden war, die zweifellose Erfahrung ihrer nützlichen Wirkungen zu erleben«.44 In der Negativisierung der Metapher der Pfropfung scheint sich so auch die Erfahrung der Einführung einer neuen Technik niederzuschlagen, mit der sich – historisch vielleicht erstmals – das Dilemma andeutet, dass sich gerade die Erfolge der Naturbeherrschung als Problem erweisen könnten.45 Freilich stießen sich die Forscher in Bezug auf die medizinische Pfropfung zunächst an der mangelnden Beherrschung des Verfahrens. Ein Meilenstein in der weiteren Entwicklung war Edward Jenners Entdeckung der Kuhpockenimpfung,46 die wiederum eine breite öffentliche Diskussion und eine zweite Flut von Vgl. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen sowie die gleichfalls 1792 erschienene Schrift von Hufeland: Über die wesentlichen Vorzüge der Inoculation, hier insb. das dritte Kapitel »Über die nötige Vorsicht bei Auswahl des Impfgiftes«. 44 Bohn: Handbuch der Vaccination, S. 127. 45 Literarische Motive, die die Dialektik des Ge‑ und Misslingens verarbeiten, sind Goethes Zauberlehrling und Faust sowie Shelleys Frankenstein. 46 Vgl. Jenner: The origin of the Vaccine Inoculation. 43

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Publikationen auslöste. Das von den Gegnern vorgebrachte Argument der ›Unnatürlichkeit‹ gewann jetzt an Gewicht, da das neue Impfverfahren Infektionsmaterial verwendete, das Tierkörpern entstammte und dessen Wirkmechanismen und spezifisches Wesen weithin unbekannt war. Zeitgenössische Karikaturen nahmen die Metaphorik der Einpfropfung buchstäblich und versinnbildlichten die neue Praxis in Darstellungen einer Gesellschaft von geimpften Menschen, die mit entsetzten Blicken auf die tierischen Auswüchse starrten, die an verschiedenen Stellen ihrer Leiber hervorbrachen – eine drastische Darstellung vom Umschlag des Projekts der Veredelung in die Dehumanisierung des Menschen. Nüchtern betrachtet konnten sich die Impfgegner auch nach der Einführung der neuen Technik auf einzelne Fälle stützen, wo Schäden mit Todesfolge eingetreten waren. Die Befürworter führten die Schäden auf unsachgemäße Impfungen zurück und beklagten die mangelnde staatliche Unterstützung des Verfahrens, die fragwürdigen klandestinen Praktiken erst den Boden bereite. Daneben konnten die Befürworter auf beeindruckende Erfolge einer deutlichen Zurückdrängung der Todesraten durch die Impfpraxis verweisen. Auch wenn die Praxis immer wieder attackiert worden ist, so lässt sich doch seit dem 19. Jahrhundert die Tendenz einer raschen allgemeinen Verbreitung des medizinischen Impfens erkennen. Die praktischen Erfolge führten schließlich zur Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht47 und dazu, dass der Staat die weitere wissenschaftliche Erforschung der Grundlagen des Impfens durch die Gründung neuer medizinischer Institute förderte. Die Bemühungen um die Aufklärung der Wirkmechanismen des medizinischen Impfens verliefen unabhängig und parallel zur Aufklärung der Gesetzmäßigkeiten des gärtnerischen Pfropfens. Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass diese Bemühungen in der Begründung neuer Wissenschaftsfelder wie der Immunologie, der Bakteriologie und der Genetik kulminierten. Auf der Basis dieser experimentellen Wissenschaften wurde es dann möglich, in die Geheimnisse der mit den diversen Impf‑ und Pfropfpraxen verbundenen Übertragungs-, Ansteckungs-, Abwehr‑ und Abstoßungsphänomene einzudringen und das neu gewonnene Wissen wiederum praktisch anzuwenden. Die Revolutionierung des Feldes der Biomedizin hatte selbstverständlich gravierende Folgen für die weiteren metaphorischen Übertragungen des Pfropf‑ und Impfbegriffes auf das kulturelle, politische und soziale Feld (wobei natürlich auch anders herum gilt, dass die sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen die Entwicklung der biomedizinischen Forschung, und zwar sowohl in 47

Im Deutschen Reich wurde 1874 ein Impfgesetz erlassen, das zur aktiven Immunisierung gegen eine Pockeninfektion verpflichtete.



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Bezug auf ihre materielle Infrastruktur, ihre Erkenntnisinteressen und begrifflichen Werkzeuge mitbestimmt haben). Stichwortartig formuliert, waren es besonders folgende Entdeckungen, Diskurszusammenhänge und begriffliche Innovationen, die für die weitere Entwicklung der Pfropf‑ und Impfmetapher bedeutungsvoll waren: Die Diskussionen um die Bastardbildungen und das Problem der Unfruchtbarkeit der ersten Kreuzungen und der Bastarde (mit dem sich u. a. Charles Darwin intensiv auseinandergesetzt hat),48 wobei vor allem der in diesem Zusammenhang häufig auftauchende Begriff der ›Entartung‹ von Bedeutung ist; die Begründung der Bakteriologie und der damit verbundene immunologische Diskurs mit seiner Metaphorik vom freundlichen Selbst und vom angreifenden Feind und den zugehörigen Begriffen des Abwehrsystems und des Anti‑ und Fremdkörpers;49 die Entdeckung der Blutgruppen, die der medizinischen Bluttransfusion den Boden bereitete; schließlich die Entdeckung körpereigener Abwehrstoffe bzw. Gegengifte (Antitoxine) u. a. m. Nach diesen kursorischen Ausführungen zur historischen Ausdifferenzierung und Transformation der materiellen und begrifflichen Voraussetzungen für die weitere Verwendung der Pfropf‑ und Impfmetapher soll nun wieder an den Beginn des 18. Jahrhunderts zurückgegangen werden. Nach der Einführung, Verbreitung und Perfektionierung der medizinischen Impfpraxis lässt sich auf der terminologischen Ebene eine Verdoppelung der Begriffe konstatieren, die sich aus der Übernahme der Begrifflichkeiten aus der Gartenbautechnik zur Bezeichnung der neuen medizinischen Praxen ergibt. Hatten sich auf dem Agrarsektor die Begriffe Pfropfen, Impfen und Inoculieren behauptet, so sind es genau diese Begriffe, die sich nun auch auf dem Feld der Medizin wiederfinden. An der Entwicklung der Wörterbücher vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts  –  also vom Adelung bis zu Meyers Konversations-Lexikon  –  lässt sich der Prozess dieser Verdoppelung ebenso verfolgen wie das Bemühen erkennen, die beiden Begriffe und Phänomenbereiche auseinander zu halten. Es lassen sich vier Etappen voneinander unterscheiden: Bis ca. 1840 wurde versucht, die mit einem identischen Wortkörper bezeichneten unterschiedlichen Begriffe im Rahmen ein und desselben Lemmas definitorisch voneinander abzugrenzen.50 Im Zeitraum von 1840−1890 ging man dazu über, die begriffliche Differenz schon äußerlich darzustellen, indem man die verschiedenen Phänomene unter dem gleichen Stichwort durch Num Vgl. Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, insb. das Kapitel »Bastardbildung«, S. 302−338; zum Pfropfbegriff vgl. insb. S. 315f. und 336f. 49 Vgl. Ohlhof: »Das freundliche Selbst und der angreifende Feind«. 50 Vgl. die Behandlung des Stichworts »Impfen« im Adelung, Bd.  2, Sp. 1366 sowie im Rheinischen Conversations-Lexikon, S. 980. 48

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merierung voneinander abgrenzte.51 Ab 1890 lässt sich die Tendenz beobachten, denselben Terminus zweimal anzuführen und die verschiedenen Begriffe auf diese Weise getrennt voneinander abzuhandeln.52 Erst im 20. Jahrhundert wurde der begriffliche Unterschied durch eine terminologische Trennung fixiert; der Impfbegriff wurde von nun an nur noch auf dem Feld der Medizin verwendet, während der Begriff des Pfropfens auf dem Feld des Gartenbaus verblieb.53 Die über einhundert Jahre währende terminologische Doppeldeutigkeit des Impf‑ und Pfropfbegriffs musste natürlich Folgen für die metaphorischen Verwendungen beider Ausdrücke haben. Allgemein lässt sich sagen, dass die Bildsphären des Gartenbaus und der Medizin miteinander verschmolzen, so dass die metaphorischen Verwendungen eine kaum tilgbare Überdeterminiertheit aufwiesen. Die kontroversen Einschätzungen der materialen Praxen, aus denen sich die Metaphorik speiste, der ungenügende wissenschaftliche Kenntnisstand über die Voraussetzungen und Ermöglichungsbedingungen dieser Praxen, schließlich der Umstand, dass die Praxis der medizinischen ›Pfropfung‹ lange Zeit eine riskante gewesen war – alle diese Faktoren deuten darauf hin, dass die literarischen Experimente mit der Metapher der Pfropfung als eine Art Einübung in den Umgang mit Unsicherheiten zu verstehen sind. Die wachsende Bedeutung solcher Unsicherheiten dürfte für die auffällige Konjunktur der Metapher seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts mit verantwortlich sein. In Bezug auf die Entwicklung der Pfropfmetapher im 19. und 20. Jahrhundert ist es besonders hervorhebenswert, dass die immensen Fortschritte der praktischen Naturbeherrschung und konkret die permanenten Verbesserungen der Verfahren und Techniken des Impfens, die sich in der Entwicklung immer neuer Impfstoffe und in der Ausrottung vieler, ehedem mit verheerenden Folgen verbundenen Seuchen und Infektionskrankheiten niederschlugen, den Prozess der Negativisierung der Pfropfmetapher nicht zu revidieren vermochten; im Gegenteil hat sich die Negativisierung der Metapher weiter verfestigt, was vor allem mit ihrer Integration in histo Vgl. die Behandlung der Stichworte »Impfen« und »Inoculation« im Universallexicon der Gegenwart und Vergangenheit, S.  120 und 180 sowie das Stichwort »Impfen« im Deutschen Wörterbuch, S. 2079f. 52 Vgl. das Stichwort »Impfung« in Meyers Konversations-Lexikon, S. 904−906. 53 Schneller als in den allgemeinen Lexika vollzog sich der Prozess der terminologischen Ausdifferenzierung und Stabilisierung der begrifflichen Distinktion in den Fachwörterbüchern der medizinischen Wissenschaften und des Gartenbaus. So findet sich schon im Encyclopädischen Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften von 1838 unter den Stichworten »Impfung« und »Inoculatio Morborum« der Terminus des Pfropfens nicht mehr; spiegelbildlich dazu wird in der Encyclopädie der gesamten niederen und höheren Gartenkunst von 1860 unter den Stichworten »Pfropfen« und »Oculieren« der Impfbegriff nicht mehr verwendet. 51



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risch neuartige regressive, biologistische und sozialdarwinistische Theorien zusammenhängt. Diese Integration ist nicht lediglich in dem schwachen Sinne einer Einbettung der Metapher zu verstehen; vielmehr kommt der negativen Metapher der Pfropfung in den neuen Theoriezusammenhängen durchaus eine stützende, sinnkonstituierende Funktion zu. Verdeutlichen lässt sich das zunächst anhand von Motiven einer von Rudolf Steiner im Jahre 1906 – also fünf Jahre nach der Entdeckung der Blutgruppen durch Karl Landsteiner – gehaltenen Rede mit dem Titel Blut ist ein ganz besonderer Saft. Steiner widmet sich in dieser Rede dem historischen Moment, wo das Volk »in einen neuen Kulturzustand« eingetreten ist, »in dem es aufhört, alte Traditionen zu haben, wo es aufhört, Urweisheit zu besitzen, jene Weisheit, die durch das Blut der Generationen hindurchgerollt ist«.54 Dieser historische Moment ist für Steiner der, »wo die Nah-Ehe in die Fern-Ehe übergeht«. (43) Bei diesem Übergang kommt es Steiner zufolge zu einer Blutmischung, die dann die modernen Entfremdungsphänomene des Intellektualismus und Individualismus hervorgebracht habe. Die Blutmischung durch die Fern-Ehe habe den Zusammenhang mit den Vorfahren durchschnitten, die ursprünglich aus dem Animalischen stammenden hellseherischen Kräfte des Menschen vernichtet und das wache Tagesbewusstsein hervorgebracht, das Steiner zufolge als »Ergebnis eines Tötungsprozesses« (47) angesehen werden muss. Um diesen Zusammenhang näher darzustellen, greift Steiner auf die Metapher der Pfropfung zurück: Nehmen Sie ein Volk, das herausgewachsen ist aus seiner Umgebung, in dessen Blut sich seine Umgebung hineingebildet hat, und versuchen sie, ihm eine fremde Kultur aufzupfropfen. Es ist unmöglich. Das ist auch der Grund, warum gewisse Ureinwohner zugrunde gehen mussten, als die Kolonisten in bestimmte Gegenden kamen. Von diesem Gesichtspunkte aus wird man die Frage beurteilen müssen, und dann wird man auch nicht mehr glauben, dass man jedes jedem aufpfropfen kann. Dem Blute darf nur dasjenige zugemutet werden, was es noch vertragen kann. (45f.)55

Mögliche Konsequenzen dieser Sichtweise wurden  –  und zwar wieder mit Bezug auf das Pfropfkonzept – von Carl Gustav Jung im Jahre 1923 formuliert:

Steiner: Blut ist ein ganz besonderer Saft, S. 42. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text. 55 Der russische Philosoph, Mediziner, Science-Fiction-Autor und Sozialrevolutionär Alexandr Bogdanov hat in den 1920er Jahren mit seiner Konzeption der Pfropfung des Blutes (greffe du sang) eine kollektivistische Utopie entworfen, die in vielem als Gegenentwurf zu Steiner erscheint; vgl. Bogdanov: The struggle for Viability: Collectivism through Blood Exchange sowie Solhdju  /  Vöhringer: »Aleksandr Bogdanovs Bluttransfusionen – Das Opfer des Selbstexperiments«. 54

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Falko Schmieder Die germanische Rasse war, als sie vorgestern mit dem römischen Christentum zusammenstieß, noch im Ausgangszustand der Polydämonie mit Ansätzen zum Polytheismus. […] Wie die Wotanseichen, so wurden die Götter gefällt, und auf die Stümpfe wurde das inkongruente Christentum, entstanden aus einem Monotheismus auf weit höherer Kulturebene, aufgepfropft. Der germanische Mensch leidet an dieser Verkrüppelung. Ich habe gute Gründe zur Annahme, dass jeder Schritt über das Gegenwärtige hinaus dort unten bei den abgehauenen Naturdämonen anzusetzen hat. D. h. es ist ein ganzes Stück Primitivität nachzuholen. Es erscheint mir daher als schwerwiegender Irrtum, wenn wir auf unsern bereits verkrüppelten Zustand nochmals ein fremdes Gewächs aufpflanzen. […] Auch ist es unmöglich, von unserm heutigen Kulturzustand direkt weiter zu gehen, wenn wir nicht aus unsern primitiven Wurzeln Kraftzuschüsse erhalten. Diese letztern erhalten wir nur, wenn wir hinter unsere gegenwärtige Kulturstufe in gewissem Sinn zurückgehen, um dem unterdrückten Primitiven in uns eine Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln. Wie das zu geschehen hat, ist eine Frage für sich, mit deren Lösung ich seit Jahren beschäftigt bin. […] Aber das, was jetzt ist, ist faul. Wir bedürfen zum Teil neuer Fundamente.56

Der Schaffung dieser Fundamente steht Jung zufolge vor allem ›der Jude‹ entgegen, der als wurzellose Existenz geschildert wird, die ein parasitäres Dasein zu Lasten des (bodenständigen, nährstämmigen) deutschen Volkes führe. Bei Jung sind damit alle Konstituentien der nationalsozialistischen Rassen-Ideologie versammelt.57 Besonders irritierend dabei ist das Verhältnis zu den Vorgaben der Aufklärungstradition. Wurde oben in Bezug auf die aufklärerische Verwendung der negativen Pfropfmetapher der Widerspruch zwischen dem Sinngehalt der Metaphorik und der Intention der Kritik hervorgehoben, so ist nun festzustellen, dass im nationalsozialistischen Pfropfdiskurs dieser Widerspruch nicht mehr besteht, denn die Verwendung der negativen Pfropfmetapher steht in völligem Einklang mit der anvisierten kollektiven Regression und Zerstörung der kulturellen Werte der bürgerlichen Gesellschaft. Dies aber heißt, dass die nationalsozialistische Ideologie die Implikationen und Möglichkeiten eben der negativen Pfropfmetapher ausgeschöpft hat, die die selbstreflexive Bewegung der Aufklärung hervorgebracht hatte. Dieser Befund muss Konsequenzen für das Projekt einer ›Allgemeinen Greffologie‹ haben. Wird von dieser beansprucht, auch die Dimensionen des Misslingens und der Destruktivität der Kultur reflektieren zu können, so kann sich unter dem leitenden Verständnis von ›Kultur als Pfropfung‹ diese Reflexion doch nur unter der vorausgesetzten Dichotomie von Natur und Kultur vollziehen, womit naturalistische Fehlschlüsse der Kritik vorprogrammiert sind. Die Betrachtung der Geschichte der Pfropf56 57

Jung: Briefe, S. 61f. Vgl. dazu Gess: Vom Faschismus zum Neuen Denken, insb. Kapitel IV sowie Metzner  /  Lesmeister: »Der neue Mensch«.



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metapher hat deutlich werden lassen, dass das Pfropfkonzept, wenn es als polemisches Mittel der Kulturkritik eingesetzt wird, in ausweglose Aporien hineinführt, weil es nicht geeignet ist, die der Kultur selbst immanente Dialektik angemessen zu reflektieren.  –  Diese Kritik ist jedoch nicht als ein Generaleinwand gegen die Verwendung des Pfropfbegriffs als kulturtheoretisches Interpretament mißzuverstehen. Wenn der Begriff als Instrument der Kulturkritik untauglich ist, so scheint er als heuristisches Mittel zur Analyse kultureller Schnittstellen gute Dienste zu leisten, und zwar deshalb, weil er den Blick für den Eigensinn der Materialitäten und für die Unwägbarkeiten und Risiken kultureller Austauschprozesse schärft, ohne dem Wahn zu verfallen, mit diesen Idiosynkrasien ein für alle mal aufräumen zu können. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich die gegenwärtige Konjunktur des Pfropfkonzepts in den Kulturwissenschaften und angrenzenden Fächern ganz wesentlich der theoretischen Intervention von Jacques Derrida verdankt, der den Begriff im Zuge einer Auseinandersetzung mit Austins und Searles Kritik am parasitären Gebrauch performativer Äußerungen positiv umfunktioniert und später dann zum Instrument der Anerkennung des Wirkens der différance ausgebaut hat.58 Auch diese affirmative Bestimmung des Pfropfkonzepts enthält eine kritische Komponente. Sie richtet sich gegen die Fiktion reiner Ursprünge, betont die nicht zu bändigende Vielstimmigkeit kultureller Phänomene und hält so die Möglichkeit einer befreundeten Anpassung an das Fremde offen. In der Geschichte der Moderne lassen sich für dieses Konzept viele Vorläufer finden: Über Winckelmann, Schinkel, Burckhardt und Warburg ließe sich eine kulturtheoretische Strömung herauspräparieren, die sich der gängigen negativen Gebrauchsweise der Metapher widersetzt und eine gegensinnige Verwendung derselben etabliert hat, um die kulturkonstitutive Bedeutung und Produktivität von Unterschieden, Gegensätzen und Widersprüchen festzuhalten. In solchen Verwendungsweisen wird der Pfropfbegriff zugleich zum Vorschein von Verhältnissen, über die der Identitätszwang keine Macht mehr hat und in denen man ohne Angst verschieden sein kann. Literatur Abraham, D.: Das Blatter-Beltzen Oder die Art und Weise die Blattern durch künstliche Einpfropffung zu erwecken: Welche vor 50 Jahren her in Orient gebräuchlich gewesen und von daraus vor einigen Jahren durch der dasigen Medicorum an die Königl. Societät in London abgestatteten Bericht in Europa bekandt worden, Wittenberg 1721.

58

Vgl. zur Bedeutung und Geschichte von Derridas Pfropfbegriff Wirth: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung«, insb.  S.  18−26; sowie das Kapitel »Die Pfropf-Prozedur« in Kofman: Derrida lesen.

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Genealogische Ordnung und ungeschlechtliche Vermehrungsweise Cornelia Vismann

I. Pflügen und Pfropfen Das Pfropfen zählt, wie das Zähmen und Züchten, zu den elementaren Kulturtechniken.1 Seit der Antike wird es für die Züchtung von Pflanzen, vornehmlich widerstandsfähiger Obstsorten, verwendet. Darüber belehrt wohl so gut wie jede Einführung in die Botanik. Und obwohl das Pfropfen eine so elementare Kulturtechnik darstellt, gehört es nicht gerade zu den ausgesprochenen Lieblingsgegenständen der Kulturwissenschaften. Eher findet man, wenn es um archaische Techniken geht, etwas zu solchen, die mit der Urbarmachung des Bodens verbunden sind. So nennen beispielsweise die beiden Herausgeber eines Sammelbandes zur Geschichte der Kulturtechniken, Bernhard Siegert und Tobias Nanz, in ihrem Vorwort gleich zu Beginn die Techniken der Bodenbewirtschaftung und Besiedelung.2 Warum gelten gerade diese Techniken als elementar, während andere, wie etwa das Pfropfen ungenannt bleiben? Eine Vermutung legt sich nahe, wenn man Urbarmachung und Besiedelung mit dem Akt des Ziehens einer Linie auf einem Stück Land zusammendenkt. Diesen Akt hat der Jurist Carl Schmitt bekanntlich zum Urakt aller Ordnung bestimmt. Der Protagonist des konkreten Ordnungsdenkens spielt dabei unter anderem auf die anfängliche römische Praxis an, einen Pflug um das Feld zu ziehen, damit die Furchen, die diese Tätigkeit hinterlässt, markieren, wo die darauf zu errichtende Stadt beginnt und wo sie endet. Das Pflügen umfasst die Urbarmachung eines Stück Landes und den Akt zur Errichtung von Rechtsordnungen. Es dient der Bestellung des Feldes ebenso wie der Markierung von Eigentumsansprüchen. Diese Verbindung von Furchen-Ziehen und Schrift zeichnet diese Kulturtechnik 1



2



Zum kultur‑ und insbesondere medienwissenschaftlichen Konzept von Kulturtechnik vgl. Siegert: »Kakographie oder Kommunikation?«. Vgl. auch den von Nanz und Siegert herausgegebenen Band ex machina. Nanz  /  Siegert: ex machina, S. 7.

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vor anderen, ebenso archaischen aus, etwa das Bewässern, Züchten oder Zähmen. Beim Pflügen handelt es sich hingegen um eine Kulturtechnik innerhalb und außerhalb des Textes. Bekanntlich hat Jacques Derrida in der Grammatologie die Verbindung von Pflügen und Schreiben gezogen. Die Markierungsfunktion hat ihn veranlasst, im Furchenziehen eine Urschrift zu sehen. Und diese Doppelung macht das Pflügen so anziehend für eine kultur‑ und medienwissenschaftliche Betrachtung, der es immer auch um den Übertrag von Kultivierungs‑ auf Kulturtechniken geht, von archaischen Techniken mithin, die auch eine bestimmte symbolische Praxis prägen. Wenn dies so ist, dass Kulturtechniken, die innerhalb und außerhalb der alphabetischen Ordnung greifen, für eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von besonderer Relevanz sind, dann ist es allerdings umso erstaunlicher, dass nicht auch das Pfropfen dazugezählt wird. Diese archaische Technik gleicht schließlich eher dem Pflügen als beispielsweise altägyptischen Irrigationstechniken. Wie die elementare Agrotechnik ist auch das Pfropfen eine diskursive und zugleich eine nicht-diskursive Angelegenheit. Der Ausdruck greffe, der im Französischen Pfropfen bedeutet, und auf das griechische graphein, ritzen zurückgeht, indiziert diese Nähe dieser Kultivierungstechnik der Pflanzenzüchtung zur Kulturtechnik des Schreibens. Folgt man Uwe Wirth, dann ist es wiederum Derridas Verdienst gewesen, diese Verbindung von einer alten Kulturisationsmethode mit der Schrift hergestellt zu haben.3 Derrida habe nicht allein greffe und écrire gleichgesetzt, zuweilen habe er das Pfropfen auch bemüht, um eine Besonderheit der Schrift hervorzuheben: Die Heraustrennbarkeit und Wiedereinfügbarkeit einzelner Textteile, etwa im Zitat.4 Dort, wo die Botaniker von Unterlage sprechen, wird in textwissenschaftlicher Perspektive die Vorlage gewählt. Sie wird zurechtgeschnitten, ein anderer Text wird eingefügt und beide Teile so zu einem neuen Text verbunden. Man kann daher vom Pfropfen als von einer Composite-Technik sprechen. Wirth schließlich erkennt in dem Dreischritt aus Schneiden, Einfügen und Verbinden die textuelle Technik des Herausgebens wieder.5 Ein Text wird zurechtgeschnitten, mit einem Vorwort, oder mit bestimmten Anmerkungen versehen und in dieser Verbindung ediert. Man hätte damit im Pfropfen eine Technik gefunden, die der des Pflügens in jeder Hinsicht ebenbürtig ist. Ebenso wie der primordiale Raumordnungsakt des Furchenziehen hat man es beim Pfropfen mit einem Urakt des Schreibens – in diesem Fall als Ritzen – zu tun. Und so, wie der Akt des 5 3 4

Vgl. Wirth: »Original und Kopie«. Ebd., S. 20f. Vgl. Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion.

Genealogische Ordnung und ungeschlechtliche Vermehrungsweise

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Pfropfens die Kultivierung von Gehölzen bewirkt, kultiviert der Akt des Pflügens das Land. Ausgehend von diesen beiden integralen Techniken ließe sich ›Kultur‹, von den Techniken her gedacht, demnach als Urbarmachung und Veredelung definieren. Wenn gleichwohl eher von den Techniken der Urbarmachung die Rede ist, als von denen der Veredelung, dann mag dies mit einer gewissen Dominanz von räumlichen Kulturtechniken zusammenhängen. Diese mag wiederum darauf zurückzuführen sein, dass die entsprechenden kultur‑ und medienwissenschaftlichen Forschungen sich an Foucaults Dispositiv von »Raum-Wissen-Macht« orientieren.6 Doch selbst wenn man mit den primordialen Ordnungstechniken eher solche des Raumes verbindet, so sind Kulturtechniken zweifellos von Anfang an auch dazu erfunden und erprobt worden, Zeit zu bewältigen.7 Die Frage ist also, ob im Propfen eine dem räumlichen Akt korrespondierende zeitliche Kulturtechnik vorliegt. Beide elementaren Kulturtechniken unterscheiden sich in dem Ding, an dem sie vollzogen werden. Das Ding einer Kulturtechnik bezeichnet zum einen sehr konkret das Werkzeug, mit dem sie ausgeführt wird, hier also Pflug bzw. Messer. Das Ding der Kulturtechniken bezeichnet zum anderen die Materialen, die Unterlagen oder zugrunde liegenden Dinge, an denen die Werkzeuge ansetzen. Im Fall des Pflügens ist dies der Acker, das Feld. Die Unterlage des Pfropfens ist der Baum. Feld und Baum wären demnach die Dinge der beiden elementaren Kulturtechniken Pflügen und Pfropfen. Diese ordnen – so die These – jeweils eine eigene Ordnung an. Feldtechniken errichten eine topologische Ordnung aus Zäunen, Gattern und Definitionen. Sie bewältigen Räume, indem sie vermessen, graben, besiedeln, Wege anlegen und Infrastrukturen erstellen. Man kann sie daher als räumliche Kulturtechniken klassifizieren und es ist nahe liegend, in den Baumtechniken ihr zeitliches Pendant zu vermuten. Dass nun im Pfropfen eine temporale Kulturtechnik vorliegt, lässt sich leicht vorstellen. Bäume unterhalten schließlich von jeher eine Beziehung zur genealogischen Ordnung, zu einer Ordnung mithin, die Zeit in einer bestimmten Weise verwaltet, in dem sie Filiationen knüpft, indem sie Abfolgen in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein herstellt und auf diese Weise Zeit in Dauer verwandelt. Man braucht nur an Stammbäume zu denken oder an die baumförmigen Darstellungen genealogischen Wissens in der Neuzeit8 oder auch an die Darwinschen Visualisierungen der 8 6 7

Nanz  /  Siegert: ex machina, S. 9. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. dazu das an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel angesiedelte Forschungsprojekt von Volker Bauer »Genealogische Wälder« zu den Universalgenealogien des 17. Jahrhunderts.

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Abstammungslehre in Korallenbäumen.9 Doch können solche Symbolisierungsleistungen von Baumdiagrammen erst beschrieben werden, wenn die Kulturtechniken konkret erforscht sind. Wenn hier also der Baum als das Ding einer Kulturtechnik angesprochen wird, dann geht es um den Baum in aller Wörtlichkeit oder Arbor-Realität, vor seinen semantischen Aufladungen und jenseits seiner Zeichenhaftigkeit. In meiner folgenden Skizze möchte ich von diesem konkreten Baum ausgehend die arboreale Technik des Pfropfens als eine mit der Agrotechnik des Pflügens korrespondierende Technik zur Errichtung einer genealogischen Ordnung präsentieren, nicht zuletzt, um damit eine Art Gleichgewicht zwischen der Erforschung spatialer und temporaler Kulturtechniken herzustellen, zwischen solchen der Raumbeherrschung und solchen der Kontinuitätssicherung. Es ist für meine Argumentation zunächst nötig, die Betrachtung der botanischen Technik des Pfropfens beiseite zu lassen und ein textuelles Composite-Verfahren in den Mittelpunkt zu stellen, welches mit der gärtnerischen Praxis nichts zu tun hat, wohl aber mit der Errichtung einer genealogischen Ordnung. Erst in einem weiteren Schritt wird dieses Verfahren dann auf das Pfropfen zu beziehen sein. Auf diese Weise kann deutlich werden, dass auch das botanische Verfahren ein textuelles Composite-Verfahren ist und nicht etwa eine Metapher dafür.

II. Institutieren und Adoptieren Der Text, an dem ich die Errichtung einer genealogischen Ordnung nachweisen möchte, sind die Institutionen. Die Institutiones sind ein Rechtstext aus dem Jahr 161 n. Chr. Konzipiert waren sie als Lehrbuch für römische Jura-Studenten. Rund 350 Jahre später wurden sie zum Grundbuch des abendländischen Rechts. Für diese umfassende Funktion waren sie schon deswegen besonders gut geeignet, weil sie alles zur Sprache bringen, was man in der Welt vorfindet: Tore, Hafenanlagen, Inseln, Theater, wilde Tiere, Pfauen, Hühner, Hauskinder beiderlei Geschlechts, Witwen, Hausväter und Sklaven. Man hat sich aber keine endlosen Listen vorzustellen. Die Institutionen richten die Welt in der Sprache ein, indem sie von einer – historisch betrachtet – äußerst wirkmächtigen Dreiteilung in personae, res, actiones, in Personen, Dinge und Handlungen ausgehen. Actiones sind ein Rechtsterminus, der streng genommen allein die Sprechhandlungen vor Gericht bezeichnet. Doch fällt auf, dass die Institutionen auch über die Prozessakte hinaus einen starken Akzent auf Handlungen legen. Das Prädikat entscheidet in den Institutionensätzen

9

Vgl. Bredekamp: Darwins Korallen.

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über den Status einer Person. Es setzt Dinge in Relation zu Personen. So ist etwa derjenige ein Freigelassener, dem im Akt der manumissio die Freiheit gegeben wird. Ähnlich der Eigentümer: Das ist derjenige, der eine Sache ›ergreift‹ (capere), etwa eine Fundsache mit den Händen, einen Bienenschwarm mit den Augen oder ein Grundstück durch Okkupation. Und – um ein drittes Beispiel anzuführen – auch die Vaterschaft kann die Folge eines solchen Aktes des Ergreifens sein, konkret: Vater wird, so bestimmen es die Institutionen, wer ein uneheliches Kind adoptiert. Will man schließlich das eigene Vorgehen der Institutionen beschreiben, so braucht man die inhaltlichen Regelungen nur auf diese selbst zu übertragen: Die Institutionen ergreifen das, was sie vorfinden, in der Sprache und damit institutieren sie es. Diese Instituierungen von Personen und Dingen in der symbolischen Ordnung sind zunächst gänzlich unautoritativ. Hier, in diesem Lehrbuch für Jurastudenten spricht keine Autorität, hier spricht ein Lehrer, ein Erklärer oder Ordner des Lebens. Es geht darin schließlich nicht um Geltung, sondern um die diskursive Einrichtung des Lebens für den juristischen Gebrauch. Der dienenden Funktion des Buchs entsprechend, verschwindet der Autor auch vollständig hinter seinem Text. Ein gewisser Gaius soll das Institutionenwerk verfasst haben.10 Über einen Gaius, ein Name, wie ihn in Rom zur Zeit der Abfassung der Institutionen jeder Fünfte trug, ist so gut wie nichts bekannt.11 Der Text erfüllt seinen Zweck auch ohne Autornamen. Er braucht keinen Autor und keine Autorität, um Jurastudenten in die symbolische Ordnung einzuführen. Das imposante Unternehmen eines Allerwelts-Gaius, die Welt in Sprache zu übertragen, bleibt daher auch solange eine vergleichsweise folgenlose innerjuristische Angelegenheit, bis ein Instituierer von eigenen Gnaden auftritt. Rund 350 Jahre nach Abfassung der Institutionen, im Jahr 533 übernimmt Kaiser Justinian den Institutionentext in programmatischer Absicht für seine renovatio Roms in Byzanz. Der Kaiser stattet das Lehrbuch mit Gesetzeskraft aus. Worte des Kaisers im pluralis maiestatis verfügen: Wir haben sie, die alten Werke insbesondere des Gaius, »gelesen, geprüft und mit der vollen Kraft unserer Konstitutionen ausgestattet«, plenissimum robur. (Const. Imp. 6) Und »unsere Konstitutionen« werden dann als das definiert, was Gesetzeskraft hat (vigor). (Inst. 1.2.6.) Dadurch werden die Institutionen Konstitution, Verfassung oder Gesetz. Aus einem didaktischen Text wird einer mit Autorität, ein Gesetzes-, ein Referenztext. Mit nachhaltigem Erfolg: Bis heute wird in aller Regel aus diesem, unter dem Gaius: Institutionen. Vgl. ebd., »Einleitung«, S. 11.

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Namen von Kaiser Justinian herausgegebenen Institutionen-Text zitiert12 und nicht aus dem Gaiustext. Was also macht Kaiser Justinian mit dem Text des Gaius, wenn er dem deskriptiven Text seinen Kaisermantel umlegt? In die Textvorlage greift er kaum ein, und wenn, dann sind diese Eingriffe Heraustrennungen und Weglassungen. Hinzugefügt wird fast nichts – außer eben jenem Vorwort, das den Text mit Gesetzeskraft ausstattet. Freilich könnte man bereits an dieser Stelle die Editionsarbeit an einem Fremdtext mit dem Pfropfen in Verbindung bringen. Das schneidende Vorgehen erinnert durchaus an dieses botanische Verfahren. Eine Unterlage, der Gaiustext, wird versehrt, beschnitten, und dann mit einem Fremdkörper, dem kaiserlichen Vortext, in dem die Gesetzeskraft verfügt wird, verbunden. Die Gesetzeskraft wird – wenn man es so nennen will – aufgepfropft. Sie ist – um weiter im Bild zu bleiben  –  das, was die Unterlage veredelt. Das Dritte, das dabei herauskommt, ist der Institutionentext, der von nun an kein simples Studienbuch mehr ist, sondern das Gesetzbuch der westlichen Welt: die Institutionen, nach denen die Rechtsordnungen Europas modelliert werden. Doch was berechtigt zu einer solchen Parallelisierung von Edition und Pfropfung? Der Institutionentext selbst legt einen Vergleich zwischen einem textuellen mit einem botanischen Verfahren nicht nahe. Eine Kulturtechnik namens Pfropfen wird man in den Institutionen vergeblich suchen. Sie enthalten Regelungen zum Eigentum und können damit aus sich heraus lediglich auf die Frage antworten: wem gehört was; wer ist Eigentümer des Institutionentextes, oder: in der Sprache des 19. Jahrhunderts reformuliert, wer ist sein Urheber: ein Autor namens Gaius oder Justinian? Will man eine Antwort auf diese Frage aus den Institutionen selbst erhalten, so bietet es sich zunächst an, das Kapitel zum Eigentum an einer Sache zu konsultieren. Dieses Kapitel enthält ein differenziertes Regelwerk für alle sächlichen Composite-Verfahren, für Fälle also, in denen eine Sache durch irgendeine Tätigkeit verbunden, vermischt oder hybridisiert worden ist: Wenn jemand aus fremdem Material eine [neue] Sache hergestellt hat (facta), wird regelmäßig gefragt, wer von beiden kraft natürlicher Vernunft Eigentümer ist, der Hersteller oder eher derjenige, der Eigentümer des Materials gewesen ist; zum Beispiel wenn jemand aus fremden Trauben, Oliven oder Ähren Wein, Öl oder Getreide hergestellt hat oder aus fremdem Gold, Silber oder Kupfer ein Gefäß; oder wenn jemand fremden Wein und Honig zu Honigwein gemischt hat; oder wenn jemand aus fremden Arzneimitteln ein Heilpflaster oder eine Salbe hergestellt hat; oder aus fremder Wolle ein Kleid oder aus fremden Brettern ein Schiff, einen Schrank oder eine Bank. Nach langem Streit zwischen Sabinianern 12

Hier zitiert nach Corpus iuris civilis: die Institutionen (Text und Übersetzung). Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.

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und Prokulianern hat sich eine vermittelnde Meinung durchgesetzt. Danach wird, wenn die neue Sache in das Rohmaterial zurückgeführt werden kann, derjenige als Eigentümer anerkannt, dem das Material gehörte; ist dies nicht möglich, so wird vielmehr derjenige Eigentümer, der das Material verarbeitet hat. So kann zum Beispiel ein gegossenes Gefäß in das Rohmaterial des Kupfers, Silbers oder Goldes zurückgeführt werden. Dagegen können Wein, Öl und Getreide nicht in Trauben, Oliven oder Ähren zurückverwandelt werden, ebensowenig Honigwein in Wein und Honig. (Inst. 2.1.25)

Die darauffolgende Bestimmung geht von den Natur‑ zu den Kunst-Dingen und deren Vermischungen über: »Wenn jemand fremde Purpurfäden seinem Kleid einwebt, gehört der Purpur, obwohl er mehr wert ist, wie eine Nebensache zum Kleid«. (Inst. 2.1.26) Von dort geht es weiter zu den anorganischen Stoffen: »Wenn Stoffe zweier Eigentümer mit deren Willen vermischt worden sind, so gehört die Sache beiden gemeinsam, z. B. Weine, Klumpen von Gold und Silber, auch wenn eine neuartige Sache entstanden ist, etwa aus Wein und Honig, Honigwein«. (Inst. 2.1.27) Es folgen Bestimmungen zu den Vermischungen von Getreidekörnern und zum Verbauen von fremden Materialen im eigenen Gebäude. Dann findet sich unter den Regelungen schließlich auch eine zum Baum, was der Sache des Pfropfens schon näher käme: Wenn Titius eine fremde Pflanze auf seinem Grundstück gepflanzt hat, wird sie sein Eigentum […]. Bevor sie aber Wurzeln geschlagen hat, bleibt sie im Eigentum dessen, der Eigentümer war. Daß das Eigentum an der Pflanze sich ändert, wenn sie Wurzeln geschlagen hat, geht sogar so weit, daß wir folgendes sagen: Wenn Erde des Titius einen Baum des Nachbarn so fest bedeckt, daß er [der Baum] auf dem Grundstück des Titius Wurzeln schlägt, wird der Baum Eigentum des Titius. Denn die Natur der Sache [ratio] läßt es nicht zu, den Baum als Eigentum eines anderen anzusehen als desjenigen, in dessen Grundstück er Wurzeln geschlagen hat. (Inst. 2.1.31)

Gleich auf die Regelung zum Baum folgt eine Regelung zu den Komposita des Feldes: »Aus dem selben Grund aber, aus dem Pflanzen verwurzelt sind, zum Grundstück gehören, wird auch das Getreide, das ausgesät ist, als zum Grundstück gehörig angesehen«. (Inst. 2.1.32) Und, als wolle man den Dingen der Kultivierungs‑ und Kulturtechniken der Reihe nach die Ehre geben, folgt auf Baum und Feld der Text, genauer: eine Regelung zum Eigentum an Buchstaben: Auch die Buchstaben gehören, selbst wenn sie aus Gold sind, ebenso zum Papier und Pergament wie das, was gebaut und gesät wird, regelmäßig zum Grundstück gehört. Wenn daher Titius auf deinem Papier oder Pergament ein Gedicht, eine Geschichte oder eine Rede geschrieben hat, so erkennt man dich, nicht Titius als den Eigentümer dieses Schriftstücks an. (Inst. 2.1.33)

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Wäre demnach der Eigentümer am Institutionentext derjenige, dem das Papier gehört? Gaius’ Buchstaben auf Justinians Pergament? Auch unter diese Vorschrift lässt sich der justinianische Modus der Textaneignung nicht subsumieren, und dies nicht etwa, weil das 19. Jahrhundert das sogenannte geistige Eigentum erfunden hat, das eine solch materialistische Sicht auf Buchstabe und Beschreibstoff nicht mehr zulässt. Die Regelung in den Institutionen passt nicht auf den vorliegenden Fall, weil Kaiser Justinian hier nicht etwa Papier entwendet hat, um darauf seinen eigenen Text zu verfassen. Er entwendet einen fremden Text, um darunter seinen eigenen Namen zu setzen. Diesen Fall sehen die Institutionen, Abteilung res jedoch nicht vor. Für die Herausgabe eines fremden Texts findet sich darin ebenso wenig eine Regelung wie zu Eigentumsverhältnissen an Baum, Zweig und Sprössling durch Pfropfen. Gärtnerische und textuelle Aneignung im Composite-Verfahren lösten offenbar keine Eigentumsstreitigkeiten aus. Man muß also noch einmal aus einem anderen Blickwinkel heraus fragen, was Kaiser Justinian tut, wenn er unter einen fremden Text seinen eigenen Namen setzt. Zweifellos gleicht er darin einem Plagiator. Ein Plagiator, das ist nach heutiger allgemeiner Auffassung unter Juristen (eine Legaldefinition gibt es nicht) die unerlaubte Übernahme fremden Geistesguts unter bewusster Anmaßung eigener Urheberschaft. Nur tut der Imperator-Editor Justinian dies nicht unter Verleugnung der Herkunft dieses Textes und das wiederum unterscheidet ihn von einem echten Plagiator, der ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er verschweigt, von wem der Text eigentlich stammt. Das kaiserliche Vorwort (Const. Imp. 6) nennt indes die Werke, aus denen es zusammengesetzt (compositas) ist: »neben allen Institutionenwerken der alten Juristen, vor allem […] Werke unseres Gaius« (Gaii nostri). Der byzantinische Kaiser Justinian gibt seinem autoritativen Text damit eine Herkunft. Er ist also, wenn man will, ein rechtmäßiger Plagiator, einer, dessen Textaneignung dadurch legitimiert ist, dass er die Herkunft des Textes offenlegt. Was aber soll das sein: Ein rechtmäßiger Plagiator? Ein plagiarius, lateinisch, bedeutet Kindsräuber.13 Von einem Kinds‑ zu einem Texträuber ist es nicht weit seit Platons Vergleich von geschriebenen Texten mit Kindern, die ihren Vater verloren haben. Plagiatoren bemächtigen sich des vaterlosen Texts auf illegale Weise. Wer dasselbe macht, ohne dass es rechtlich verboten ist, adoptiert ein Text-Kind. Diese Übertragung vom Plagiieren zum Adoptieren erlaubt es, nun doch noch einmal innerhalb der

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Zum Delikt Plagium (»Anmassung eines Herrenrechts«): Mommsen: Römisches Straftrecht, S. 780ff.

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Institutionen nach einer Reglung für das zu suchen, was Kaiser Justinian mit dem Gaius-Text macht. Tatsächlich wird das, was eine Adoption ist, in den Institutionen eigens und eingehend geregelt. Diese Regelungen finden sich freilich nicht in dem Teil über die Sachen. Sie finden sich in dem ersten Teil der Institutionen, in dem es um die Einteilung von Personen geht. Gleich nachdem über die väterliche Gewalt und die Ehe gehandelt worden ist, findet sich der erste Satz in den Instutionen (1.11.1.) zur Adoption: »Nicht nur die leiblichen Kinder stehen […] in unserer Gewalt, sondern auch die, die wir adoptieren« (adoptamus). Wendet man diese Regelung im Instititutionentext auf den Institutionentext an, heißt das: der Text selbst wird adoptiert. Kaiser Justinian bemächtigt sich eines vaterlosen Textes, stattet ihn mit Gesetzeskraft aus, so wie man ein rechtloses Kind legalisiert. Enfanter nennt Legendre diesen Akt der Einrichtung des Kindes durch den Text.14 Und auch Vater und Mutter werden durch diesen Akt des adoptare instituiert. Aus Kaiser Justinian wird der Vater, aus Gaius wird Gaia, die mythische Mutter des Institutionentextes. Doch wieso ist es so eindeutig, dass Justinian der Vater ist? Was ist überhaupt ein Vater? Nach Auskunft Manfred Schneiders ist der Vater die zweite Mutter, das Ergebnis einer numerischen Distinktion.15 In Justinian erhielte das Text-Kind also zunächst eine zweite Mutter, wenn dieser den Text an Kindes statt annimmt. Doch lassen die Institutionen eine solche Konfusion mit zwei Müttern gar nicht erst aufkommen. Sie bestimmen, dass allein Männer adoptieren können. Der Adoptionsakt ist ihnen vorbehalten, den Zweitmüttern, die dadurch zum amtlichen Vater werden. Frauen dürfen nur ausnahmsweise und gnadenhalber adoptieren, als Trost für den Verlust ihrer eigenen Kinder. (Inst. 1.11.10) Mit dem Institutionentext wird eine Ordnung der Abfolge und Überlieferung errichtet. Es geht von da an in der Welt der Texte um Filiationen und Fortbestehen. Erbschaftsstreitigkeiten sind damit programmiert. Ein Kampf um die Vaterschaft von Texten setzt zwangsläufig ein, nicht zuletzt der Kampf um die Vaterschaft am Institutionentext selbst. Der Protagonist der Historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, setzte alles daran, ein ebensolcher Vater zu werden, wie es Kaiser Justinian einmal für den Gaius-Text gewesen ist. »Unser Gaius, Gaii nostri« – diese Formel entwendete er dem Ahnherrn, als es darum ging, wer als Herausgeber der zu seiner Zeit wiederaufgefundenen Gaiushandschriften firmieren würde. Und er beließ es nicht bei solchen rhetorischen Reklamationen. 14 15

Legendre: Les Enfants du Texte. Schneider: »Die Institution erhören«, S. 327.

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Auf allen Ebenen kämpfte er darum, die Vaterschaft dieses Findelkinds zu erhalten.16 Der Institutionentext errichtet nicht allein eine genealogische Ordnung innerhalb der Welt der Texte, er errichtet auch die Ordnung der Genealogie selbst als Text. Das Bemerkenswerte an der Adoptionsregelung nach römischem Recht besteht darin, dass die Stellung des Vaters losgelöst von den biologischen Tatsachen bestimmt wird. Sie ergibt sich aufgrund eines rechtlichen Akts. Und daraus folgen alle weiteren verwandtschaftlichen Bestimmungen. Das Kind und die Mutter sind ebenso Einrichtungen des Textes. Instituieren oder den Dingen Namen geben heißt demnach, sie von der biologischen Welt zu entkoppeln und in Worten nachzugestalten. »Die Adoption ahmt nämlich die Natur nach« (imitatur) (Inst. 1.11. 4), heißt es an einer Stelle in den Institutionen zur Erklärung dafür, dass niemals ein Jüngerer einen Älteren adoptieren darf. Durch diese imitatio eines sexuellen Akts wird die genealogische Ordnung instituiert. Sie folgt also nicht etwa biologischen Gegebenheiten, sondern setzt in Nachahmung der Natur Verwandtschaftsverhältnisse im Medium Text.

III. Adoptieren und Pfropfen Das ist nun endlich die Einsatzstelle, um das Adoptieren mit der arborealen Technik des Pfropfens zusammenzubringen. Denn ebenso wie das Adoptieren ist das Pfropfen ein Fall von imitatio der Natur. Auch bei diesem Vorgang kann man davon sprechen, dass eine genealogische Ordnung errichtet wird, die nicht die natürliche ist – bestehend aus der »Mater«, dem Pfropfreis (unverkennbar phallisch) und dem Sprössling oder Edelreis. Auch hier ist der Sprössling die Hervorbringung eines nicht-sexuellen Aktes. Mit dem Pfropfreis verbindet das Edelreis so wenig eine verwandtschaftliche Beziehung, wie zwischen einem rechtlichen Vater und seinem adoptierten Kind eine Blutsverwandtschaft besteht. Genetisch ausgedrückt: Pfropfvater und Pfropfkind besitzen ebenso wenig wie Adoptivvater und Adoptivkind identische Gensequenzen. Die familialen Kategorien begründen demnach eine heriditäre Ordnung entkoppelt von der biologischen Erblinie. Die Übertragung der biologischen Kategorien geht sogar so weit, dass der Baum der Pfropfung tatsächlich als »Mater« bezeichnet wird. Mater, so belehren die lateinischen Wörterbücher, ist im Bereich der Pflanzenkunde der Ausdruck 16

Zu diesem ›Krimi‹ einer Textaneignung vgl. Vano: Il nostro autentico Gaio, demnächst in deutscher Übersetzung: Der Gaius der Historischen Rechtsschule. Eine Geschichte der Wissenschaft vom römischen Recht.

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für den Mutterstock, also das, was beim Pfropfen Unterlage genannt wird. Und ganz in Übereinstimmung mit der Zweitrangigkeit des Vaters in der familialen Ordnung (der Vater als zweite Mutter) gehen auch die Botanologen davon aus, dass die Mutter durch das Hinzukommende in ihren charakteristischen Eigenschaften nicht verändert wird17 – so wenig übrigens, wie die Institutionenmatrix in ihrem Inhalt durch die Edition Kaiser Justinian verändert wurde. Diese Mutter eines Pfropfungsverfahrens ist nun alles andere als die Natur schlechthin. Mater wird der Baum offenbar immer dann genannt, wenn etwas mit der Natur gemacht wird. Ivan Illich weiß, dass dieses Wort im Lateinischen den Baum bezeichnet, wenn er zum Bauen verwendet wird – im Gegensatz zum lignum, dem Baum, der als Brennholz dient.18 Das als Mater bezeichnete Ding der Pfropfung denkt den Baum also vom Eingriff aus, von einem Eingriff genauer, der die Natur nachahmt. Der Baum, an dem das Pfropfungsverfahren vollzogen wird, ist mithin kein Natur-Ding, das dann auf die alphabetische Welt übertragen wird. Der Baum der Pfropfung wird nicht als ein organisches Ganzes, sondern als Material zum Bauen und allgemeiner zum Herstellen behandelt. Er wird in die beiden Einheiten Unterlage und Zweig (Pfropfreis) zerlegt, ganz so, wie man einen Text in diskrete Einheiten gliedert, etwa, um ihn anders zusammenzusetzen.19 Man kann daher von dem Baum der Pfropfung in Abgrenzung zum Natur-Ding als von einem Text-Ding sprechen. Anders ausgedrückt: Der Baum kann eine untrennbare Einheit sein – diesen Baum haben die römischen Juristen vor Augen, wenn sie das Eigentum daran regeln (s. Institutionen) oder er kann in Einzelteile zerlegt werden. Diesen gegliederten Baum haben die Gärtner vor Augen, wenn sie das Verfahren des Pfropfens anwenden. Noch vor jeder Generaldifferenzierung in Natur und Kultur wird hier also innerhalb der in der Natur vorkommenden Dinge eine Differenz zwischen Natürlichem und Gemachtem aufgemacht. Das Organische steht bereits innerhalb des biologischen Systems gegen das Technische, Textuelle. Das 19. Jahrhundert wollte dann freilich von dieser Binnendifferenz der Natur in Vorgefundenes und Hergestelltes nichts mehr wissen. Als weigerte man sich zu dieser Zeit, die Gemachtheit einer genealogischen Ordnung anzuerkennen, wurde sie mit einer Metaphorik des Organologischen überzogen und tatsächlich biologisiert. Aus Genealogien wurden Abstammungslehren auf biologischer Grundlage. An die Stelle des Amtes des Vaters trat der biologische Vater.20 Rassismus, so ließe sich die Fort 19 20 17 18

»Veredelung«, in: Meyers Grosses Konversationslexikon, S. 45. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 59. Vgl. dazu Wirth: »Kultur als Pfropfung« in diesem Band. Vgl. Weigel: Genea-Logik, S. 63.

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setzung dieser unheilvollen Geschichte kurzfassen, heißt Leugnung des Text-Dinges, das die genealogische Ordnung formiert. An dieser Stelle, an der die Textualität des Pfropfens so stark betont wird, mag schließlich auch deutlich werden, warum die Techniken der künstlichen Befruchtung nicht unter die Kulturtechnik des Pfropfens subsumiert werden können. Zwar ist oft davon die Rede, dass etwa eine In-Vitro-Fertilisation die Natur nachahme, doch wechselt dieses gentechnologische Verfahren im Unterschied zum Pfropfen nicht das Register. Es überträgt die Natur nicht in die Ordnung des Texts, sondern bleibt in der Natur – mit der manifesten Folge, dass zwischen Vater und Kind identische Gensequenzen bestehen. Und das genau macht den Unterschied aus zwischen Pfropfen und Adoptieren einerseits und gentechnologischen Re­produktionsverfahren andererseits. Diese maßen sich an, die Natur in ihrer eigenen Ordnung zu imitieren und sogar zu übertrumpfen, jene transponieren die Natur in eine Textordnung und lassen sich (wie im Fall der Institutionen) ihre Regelungen und die Grenzen dieser Regelungen von der Natur vorgeben, eben weil sie diese in einem anderen Medium nachahmen. Sie operieren auf der Grundlage einer Unterscheidung in Text und Natur, während die Biotechnologie mit ihrem Imitatio-Argument diese Differenz gerade leugnet. Allgemeiner ausgedrückt: Das Ding, an dem eine Kulturtechnik vollzogen wird, kann ein Text-Ding oder ein Natur-Ding sein. Auch innerhalb der nicht-diskursiven Praktiken kann das Ding derselben also ein Text sein. Wenn die Furchen die Begrenzungen einer Stadt markieren, dann ist dieses Feld ein Text-Ding und nicht etwa eine Metapher dafür. Wenn der Baum in Einzelteile zerlegt und diese neu zusammengesetzt werden, dann ist dieser Baum ebenso ein textuelles Verfahren. Hat man nun also eine alte gärtnerische Kultivierungstechnik als Textpraxis sichtbar gemacht, ist die Argumentationskette geschlossen: Es gibt eine elementare Technik des Schreibens, graphein genannt, die – beim Wort genommen – nicht allein ein Schneiden oder Ritzen meint, sondern auch ein Composite-Verfahren ist. Die botanische Greffe ist ein technisches Verfahren der »ungeschlechtlichen Vermehrungsweise«.21 So wie der korrespondierende Rechtsakt des Adoptierens instituiert die botanische Methode eine Ordnung nach Geschlecht und Geschlechterabfolge und ist doch nicht geschlechtlich. Was im rechtlichen Kontext eine genealogische Fiktion ist, ist im botanischen ein genealogischer Zwangsverbund, konkret, ein mit einem Stück Bast umwickelter Baum, in den an einer bestimmten Stelle ein anderer Zweig eingefügt worden ist. Man kann vielleicht sagen, dass Adoptieren und Pfropfen sich lediglich in der Akzentuierung unterscheiden. 21

»Veredelung«, in: Meyers Grosses Konversationslexikon, S. 45.

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Während die Institutionen das Augenmerk auf den Vater richten, verschiebt sich dieses unter dem Aspekt des Pfropfens auf die Mutter. Es betont die maternale Seite des Adoptionsverfahrens, dort, wo es dem Recht um die Instituierung des amtlichen Vaters geht. Wenn also das Pfropfen eine Ordnung der Abfolge und Dauer, der Vermehrung und Kontinuität hervorbringt, dann ist damit am Schluss dieser Skizze zumindest angedeutet, dass in den Baumtechniken des Pfropfen ein zeitliches Pendant zum Pflügen vorliegt, das historisch betrachtet von ebensolcher Reichweite ist wie die Feldtechniken. Dass die beiden elementaren Kulturtechniken Pflügen und Pfropfen einander nicht etwa ausschließen, sondern ergänzen, kann man schon daran ermessen, dass beide in dem genannten Grundbuch des Rechts, in den Institutionen, praktiziert werden. Der räumliche Akt des Furchen-Ziehens ist in allen Instituierungen von Grenzen wiedererkennbar. Die Institutionen ziehen Grenzen, sie gliedern die Welt, teilen ein, was in ihr vorkommt und bestimmen, dass etwa Mauern als Grenzmarkierungen zu den unantastbaren Dingen, den res sacrae, gehören. Der zeitliche Akt, in dem wie beim Pfropfungsverfahren durch die Kombination von diskreten Einheiten eine familiale Ordnung errichtet wird, findet sich in den Institutionen an den Stellen, an denen Verwandtschaftsbeziehungen und Erbfolgen geregelt werden. Literatur Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Frühe Evaluationsmodelle und die Tradition der Kulturgeschichte, Berlin 2005. Corpus iuris civilis: die Institutionen (Text und Übersetzung), hg. v. Okko Beherends, Heidelberg 1993. Gaius: Institutiones = Die Institutionen des Gaius, hg., übers. und kommentiert von Ulrich Manthe, Darmstadt 2004. Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M. 1991. Legendre, Pierre: Les Enfants du Texte: étude sur la fonction parentale des Etats, Paris 1992. Meyers Grosses Konversationslexikon, 20. Bd., 6. gänzlich neubearbeitete und vermehrte Aufl., Leipzig u. a. 1909. Mommsen, Theodor: Römisches Strafrecht, Leipzig 1899. Nanz, Tobias  /  Bernhard Siegert: »Vorwort«, in: ex machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken, hg. v. dens., Weimar 2006, S. 7−13. Schneider, Manfred: »Die Institution erhören. Echographik des gewöhnlichen Fanatismus«, in: Rechtshistorisches Journal, 17 (1998), S. 311−333. Siegert, Bernhard: […] Auslassungspunkte, Leipzig 2003. Siegert, Bernhard: »Kakographie oder Kommunikation? Verhältnisse zwischen Kulturtechnik und Parasitentum«, in: Archiv für Mediengeschichte, 1 (2001), S. 87−99. Vano, Cristina: Il nostro autentico Gaio, Napoli 2000. Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837−1874, Frankfurt a. M. 2007. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur‑ und Naturwissenschaften, Paderborn 2006. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München 2008. Wirth, Uwe: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung«, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg.  v. Gisela Fehrmann  /  Erika Linz  /  Eckhard Schumacher u. a., Köln 2004, S. 18−33.

Pfropfen in Experimentalsystemen Hans-Jörg Rheinberger

Bevor ich etwas über das Pfropfen in Experimentalsystemen sage und von dort aus am metaphorologischen Faden dieser Tagung weiterspinne, möchte ich zunächst einen Schritt zurückgehen und mich des Sinnes vergewissern, den die biologischen Ausdrücke, die wir hier verwenden – der Tagungstitel nennt ›Pfropfen‹, ›Impfen‹, ›Transplantieren‹, und ich möchte noch hinzufügen: ›Hybridisieren‹ – in ihren angestammten Kontexten angenommen haben, als ebenso viele unterschiedliche Formen biologischer Allomorphie, verbunden mit ebenso vielen Formen biologischer Kulturtechniken. Es  versteht sich dabei von selbst, dass wir es auch hier mit semantischen Verschiebungen zu tun haben, die mit der historischen Abfolge der Techniken zusammenhängen, die das Feld bestimmt haben und bestimmen. Das Pfropfen ist ein Ausdruck, der heute vor allem in der Pomologie, der Obstbaukunde also, zur Bezeichnung einer speziellen Form der vegetativen Vermehrung verwendet wird. Die Pfropftechnik kommt hier insbesondere bei der Vermehrung von Früchten zur Anwendung, die selbst entweder Hybride oder nicht mehr in der Lage sind, sich durch ihre eigenen Samen fortzupflanzen. Sie ist aber auch bei der Anzucht von Zierpflanzen weit verbreitet. Dabei wird auf eine artverwandte Unterlage entweder ein Reis oder eine Knospe der gewünschten Sorte so aufgebracht, dass die beiden Teile, Pfropf und Unterlage, miteinander verwachsen. Das kann durch Anschäften, Anblatten, Einkerben oder auch durch »Okulieren auf das schlafende Auge« geschehen, wie es in einer Kultur des Pfirsichbaumes von 1861 heißt und dort von dem bekannten französischen Pfirsichkultivator Alexis Lepère wie folgt dargestellt wird (Abb. 1). Traditionell spricht man dabei, so auch der eben genannte Text, von ›Veredlung‹. Streng genommen ist dies jedoch irreführend. Denn der ganze Witz des Pfropfens besteht ja gerade darin, dass die beiden so zusammengefügten Teile ihre jeweiligen Eigenschaften bewahren, wie es das folgende Beispiel deutlich macht. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Wurzeln der europäischen Rebsorten von der aus Amerika eingeschleppten Reblaus

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Abb. 1: Lepère: Die Kultur des Pfirsichbaumes, S. 13 und Taf. I, Fig. 12

Phylloxera vastatrix befallen und gingen massenweise ein.1 Durch Pfropfen der Kultursorten auf amerikanische Stämme war am einen Ende die Resistenz der neuen Unterlage gegen den Schädling entscheidend, am anderen Ende gab es aber Früchte, aus denen man weiter den Blauburgunder und den Riesling keltern konnte. Trotz enger Verwachsung an der Schnittstelle behalten also die Teile beim Pfropfen ihre spezifische genetische Identität, auch wenn zum Beispiel die Unterlage durchaus das Wachstum und die Qualität des Pfropfes – kräftiger oder weniger kräftig, weniger oder mehr Früchte tragend – beeinflussen kann. Sie bleiben einander jedoch heteronom. Das Pfropfen ist ein merkwürdiger Anschluss. Die Verwachsung ist vollständig, mitunter sogar unsichtbar. Andererseits vermittelt sie nichts, sondern belässt den Teilen ihre Identität. Und dennoch nützt der Pfropf die Unterlage allein für sein eigenes Wachstum, gibt ihr also nichts zurück. Der Begriff des Impfens wurde, worauf Uwe Wirth verwiesen hat, in früheren Zeiten durchaus und weithin synonym mit dem Begriff des Pfropfens verwendet. Er hat aber im späten 19. Jahrhundert einen entscheidenden Bedeutungswandel durchgemacht. Unter Impfen versteht man heute das gezielte Einbringen eines seiner Virulenz beraubten Krankheitserregers in einen höheren Organismus. Man stimuliert damit sein Immunsystem und schützt ihn so gegen die virulente Form des Keimes. Wir haben es hier also 1



Vgl. Jansen: »Visibility and control in making the Phylloxera in Germany«.



Pfropfen in Experimentalsystemen

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mit dem vorübergehenden Eindringen eines Organismus in einen anderen zu tun, wobei der letztere als Reaktion vergleichsweise dauerhaft eine seiner Eigenschaften ändert: Er wird, wie man sagt, gegenüber zukünftigen Attacken des Krankheitserregers resistent. Dieses Impfen unterscheidet sich wesentlich vom Pfropfen. Beim Rebstock war die Resistenz mit der neuen Wurzel gegeben und nicht vom Pfropfreis induziert. Beim Impfen, so wie es heute praktiziert und verstanden wird, ist genau dies der Fall: Der Impfstoff verändert den Impfling, er macht ihn immun. Unter dem Transplantieren versteht man in der heutigen medizinischen Praxis das Übertragen und Einwachsen eines Teils, typischerweise eines Organs, des einen Individuums auf und in ein anderes. Das Ziel einer Transplantation ist es in der Regel, ein nicht mehr funktionierendes Organ oder Gewebe durch ein funktionierendes, mit dem zu ersetzenden in seinem gesunden Zustand möglichst ähnliches, auszutauschen. Im Idealfall ist dabei der Organismus nach der Transplantation so gut wie nicht verändert, sondern wieder der alte. Man könnte auch sagen, das Transplantieren ist ein Pfropfen nicht mit dem Ziel, ein Teil mit einer neuen Eigenschaft zu übertragen und dauerhaft einwachsen zu lassen, sondern vielmehr, eine alte Eigenschaft durch Austausch eines Teils möglichst identisch zu erhalten. Schließlich möchte ich noch kurz das Hybridisieren als eine biologische Kulturtechnik beschreiben, die sich signifikant von den vorhergehenden unterscheidet. Beim Hybridisieren oder Bastardisieren werden zwei in ihren Eigenschaften differierende, sich aber dennoch sexuell fortpflanzende Organismen miteinander gekreuzt. Das Ziel ist dabei, im hybriden Organismus die Eigenschaften der beiden Elternteile zu verbinden und damit, wenn es sich um mehrere, verschiedene Merkmale handelt, einen Organismus zu schaffen, der sich qualitativ von jedem der beiden Elternteile unterscheidet. Beim Hybridisieren würde es also Sinn machen, von Veredlung zu sprechen. Man denke etwa an einen durch Kreuzung entstandenen Apfel, der nicht nur gut schmeckt und das richtige Verhältnis von Süße und Säure hat, sondern auch noch lange aufbewahrt werden kann. Alle hier beschriebenen biologischen Kulturtechniken stellen sich als Manipulationen dar, bei denen zwischen zwei Organismen ein Austausch oder eine neue Verbindung hergestellt wird. Sie sind also in gewissem Sinn ›Operationen der Propagation‹ und ›Operationen des Übergangs‹. Ich benutze hier Ausdrücke, die Isabelle Stengers zur Beschreibung und zur Analyse von begrifflichen Transaktionen innerhalb eines Wissensgebietes und von Begriffswanderungen zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Wissenschaftsfeldern verwendet hat.2 In noch etwas generellerer 2



Vgl. Stengers: »La propagation des concepts«.

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Form hat Jacques Derrida bei Verpflanzungen von Diskurselementen von einem diskursiven Kontext in einen anderen von »Formen der Iteration« gesprochen,3 und auch er hat im Rückgriff auf die biologische Sprachwelt Begriffe wie den der »Dissemination« und des »Pfropfens« verwendet,4 um jenes Spiel mit dem Heterokliten, dem Heteronomen und dem Heterogenen zu bezeichnen, das seiner Meinung nach der Kulturtechnik der Schrift als die ihr eigene Möglichkeit einer unendlichen Fortschreibung innewohnt. »Schreiben meint Pfropfen«, heißt es in »La dissémination«, wo das Pfropfen auch mit dem Anbringen einer »überwendigen Naht« (surjet) in Verbindung gebracht wird.5 In meiner eigenen Arbeit über die Artikulation und die Dynamik von Experimentalsystemen habe auch ich sowohl den Begriff der Hybridisierung als auch den Begriff der Pfropfung verwendet. Dabei habe ich versucht, die Unterscheidung zu beachten, die zwischen den beiden Techniken im biologischen Bereich besteht. Hier geht es um eine ganz andere, besondere Form von Kulturtechniken im Bereich der Wissensproduktion, die man als Experimentaltechniken bezeichnen kann. Dabei handelt es sich weniger um das, was man üblicherweise als Methoden bezeichnet; es geht vielmehr um die Verzahnung von heterokliten Elementen zu Ensembles, die als Experimentalsysteme funktionieren können. Claude Lévi-Strauss sah es als das Charakteristikum des mythischen Denkens an, aus einem Repertoire zu schöpfen, »dessen Komposition heteroklit«6 ist. Er sah es auch im Basteln am Werk. Meine These ist, dass ein Brikolieren im Innersten des wissenschaftlichen Forschungsprozesses am Werk ist.7 Und das Problem ist, ein Vokabular zu finden, das es erlaubt, es in seinen Artikulationen zu erfassen und diese in ihrer Dynamik zu charakterisieren. In meiner Studie über Experimentalsysteme und epistemische Dinge habe ich Experimentalsysteme definiert als die kleinsten, funktionsfähigen Einheiten der modernen empirischen Forschung, die zudem in einem ständigen Prozess der differentiellen Reproduktion begriffen sind – auch das übrigens ein Begriff, der auf die Lebenswissenschaften Bezug nimmt, der aber auch in der Ökonomie eine spezielle Bedeutung erlangt hat. Denn ein solches System muss sich ständig differenzieren, wenn es ein Generator von neuen Erkenntnissen bleiben soll. Mit Derrida könnte man allgemeiner und neutraler sagen, um Differenzierung nicht gleich im Sinne einer Komplexitätszunahme deuten zu müssen: Es muss beständig differieren, es 5 6 7 3 4

Derrida: »Signature événement contexte«, S. 389. Derrida: »La dissémination«, S. 395−398. Ebd., S. 395. Lévi-Strauss: La pensée sauvage, S. 26. Vgl. Rheinberger: »Die Wissenschaft des Konkreten«.



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muss permanent iteriert werden. Sobald es sich auf sich selbst einschwingt, ist es nur noch zur Demonstration seiner selbst – im Test – fähig und hat seine Forschungsfunktion verloren. Um einem solchen Einschwingen und damit dem Ausklinken aus der Forschungsfront zuvorzukommen, wird an den technischen Teilen eines Experimentalsystems ständig gearbeitet und gebastelt. Experimentalsysteme kreisen um epistemische Dinge, um Konturen annehmende wissenschaftliche Objekte. An die technischen Bedingungen, unter denen ein epistemisches Objekt Gestalt anzunehmen vermag, können neue Elemente angeflanscht werden. Wenn es sich dabei nicht nur um die Modifizierung oder die inkrementelle Veränderung eines bereits existierenden Elements handelt, sondern um die Einführung eines qualitativ neuen Apparates in das System, kann man das durchaus mit dem Vorgang des Pfropfens vergleichen und mit diesem Ausdruck belegen. Wir haben es hier nicht mit einem organischen, sondern mit einem epistemisch-technischen Ensemble zu tun, das aber, worauf gleich noch näher einzugehen sein wird, in biologischen Experimentalsystemen auf charakteristische Weise mit Organischem in Berührung steht. Experimentalsystemen können also neue technische Bedingungen aufgepfropft werden. Nur um zwei Beispiele zu nennen: In das Experimentalsystem der In-Vitro-Proteinsynthese etwa, dessen Geschichte ich ausführlich in Experimentalsysteme und epistemische Dinge beschrieben habe, wurde um die Mitte der 1950er Jahre die Hochgeschwindigkeits-Zentrifuge eingeführt.8 Sie erlaubte es, ein neues Fraktionierungsmuster des untersuchten Zellsaftes zu produzieren, das innerhalb von wenigen Jahren seinerseits wieder zur Identifizierung von bisher unbekannten molekularen Komponenten führte, die im Mechanismus der Eiweißherstellung eine Rolle spielen. In Abbildung 2 sieht man in historischen Schritten den Sprung, den die Einführung dieser Technik in der Differenzierung der Komponenten des Systems aus der Perspektive des epistemischen Objekts bewirkte. Hintergrund für die Differenzierung der Kästen mit den molekularen Komponenten ist die Verfeinerung der Fraktionen. Bis zur Stufe II wurde die Standardzentrifuge eingesetzt, ab Stufe III die Ultrazentrifuge. Man sieht hier, wie eine apparative Pfropfung in die iterative Differenzierung eines Wissensobjektes eingreift und es transformiert. Ich will noch kurz ein zweites Beispiel anführen: In das auf der Mehlmotte Ephestia kühniella beruhende System zur Untersuchung physiologischer Genwirkungen von Alfred Kühn, das ich in der Epistemologie des Konkreten ausführlich beschrieben habe,9 wurde in 8 9



Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Kapitel 5. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, Kapitel 6 »Ephestia: Alfred Kühns experimenteller Entwurf einer entwicklungsphysiologischen Genetik, 1924−1945«.

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Abb. 2: Stadien der Zerlegung des Systems zum zellfreien Aminosäureeinbau auf der Basis von Rattenleber. Nach: Hoagland: »On an enzymatic reaction«, Fig. 1.

den späten 1930er Jahren ein biochemisches Analyseverfahren integriert. Es erlaubte der Gruppe um Kühn, den bereits vorher identifizierten und zunächst als Hormon angesprochenen Genwirkstoff molekular als das Derivat einer Aminosäure zu charakterisieren und zugleich eine für die zukünftige Forschung grundlegende Unterscheidung zwischen Genwirkketten und Substratwirkketten einzuführen. Auch hier sieht man wieder, wie sich eine technische Pfropfung in der iterativen Differenzierung des Untersuchungsobjektes niederschlägt. Der entscheidende Sprung von einer eindimensionalen, linearen Darstellung zu einer zweidimensionalen, vernetzten Darstellung ergab sich wiederum aus einer technischen Pfropfung. Diese enge Kopplung ist charakteristisch für den modernen Forschungsprozess. Der Pfropf muss also nicht nur das technische System erweitern, er muss auch ein für ihn charakteristisches Ergebnis liefern. Andernfalls wäre er den Aufwand nicht wert. Genau das wird ja auch vom botanischen Pfropfreis erwartet. Hier kommt nun noch ein weiterer Begriff ins Spiel, der im Exposé zu dieser Tagung ebenfalls angesprochen wurde. Es ist der Begriff der Schnittstelle. Er nimmt im Zusammenhang mit dem Pfropfen in Experimental-



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Abb. 3: Reaktionsschema der Beziehung zwischen Gen-Wirkketten und Substratketten. Letzte Stufe nach: Kühn: »Über eine Gen-Wirkkette«, S. 255.

systemen eine doppelte Form an. Zum einen geht es um die Schnittstelle zwischen der aufgepfropften neuen Technik und den bereits vorhandenen, das Experimentalsystem bestimmenden technischen Bedingungen. Der Pfropf muss an das technische System anschlussfähig sein. Er muss mit ihm verdrahtet werden können. Die Spuren und Daten, die mit seiner Hilfe erzeugt werden, müssen auf die bereits existierenden Daten und Spuren bezogen werden können. Andernfalls ist die Pfropfung als misslungen zu betrachten, das System hat den Pfropf abgewiesen. Zum anderen ist da die Schnittstelle zwischen dem neuen Instrument und dem epistemischen Objekt. Auch hier muss produktive Anschlussfähigkeit oder Kompatibilität gegeben sein oder geschaffen werden. Bei biologischen Forschungsobjekten ist dieser Anschluss in der Regel der kritische Punkt, an dem sich der Einsatz einer neuen Technologie entscheidet. Es kommt nicht selten vor, dass die Gestaltung dieser Schnittstelle sich selbst zu einem Forschungsfeld ausweitet. Die Herstellung lichtmikroskopischer Präparate in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder die Herstellung elektro-

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nenmikroskopischer Präparate um die Mitte des 20. Jahrhunderts sind gute Beispiele für einen solchen Ausgriff, bei dem gar nicht mehr so sehr die Physik des Instruments, sondern vielmehr die Schnittstellenforschung zum bestimmenden Moment für die Ausschöpfung der Möglichkeiten einer neuen Technologie wird. Was hier zu bewältigen ist, ist nichts weniger als die Schaffung einer sozusagen leitfähigen Berührungsfläche oder eines Berührungspunktes zwischen einem Organismus – oder einem Teil desselben – und einem technischen Apparat, und zwar so, dass der Apparat zum Auskunftgeber über das epistemische Objekt werden kann, auf das sich sein analytisches Differenzierungspotential richtet. Solche Schnittstellen können ganz unterschiedliche Formen annehmen, wie ich in der Epistemologie des Konkreten gezeigt habe.10 Beim physiologischen Experiment am lebenden Tier kann es wohl etwa ein mit Quecksilber gefüllter Schlauch sein, bei der Analyse von biologischen Makromolekülen durch die Röntgenstrukturanalyse nimmt die Schnittstelle hingegen die Gestalt eines organischen Kristalls an. Eine Typologie solcher Schnittstellen wäre aufschlussreich, ist aber erst noch zu erstellen. Ich möchte nun noch kurz auf eine weitere Bewegungs‑ und Artikulationsform von Experimentalsystemen zu sprechen kommen, die ich als Hybridisierung bezeichnet habe. Wenn sich das Pfropfen innerhalb des technischen Rahmens eines einzelnen, sich entwickelnden Experimentalsystems bewegt, steht das Hybridisieren für den Vorgang der Fusionierung zweier ganzer Experimentalsysteme. Komplementär dazu gibt es auch den Vorgang der Verzweigung eines einzelnen Experimentalsystems, seine Aufspaltung in zwei für sich stehende Einheiten zur Darstellung genügend weit voneinander unterschiedener epistemischer Objekte. Nicht diese letztere, sondern die Hybridisierung soll aber hier anhand eines Beispiels noch etwas näher betrachtet werden. Bei dieser kommt es meist zur Ausbildung eines neuen, bis dahin nicht existierenden wissenschaftlichen Objekts. Nicht selten führt die Hybridisierung von Experimentalsystemen zur Eröffnung ganz neuer Forschungsfelder. In der Zusammenführung bisher getrennter Forschungstrajektorien durch Fusionierung von Experimentalsystemen liegt wahrscheinlich überhaupt eine der reichsten Quellen wissenschaftlicher Innovation. Ein gutes Beispiel für einen solchen Hybridisierungsvorgang ist die Fusionierung von Jacques Monods Experimentalsystem zur Untersuchung der Zuckerstoffwechsel-Regulation am Beispiel des bakteriellen LaktoseMetabolismus und von François Jacobs System zur Untersuchung der

10

Vgl. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, Kapitel 11 »Schnittstellen«.



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Genübertragung bei der sexuellen Konjugation von Bakterien.11 Beide arbeiteten in den 1950er Jahren an der gleichen Institution, dem Institut Pasteur in Paris, aber an ganz unterschiedlichen Projekten. Monod interessierte, wie Bakterien physiologisch auf unterschiedliche Nahrungsangebote reagierten und dabei notwendige Enzyme produzierten oder die Produktion überflüssiger Enzyme einstellten. Jacob hatte sich in das Phänomen der Lysogenie vertieft, bei dem Viren, die ein Bakterium befallen hatten, über viele Generationen quasi schlafend weitergegeben werden konnten, bevor sie dann plötzlich virulent wurden und die befallene Bakterienzelle zerstörten. Der Zusammenschluss der Systeme wurde dadurch möglich, dass beide mit dem gleichen Modellorganismus, dem Bakterium Escherichia coli, arbeiteten. Auch dieser Geschichte habe ich in der Epistemologie des Konkreten ein Kapitel gewidmet.12 Durch differentielle Genübertragung zwischen genetisch verschieden konstruierten Bakterienstämmen gelang es Monod und Jacob in Zusammenarbeit mit Arthur Pardee aus Berkeley zwischen 1958 und 1960, die beim Laktose-Abbau beteiligten Gene auf dem Bakterienchromosom zu kartieren und ein Modell ihrer Regulierung zu entwerfen. Sie gelangten dabei aber auch zu dem für die Begründung der molekularen Genetik entscheidenden Befund, dass die Genexpression allgemein durch ein kurzlebiges Zwischenprodukt vermittelt wurde, eine Ribonukleinsäure, die bald als Messenger-RNA bekannt wurde und in die Lehrbücher Eingang fand. So betraten als Ergebnis dieser Hybridisierung zweier Experimentalsysteme gleich zwei neue epistemische Objekte die Bühne der sich damals stürmisch entwickelnden Molekularbiologie: das Operon als Einheit der Genregulation und die Boten-RNA als Vermittler und als Zwischenprodukt der Genexpression. In der bereits erwähnten Arbeit habe ich auch gezeigt, dass sich der Hybridisierung der Experimentalsysteme zugleich eine Hybridisierung des Experimentaldiskurses überlagerte. Diese hybride Sprache wiederum erlaubte mit ihrer Mehrschichtigkeit die Erkundung neuer Modulationen bei der Fortschreibung des neuen Experimentalystems. Mir ist es im zweiten Teil dieser kurzen Ausführungen um zwei Artikulationsformen gegangen, die bei der Iterierung von Experimentalsystemen eine Rolle spielen. Die eine habe ich als Pfropfung angesprochen; sie betrifft die Erweiterung von Experimentalsystemen um neue Techniken. Die andere habe ich Hybridisierung genannt; sie betrifft die Fusionierung von vormals getrennten Experimentalsystemen. Es geht bei dieser Charakteri11 12

Für einen Überblick vgl. Morange: Histoire de la biologie moléculaire, insb. Kapitel 14. Vgl. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, Kapitel 10, »Regulation, Information, Sprache – Molekulargenetische Konzepte in François Jacobs Schriften«.

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sierung weniger darum, ein biologisches Vokabular in die Beschreibung der Dynamik der modernen empirischen Forschung einzuführen, als vielmehr darauf aufmerksam zu machen, dass es hier wie dort um Kulturtechniken geht. Im Forschungszusammenhang sind es keine Kulturtechniken biologischer Reproduktion, sondern vielmehr Kulturtechniken der Erkenntnisproduktion. Als solche sind sie zumindest in den Biowissenschaften zwar auch zur Kultur und Manipulation von biologischem Material entwickelt. Sie besitzen aber als ebenso viele Verfahren des Experiments ihr eigenes iterierbares Potential. Literatur Derrida, Jacques: »La dissémination«, in: ders.: La dissémination, Paris 1972, S. 319−408. Derrida, Jacques: »Signature événement contexte«, in: ders.: Marges de la Philosophie, Paris 1972, S. 365−393. Hoagland, Mahlon B.: »On an enzymatic reaction between amino acids and nucleic acid and its possible role in protein synthesis«, in: Recueil des Travaux Chimiques des Pays-Bas et dela Belgique, 77 (1958), S. 623−633. Jansen, Sarah: »An American insect in Imperial Germany: Visibility and control in making the Phylloxera in Germany, 1870−1914«, in: Science in Context, 13 (2000), S. 31−70. Kühn, Alfred: »Über eine Gen-Wirkkette der Pigmentbildung bei Insekten«, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Mathematisch-Physikalische Klasse, Göttingen 1941, S. 231−261. Lepère, Alexis: Die Kultur des Pfirsichbaumes, Weimar 1861. Lévi-Strauss, Claude: La pensée sauvage, Paris 1962. Morange, Michel: Histoire de la biologie moléculaire. La Découverte, Paris 1994. Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006. Rheinberger, Hans-Jörg: »Die Wissenschaft des Konkreten«, in: ders.: Iterationen, Berlin 2005, S. 101−128. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Stengers, Isabelle: »La propagation des concepts«, in: D’une science à l’autre. Des concepts nomades, hg. v. ders., Paris 1987, S. 9−26.

Fremdkörper. Fragmente einer Theorie des Eindringlings Emmanuel Alloa

Szene I. Inokulation Mit plastischen Worten schildert Ovid im ersten Buch seiner Metamorphosen den Tod vom hundertäugigen Argus, der, mit der Überwachung der Nymphe Io beauftragt, Jupiters außerehelichen Eskapaden unweigerlich im Weg stehen musste. Berühmt sind die Listen des vom Göttervater entsandten Merkur, der mit listigen Erzählungen den Argus in den Schlaf lullt und schließlich, wie Ovid schreibt, mit dem Schwert dort einschlägt »wo das Haupt sich schließt an den Hals«.1 Der Leib des Argus stürzt den Felsen herab und Ovid lässt die Ehegattin Juno sprechen, die den vieläugigen Wächter mit der Aufgabe betraut hatte: »Argos, du liegst, und das Licht, das so viel Leuchten erfüllte, / Ist dir verlöscht, und es hüllt ein Dunkel das Hundert von Augen«.2 Während diese Szene in Kunst und Literatur oft kommentiert wurde, kam die darauffolgende eher selten zur Darstellung. Ovid beschreibt dort, wie Juno die Augen des leblosen Leibwächters einzeln heraussticht und sie einem Pfau einsetzt, dessen Gefieder seitdem bis heute mit einem Augenkleid geschmückt ist.3 In dem Kölner Gemälde Juno und Argus (Abb. 1) hat Rubens diese Szene festgehalten. Unter Mithilfe der in Blau gewandten Göttin Iris werden die Augen mit einer Pinzette fein säuberlich herausgenommen und in ein Tuch gewickelt. Auf der linken Bildhälfte sieht man die Pfauen nach der gelungenen Verpflanzungsoperation, die von lieblichen Putten mit Federn gestreichelt werden, fast als gälte es, mit der penna, der flaumigen Feder, die Gewaltsamkeit des chirurgischen Eingriffes, des Einschneidens durch das Stilett (stylus) bzw. durch den Griffel (graphium) abzufedern. Mit diesem frühen Beispiel einer unfallbedingten Organentnahme kann man zugleich auch vom ersten Exempel einer erfolgreich geglückten Xeno­ 3 1 2

Ovid: Metamorphosen, Buch I, 718. Ebd., 720f. Ebd., 722f.

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Abb. 1: Peter Paul Rubens: Juno and Argus (ca. 1611), Öl auf Leinwand, 249 x 296 cm, Wallraf-Richartz Museum, Köln.

transplantation sprechen: Der Organwechsel findet hier nicht zwischen artgleichen Individuen statt (die Immunologen bezeichnen das heute als Allotransplantation) und ist auch nicht nur provisorisch wie beim Herumreichen des alleinigen Auges, das sich die mythischen drei Graien reihum in die leeren Augenhöhlen setzten. Das Augenimplantat im Pfauenkleid ist dauerhaft (Augustinus war sogar davon überzeugt, der »göttliche Vogel« werde dadurch unsterblich). In diesem Einsetzen der Augen, in dieser buchstäblichen ›In-Okulation‹ ist etwas von der ursprünglichen Wirkkraft, wenn auch abgeschwächt, noch enthalten. Obwohl der Körper des Spenders hingerafft wurde, ›gelöscht‹ wurde (extinctum schreibt Ovid) wie sein Augenlicht auch, so lebt die Regekraft seiner oculi im fremden – und in diesem Fall auch noch artfremden – Körper fort. Wenn man Roger Caillois folgt, dessen Méduse & Cie nun auch auf Deutsch vorliegt, können die Pfauenaugen daher auf keinen darwinistischen Funktionalismus reduziert werden, ebenso wenig aber auf eine interesselose Schau eines nachkantischen Ästheten.4 So wie die Schrecken erregenden Flügelaugen in der Insektenwelt müssen die Pfauenaugen in ihrer gespenstisch anmutenden Lebendigkeit hingenommen werden. Ganz wie die prophylaktische Inokulation den lebendigen Organismus gegen äußere Bedrohungen immunisieren soll, so spielt der ›Augen-Einsatz‹ im Pfauenmythos eine schützende Rolle, die der apotropäischen Funktion des Medusa-Hauptes so fremd nicht ist. 4



Caillois: Méduse & Cie., S. 60−72.



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Im Volksglauben kamen die Pfauenaugen entsprechend oft zum Einsatz, etwa in Süditalien, wo den Kindern ein Amulett aus poliertem Malachit umgehängt wurde, das den sprechenden Namen pietra del pavone (›Pfauen­stein‹) trug und die Einflüsse des malocchio bzw. des ›bösen Blicks‹ abwenden sollte. Die Pfauenfeder hingegen galt als gefährlich, weil sie den bösen Blick geradezu potenziert.5 Gift und Gegengift, Gefahrenherd und Schutzinstanz, liegen hier wieder einmal bedrohlich nah beieinander. Die Inokulation bestünde also in einem kontrollierten Einfügen eines lebensbedrohlichen Wirkstoffes in den Körper selbst, um eine konstitutive Schwäche auszugleichen. Um einen unvollkommenen Körper gegen außen hin zu immunisieren, aber auch nach innen hin zu vervollkommnen (implere ist das Verb, das der Dichter hier benutzt). Doch haben die mythologische In-Okulation der Argusaugen und das Inokulieren des Impfstoffes, über eine offenkundige semantische Nähe hinaus, tatsächlich etwas gemeinsam? Wird hier nicht vorschnell das immunologische Verfahren metaphorisiert und auf andere Bereiche übertragen? Diese Vorsicht scheint zunächst geboten. Wirft man allerdings einen Blick auf die Wortgeschichte, dann stellt sich bald heraus, dass es sich gerade umgekehrt verhält (bzw. dass, je tiefer man in die Wortgeschichte eintaucht, immer undeutlicher wird, welche Bedeutung ursprünglich und welche übertragen war). Laut dem Grimmschen Wörterbuch kam das ›Inokulieren‹ oder, alternativ, das ›Impfen‹ erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mit den Anfängen der Immunologie zu seinem medizinischen Sinn. Das Wort selbst ist der Botanik entlehnt: Unter impfon kennt schon das Althochdeutsche das Aufpfropfen von Fruchtbäumen und Weinstöcken. Erst nachdem das Inokulieren in der Epidemiologie zu kursieren beginnt, wird der Begriff auch in der Gartenkunde wieder eingeführt und bezeichnet nunmehr das Veredeln von Nutz‑ und Zierpflanzen, die die römischen Bauern unter dem Ausdruck der inoculatio fassten. In-oculare ist dort der terminus technicus für das Einsetzen von Knospen. Und oculi sind dabei nichts anderes als ›kleine Augen‹, womit der Begriff der Inokulation schon ursprünglich ein übertragener wäre. Erster Cut.

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Zum bösen Blick und anderen magischen Praktiken in der Populärkultur vgl.  die Feldstudien von Ernesto de Martino: Katholizismus, Magie, Aufklärung. In abgeschwächterer Form lebt dieser Volksglauben noch in den heutigen westeuropäischen Sprachen fort, etwa wenn das Französische  –  wie Gaston Bachelard zu bedenken gibt  –  für das Pfauenauge auch den Namen miroir bzw. Spiegel führt (vgl. Bachelard: L’eau et les rêves, S. 42).

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Szene II. Florenz, San Marco. Die karge Wand seines Dominikanerklosters war es, die Fra Angelico wählte, um eine Legende aus der Vita der Heiligen Kosmas und Damian, diesen zwei Wunderheilern und Märtyrern aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert, ins florentinische Quattrocento zu verpflanzen. Zum Vorbild für diese Übertragung nahm sich der Maler die Legenda aurea des Jakobus de Voragine, der selbst bereits die historischen Geschehnisse von einer kleinasiatischen Provinzstadt ins imperiale Rom versetzte. Der Diakon Justinian, der in der vom Papst Felix IV. errichteten Märtyrerkirche für die zwei Schutzheiligen diente, wurde plötzlich von einem Krebsgeschwür befallen, das sein Bein angriff. Dargestellt (Abb. 2) ist der Diakon, wie er in einer Zelle auf einem hölzernen Krankenbett aufgebahrt und im Schlaf versunken ist. Die Tür jedoch gähnt offen und die Vorhänge, die ihn vor Licht und fremden Blicken schützen sollen, sind zurückgeschlagen. Kosmos und Damian, die zwei Heiligen, sind an der Krankenstätte selbst erschienen (die Wolkenschlieren unter ihren Mänteln zeigen an, dass es sich hier nicht um gewöhnliche Sterbliche handelt). Das gangrenöse, abgestorbene Bein, wird in einem chirurgischen Eingriff entfernt und durch ein gesundes ersetzt. Es lohnt sich allerdings, die Farbsemantik etwas näher zu untersuchen: Die weiße Tempera deutet in dem Bild wie auch sonst klassischerweise auf die Reinheit hin, von den Laken über die Mantelschläge der zwei Wunderheiler bis hin zu den lazarettähnlichen Vorhängen. Inmitten dieser schon fast klinischen Blässe sticht das schwarze Bein des Diakons besonders störend hervor. Alles, von der Bildinszenierung bis zur kulturellen Sättigung der Farbe Schwarz, scheint hier nahe zu legen, dass dieser kohlefarbene Fortsatz als das krebsbefallene Körperglied und somit als Anzeichen des Todes gedeutet werden muss. Es verhält sich allerdings komplizierter: Die thaumaturgische Wirkmacht der beiden Märtyrer besteht nicht in einem bloßen Austreiben des eindringenden Übels und in einer lazarushaften Auferstehung des vormalig Kranken. Die compensatio, die Kosmas und Damian vollstrecken, führt über eine komplexe Implantation eines anderen, neuen lebendigen Organs, das sich der letalen Wirkung des Geschwürs entgegenstellt. Die Legenda aurea, auf die sich Angelico bezieht, berichtet, wie die beiden Heilbrüder das Bein amputieren.6 Nachdem – wie sich de Voragine ausdrückt – das »faule Fleisch« ausgeschnitten wurde, bleibt ein »Loch« zurück. Kosmas und Damian begeben sich daraufhin zum Friedhof von Sankt Peter in 6



de Voragine: Legenda aurea, S. 739f.



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Abb. 2: Fra Angelico: Die Heilung des Diakons Justinian durch die Hl. Kosmos und Damian, (ca. 1438−40), Tempera auf Holz, 37 x 45 cm, San Marco-Kloster, Florenz.

Ketten, wo, wie der eine der beiden zu wissen glaubt, noch am selben Tage ein »Mohr« begraben wurde. Dem schwarzen Sklaven wird das »noch frische« rechte Bein entnommen und dem noch immer schlafenden Justinian eingesetzt, der Leiche aber das kranke Bein des Diakons. Die Geschichte ist nun in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten Mal kommt hier auf prominente Weise zum Ausdruck, dass die Wiederherstellung der leiblichen Integrität nicht allein über die Austreibung von Miasmen und bösen Geistern gelingt, sondern über das dezidierte Einsetzen eines Fremdkörpers. Die Fremdheit wird hierbei nicht verharmlost, sondern nachgerade narrativ dramatisiert: Das Implantat stammt von einem Sklaven, der selbst bereits buchstäblich schon mit einem Fuß im Grabe stand und dem der Tod sozusagen bereits schon eingeflößt worden war. Angelico unterstreicht ferner, allen chromatischen Konventionen des Abendlandes zum Trotz, den Gegensatz zwischen dem Weiß, das hier gesteigert zur Farbe der Krankheit, des siechenden Fleisches und letztlich zur Farbe des Todes wird, und dem Schwarz, das gleich doppelt aus der Ferne kommt (einmal vom Fremdhäutigen und ein andermal von der Schwelle

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zum Jenseits) und hier das lebensrettende Moment symbolisiert. Damit greift der Maler ein chirurgisches Verfahren vorweg, das erst Jahrhunderte später realiter möglich werden sollte. Selbst der Anatom und Pionier der Reparationschirurgie Gaspare Tagliacozzi, der im 16. Jahrhundert in Bologna wirkte, kam über das Einsetzen von körpereigenen Geweben an den beschädigten Stellen, dem was man heute als Autotransplantation bezeichnet, nie hinaus. Fra Angelico unterstreicht hingegen durch eine unmissverständliche Farbdramaturgie, dass es sich hier um das Eindringen eines fremden (und nach den damaligen Vorstellungen sogar: artfremden) Körpers handelt. Bemerkenswert (und bislang unterbelichtet geblieben) ist die Tatsache, dass die Heiligen nicht nur dem Diakon das Mohrenbein einpflanzten, sondern anschließend auch der Leiche das Bein des Kranken wieder einsetzten. Fast als gälte es, über den Tod hinweg, zumindest die äußere Integrität des menschlichen Körpers zu wahren. Der Name Kosmas ist mit dieser Vorstellung gleich doppelt verbunden: Der Eigenname leitet sich von kosmos (›die Ordnung‹) ab, und bezeichnet hier die Fähigkeit des Heiligen, die kosmische Ordnung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Zum anderen aber ist diese innere Ordnung auch immer stets eine äußere: Der Wunderheilige beherrscht die Kunst der kosmetikè, einer Anordnung und Verschönerung des körperlichen Aussehens.7 Nach diesem nächtlichen Eingriff verschwinden die Tiefenkosmetiker wieder in ihr tiefkosmisches Nirvana und der Diakon wacht aus seinem postoperatorischen Schlaf auf. Noch ist er allerdings in das Dunkel seines Krankenzimmers getaucht. Der Schmerz ist verschwunden, heißt es in der Legenda aurea, und Justinian greift sich verwirrt an den Schenkel, der wieder da ist wie eh und je. Um sich Gewissheit zu verschaffen, zündet der Diakon eine Kerze an und sieht, wie aus seinem Rumpf ein dunkelfarbiges Bein ragt. So »hub er an [zu] zweifeln« heißt es in der Übersetzung von Richard Benz, »ob er es selber wäre oder ein anderer«.8 Die JustinianLegende geht bei de Voragine noch ein wenig weiter, darf aber für unsere Zwecke wohl hier abgebrochen werden. Den spätmodernen Leser mag hier ein anachronistisches Gefühl überkommen. In der Verwunderung des Diakons kündigt sich zum einen die neuzeitliche Entdeckung des Individuums an, zum anderen klingt darin bereits die greffologische Variante vom rimbaudschen Je est un autre an, die posttraumatische Vorwegnahme

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Der Autor der Legenda aurea macht selbst darauf aufmerksam: »Cosmas kommt von cosmos, das ist: Bild, oder Zier«. Ebd., S. 737. Ebd., S. 740.



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eines bereits brüchig gewordenen Ichs und der verstörenden Präsenz eines Fremden in uns selbst. Zweiter Cut.

Szene III. 17 Uhr. Tag 5. Die Szene wird von der Seite betrachtet. Der Patient liegt auf seinem halb aufgerichteten Krankenhausbett. Röhren, Nähte und Schläuche überziehen seinen Körper vom Kopf bis zum Unterleib. Auf der anderen Seite des Bettes beobachten zwei maskierte Männer in Chirurgenkleidung den Bildschirm eines tragbaren Scanners. Der ältere Arzt weist den Lehrling ein und gibt ihm rasche Erklärungen, während das Gerät in Kreisbewegungen über die rechte Körperhälfte unterhalb der Rippen und oberhalb des Magens fährt. Der Arzt im Praktikum hört konzentriert zu und nickt mehrmals. Der Bildschirm ist so gedreht, dass der Patient ihn auch sehen kann. Es ist Tag 5. Ich wachte nach der OP vor fünf Tagen mit der Leber eines Unbekannten auf.9

Der Autor dieser Zeilen ist Francisco Varela, der chilenische Neurobiologe und Systemtheoretiker, der gemeinsam mit Humberto Maturana den Begriff der Autopoiesis in Umlauf brachte. Im Gegensatz zu abhängigen, allopoietischen Systemen sind autopoietische Systeme der Definition nach Systeme, die »Elemente, aus denen sie bestehen, in einem Produktionsnetzwerk wiederum mit Hilfe der Elemente herstellen, aus denen sie bestehen«.10 Ein Organismus (denn das ist, allen Übertragungsversuchen in die Sozialwissenschaften zum Trotz, der Ausgangspunkt der zwei Biologen) stellt dann aus seinen eigenen Bestandteilen die Mittel oder Organe her, die er zu seiner Subsistenz braucht, kurzum: Ein Organismus stellt sich selbst her und zugleich ein Selbst, das sich differentiell von seiner Umwelt abgesetzt. Die eingangs ausgeführten Sätze stammen aus einem Denktagebuch, an dem Varela während seiner schweren Krankheit Ende der 90er Jahre schrieb. Die bis heute unheilbare Hepatitis C bewirkte bei Varela einen bösartigen Lebertumor und die Ärzte hatten ihn bereits auf das Schlimmste vorbereitet, als sich im letzten Augenblick ein histokompatibler Spender fand und eine neue Leber eingesetzt werden konnte. Das Implantat wurde von Körper angenommen und Varela lebte noch einige Jahre komplikationsfrei, bis der Tumor wieder ausbrach und der Biologe schließlich im Mai 2001 verstarb. Das Denktagebuch erschien im Herbst 2001 unter dem Titel Intimate Distances in einer englischen Zeitschrift, 2006, leicht gekürzt, in deutscher Übersetzung. Varela: Intime Distanzen. [Die deutsche Übersetzung ist nur als PDF-Version in der OnlineZeitschrift ATOPIA (Themenschwerpunkt greffe/graft/graphium) verfügbar.] 10 Maturana: Erkennen, S. 58. 9



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Das Implantat eines Fremdkörpers nimmt Varela zum Anlass, um über die Grundfrage seiner Theorie der autopoietischen Systeme nachzudenken, nämlich über die Zuschreibungsmöglichkeit eines autonomen ›Selbst‹. Aus eigener Kraft kann der Organismus sich nicht mehr wiederherstellen. Die Paradoxie der Transplantation besteht mithin darin, dass sich eine Identität nur aufrechterhalten lassen kann, indem der Prozess der Selbstkonstitution angehalten wird. Der eindringende Fremdkörper kann nur dann den Verlust eines Organs kompensieren, wenn er als Bestandteil des Eigenen angenommen und vom Immunsystem nicht abgestoßen wird. Der Eingriff ist Varela zufolge somit bereits ein biotechnologisches Hybrid: Nicht allein das Implantat wird eingesetzt, sondern auch die chemischen Immunsuppressoren, die die Abwehrkräfte abschwächen. Mit Varela: »Die Körpertechnologien, die den Abstoß verhindern sollen, sind fast schon absurd einfach: sie halten den anhaltenden Prozess der Identität auf […]«.11 Durch die Immunsuppression steigt die Chance, dass das Implantat angenommen wird, die Anfälligkeit für andere Infektionen aber zugleich auch: Der Abbau der retroaktiven Kräfte muss andererseits von einer gezielten Immunstimulation begleitet werden. »Ein permanentes Paradox« schreibt Varela: »Immunsuppression, um den Abstoß zu verhindern, Immunstimulation, um den Virus zu vermeiden. Eine sprechende Metonymie meiner Lage«.12 Die technische Möglichkeit einer kompletten Auswechslung eines inneren Organs bringt auch noch andere Folgen mit sich. Pfauenauge und Diakonsbein blieben im Rahmen einer externen Aufpfropfung, einer ›Inokulation‹ im Sinne außen aufgesetzter Augen bzw. eines für die Augen aufgesetztes Außen. Die Transplantation lebenstragender innerer Organe dringt in den Leib selbst ein und nistet dort einen (Fremd)körper ein, der die klassische phänomenologische Unterscheidung in Leib und Körper unterwandert. Edmund Husserl, der sich hier einer Unterscheidungsmöglichkeit des Deutschen bedient, die in anderen Sprachen nicht gegeben ist, differenziert bekanntlich zwischen den Körpern, die durch ihre räumliche Extensionalität bestimmt sind, und meinem Leib, den ich erlebe. Der Leib ist mir in der Perspektive der ersten Person gegeben, er ist das Medium, durch das andere Körper überhaupt erst für mich erscheinen können. Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich also für Husserl, insbesondere in den Cartesianischen Meditationen, behaupten, dass die Selbst-Fremd-Unterscheidung an der Leib-Körper-Naht entlangläuft. Der eigene Leib ist – schon allein Varela: Intime Distanzen. Ebd.

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etymologisch  –  mit dem ›Leben‹ verwachsen, der Körper steht dagegen dem griechischen soma, sprich dem Leichnam, nahe. Darauf läuft zumindest in letzter Instanz Derridas frühe Husserl-Lektüre hinaus, die in der Leib  /  Körper-Unterscheidung eine Abwandlung der klassischen dichotomischen Paare der Metaphysik ausmacht wie Eigen  /  Fremd, Stimme  /  Schrift, Präsenz und Absenz. Das schriftliche sema, das schon bei Platon auf Seiten des leblosen somas steht, wird bereits in Derridas klassischen Schriften als eine greffe des Lebendigen verstanden, als eine iterative Fortschreibung des Lebendigen über seinen eigenen Tod hinaus, der jede Graphologie immer schon zu einer Greffologie werden lässt. Obgleich das Motiv der greffe oder der ›Pfropfung‹ immer wieder im derridaschen Werk auftaucht, findet eine eingehendere Beschäftigung mit dem Implantat erst im 2000 erschienenen Le toucher statt, auf das auch Varela sich bezieht. Das Implantat wäre dann eine Figur der Unentscheidbarkeit, das unentwegt oszillliert zwischen dem nie abgeschlossenen Prozess der Einverleibung und der steten Möglichkeit seiner Abstoßung, Verdinglichung und Exkorporation. Damit knüpft Derrida erneut an Husserl an, allerdings ganz anders als in der nachhusserlschen Phänomenologie (oder, etwa Levinas’schen, Postphänomenologie) üblich. Anstatt vom Leib des Anderen her (von diesem Leib, der weder ein reiner Körper noch ganz Leib ist), wird die Leib-Körper-Unterschiedung von Implantat her hinterfragt, das von vornherein ortlos und im Gegensatz zum Leib der merleau-pontyschen intercorporéité nicht nur verwoben sondern im buchstäblichen Sinne hybrid ist, also mit der Hybris der techné infiziert ist: »A la fois Körper et Leib, ce supplément technique obligerait donc à reconsidérer cette distinction depuis un lieu d’altérité ou d’hétérogénéité qui n’est plus nécessairement et d’abord celui d’un alter ego, surtout dans la figure de l’autre homme ou de Dieu«.13 Dritter Cut.

Szene IV. Der Fremde, im Herzen In einem kurzen, 1999 erschienenen autobiographischen (aber vielleicht sollte man eher sagen ›xenographischen‹) Text mit dem Titel L’Intrus hält Jean-Luc Nancy Folgendes fest: »Ich (wer, ›ich‹?, das ist genau die Frage, die alte Frage: wer ist dieses aussagende Subjekt, das dem Ausgesagten stets fremd bleibt und zwangsläufig als Eindringling erscheint, obwohl es ebenso zwingend als dessen Antrieb, Schalthebel oder Herz fungiert) – ich,

Derrida: Le toucher, S. 266.

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also, habe vor bald zehn Jahren das Herz eines anderen erhalten«.14 Dieser andere, der Spender, wird insofern zum generischen Anderen, als er schlicht jeder Andere sein könnte: »in meinem Fall kann mein Herz das einer schwarzen Frau sein«.15 Der Eindringling, dem dieser Text seinen Titel verdankt, ist allerdings nicht erst dieser unheimliche, weil unbestimmt bleibende eingepflanzte Fremdkörper. Dem Herzen des oder der Fremdem geht ein Fremdwerden des eigenen Herzens voraus. Das Herz äußert bzw. ›entäußert‹ sich wörtlich, indem es sich durch sein Ausfallen bemerkbar macht. »In diesem Sinne«, schreibt auch Varela, »war meine alte Leber bereits fremd; sie wurde in dem Maße zunehmend fremd, wie sie aufhörte zu funktionieren«.16 Radikaler noch steht es um das Herzversagen: In dem Maße wie das Organ aussetzt und zu einem rein biologisch bestimmten Gefäß wird, bricht es als Bezugspunkt sämtlicher Eigentlichkeitsmetaphorik zusammen und der Ausdruck ›im Herzen‹ büßt jede Glaubwürdigkeit ein. Denn als metaphorischer Grund diente das Herz nur solange, wie es konturlos blieb. Sowie es auffällig wird, entäußert es sich von selbst. »Dieses Herz, nunmehr ein Eindringling, muss ausgestoßen werden«.17 Dieser Eindringling, erklärt Nancy in einem 2006 geführten Interview, kommt also nicht von außen. Oder vielmehr ist sein Außen ein Außen im Innen, eine Öffnung, ein Aufschließen.18 Die Sprache schlingert, so wie auch unser Vorstellungsvermögen, wenn es darum geht, die Organtransplantation – um bei Varelas Forderung zu bleiben – weder vom Standpunkt einer schicksalhaften Gabe noch vom bloßen medizinischen Verfahren her, sondern phänomenologisch zu beschreiben.19 Was heißt es, die Erfahrung einer Herztransplantation phänomenologisch adäquat zu beschreiben, wenn jede phänomenologische Beschreibung auf einem zeiträumlichen Koordinatennetz beruht, das den eigenen Leib – mit Husserl gesprochen – als ›Nullpunkt‹ voraussetzt? »Die Öffnung des gesamten Brustkorbs, die Instandhaltung des zu verpflanzenden Organs, der externe Brutkreislauf, für den die Herz-LungenMaschine sorgt«: Die Herztransplantation drängt »das Bild eines Durchgangs durch das Nichts auf, eines Heraustretens in einen Raum, der von allem Eigenen, von allem Inwendigen und Vertrauten geleert worden ist. 16 17 18 19 14 15

Nancy: Der Eindringling, S. 9. Ebd., S. 31. Varela: Intime Distanzen. Nancy: Der Eindringling, S. 17. Nancy: »Das wahre Außen ist im Herzen des Innen«. Anna Bergmann hat gezeigt, dass selbst erfahrene Chirurgen angesichts ihrer eigenen Organtransplantation kaum in der Lage sind, den klinischen Standpunkt einzuhalten. Vgl. Bergmann: Der entseelte Patient: die moderne Medizin und der Tod. Ich danke Ludger Schwarte für diesen Hinweis.



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Oder dringt nicht vielmehr dieser Raum in mich ein: Schläuche, Pinzette, Nähte und Sonden?)«.20 Die Vorstellung eines Sicheinnistens des Eindringlings gehört in die Vorzeit epidemiologischer Angstvisionen, die heute Wirklichkeit geworden sind, eine sowohl klinischere als auch abgründigere Wirklichkeit zugleich. »Die Öffnung, die der Eindringling bewirkt hat, ist nicht etwa die Öffnung, durch die er hinein-, sondern die Öffnung, durch die ich nicht mehr in mich zurückkann. (Jede Radiographie verdeutlicht es: das Brustbein ist mit den gewundenen Fäden eiserner Klammern vernäht.) Ich bin offen geschlossen. Da ist eine Öffnung, durch die eine unaufhaltsame Strömung von Fremdartigem fließt: die Medikamente, die eine Immunschwäche hervorrufen, die anderen Medikamente, die die Folgen dieser Immunschwäche bekämpfen sollen«.21 Das Eindringen bewirkt ein Moment der Unabschließbarkeit, das Auföffnen von innen hält an und es gibt keinerlei Zustand, wo der Eindringling endgültig ›integriert‹ werden könnte. Nicht von Integration, sondern bestenfalls von ›Toleranz‹ des Fremdkörpers kann hier die Rede sein. Die neuere Immunologie trägt dieser Tatsache Rechnung, wenn sie das Selbst-Fremd-Modell gegen andere eingetauscht hat, etwa gegen Polly Matzingers Gefahrenmodell, das von Toleranzsschwellen ausgeht. Die Immunisierungslogik, die – wie Roberto Esposito in seinem in Deutschland noch immer viel zu wenig beachteten Immunitas nachwies22 – unsere Vorstellungen von individueller und gesellschaftlicher Identität nach wie vor prägt, müsste möglicherweise von diesem atopischen Ort aus, den die Transplantation darstellt, hinterfragt werden. Wenn der Fremde derjenige ist, der nie völlig »heimisch« wird, der niemals ganz angekommen ist und somit weiterhin im Kommen begriffen bleibt, dann vielleicht deshalb, weil er von nirgendwoher kommt und immer schon da war. Vor vielen Jahren schrieb Georg Simmel über den Fremden, er sei derjenige, der heute kommt und morgen bleibt.23 Ergänzen müsste man heute möglicherweise, dass er derjenige bleibt, der nie ganz an seinen Ort kommt und niemals völlig an seinem Platze ist. Final Cut.

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Nancy: Der Eindringling, S. 29. Ebd., S. 37. Esposito: Immunitas. Vgl. dazu die Rezension vom Verf.: »Einverleibter Erreger«. Simmel: »Exkurs über den Fremden«, S. 764.

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Literatur Alloa, Emmanuel: »Einverleibter Erreger«, in: Süddeutsche Zeitung, 20. 9. 2005. Bachelard, Gaston: L’eau et les rêves, Paris 1942. Bergmann, Anna: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod, Berlin 2004. de Voragine, Jacobus: Die Legenda aurea, übers. v. Richard Benz, Heidelberg 1955. Caillois, Roger: Méduse & Cie., übers. v. Peter Geble, Berlin 2007 (1960). de Martino, Ernesto: Katholizismus, Magie, Aufklärung. Religionswissenschaftliche Studie am Beispiel Süd-Italiens, übers. v. Barbara Kleiner, München 1982 (1959). Derrida, Jacques: Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris 2000. Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, übers. v. Sabine Schulz, Berlin 2004. Maturana, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982. Nancy, Jean-Luc: Der Eindringling  –  L’Intrus. Das fremde Herz, übers.  v. Alexander García Düttmann, Berlin 2000 (1999). Nancy, Jean-Luc: »Das wahre Außen ist im Herzen des Innen«, Interview mit Emmanuel Alloa, in: ATOPIA. Themenschwerpunkt: greffe  /  graft  /  graphium, polylogic e-zine 9 (2006), (www.atopia.tk). Ovid: Metamorphosen, übers. v. Reinhart Suchier, Wiesbaden 1986. Simmel, Georg: »Exkurs über den Fremden« (1908), in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, S. 764−771. Varela, Francisco: »Intime Distanzen. Fragmente einer Phänomenologie der Organtransplantation« (orig. Journal of Consciousness Studies, 8 (2001), S. 259−271), dt. Übers. v. Emmanuel Alloa in: ATOPIA. Themenschwerpunkt: greffe  /  graft  /  graphium, polylogic e-zine, 9 (2006), (www.atopia.tk)).

Innovation oder Kontamination? Kreuzungen der Impfmetapher zwischen Kant und Nietzsche Cornelia Zumbusch

I. Die Metapher – Angriff des Fremden Impfen, Inokulieren, Pfropfen oder Beltzen werden zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu Namen für die neue Praxis der Pockenschutzimpfung. Adelungs Wörterbuch hält die Begriffsentwicklung am Ende des Jahrhunderts fest. So heißt es im Artikel »Impfen«: »Den Zweig eines Baumes zur Fortpflanzung in die Rinde oder den Stamm eines andern befestigen, damit er mit ihm zusammen wachse«.1 Abgeleitet vom lateinischen propagare (›fortpflanzen‹) meint das Pfropfen im ersten, botanischen Sinn den künstlichen Eingriff in natürliche Fortpflanzungsprozesse. Von hier aus weist Adelung auf eine zweite Bedeutung des Impfens hin: »Auch Krankheiten impfet man ein, wenn man sie durch Versetzung der Krankheits-Materie in den Körper fortpflanzt«.2 Bei der metaphorischen Übertragung in die Medizin soll nicht eine Pflanze, sondern eine Krankheit fortgepflanzt werden. Folgt man Aristoteles’ Rhetorik, dann ist die zweite Bedeutung des Wortes Impfung das Ergebnis einer vorbildlichen metaphorischen Operation, denn sie ergibt sich, wie von Aristoteles vorgeschlagen, aus einer vierteiligen Verhältnisbestimmung per Analogie. Die versetzte »Krankheits-Materie« verhält sich zum »Körper«, wie das Pfropfreis zum Baum.3 Die figurative Bedeutung stützt sich somit auf die äußere Ähnlichkeit des Verfahrens, etwas Fremdes in einen künstlich hergestellten Schnitt einzubringen. 3 1 2

Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Sp. 1366. Ebd. Dabei handelt es sich um eine von vier Übertragungsstrategien neben der »Übertragung eines Wortes […] entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf die andere«. Aristoteles: Poetik, S. 67. Der Analogie kommt dabei eine gewisse Sonderstellung zu, »denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag«. Ebd., S. 77. Auch in der Rhetorik genießt die analogische Metapher Aristoteles’ besondere Aufmerksamkeit, deren Regel hier wie folgt beschrieben wird: »Immer aber muß die aus einer Analogie gewonnene Metapher in Korrelation stehen zu zwei Dingen gleicher Art«. Aristoteles: Rhetorik, S. 162.

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Tatsächlich ähnelt die Impfung, wie sie von dem italienischen Arzt Timoni 1714 in den Philosophical Transactions der Royal Society beschrieben wird, der Verpfropfung von Pflanzenteilen auf andere Gewächse.4 Aus einer gut entwickelten Pockenpustel nimmt man Eiter ab und bringt ihn dem Impfling in künstlich gesetzte Schnitte an Armen oder Beinen ein. Der Geimpfte durchläuft daraufhin abgeschwächte Symptome der Pocken, so dass neben der Senkung der Sterblichkeit das Risiko bleibender Schäden wie Narben, Blindheit, Taubheit oder Lähmung vermindert werden. Die Praxis wie auch die metaphorische Rede vom Impfen bleiben nicht ohne Folgen für die Konzeptualisierung des Ansteckungsgeschehens. Aus der Sicht der Medizingeschichte handelt es sich bei der Impfung im 18. Jahrhundert um eine Praxis ohne Theorie. Die infektiöse ›Pockenmaterie‹ stellt man sich als eine Art Gift vor, ohne schon an lebendige, sich fortpflanzende Mikroorganismen zu denken. Die Praxis der impfenden Fortpflanzung einer Krankheit geht jedoch mit der Arbeit an den traditionellen Ansteckungsmodellen einher, bei der die Vorstellung vom Pockengift sukzessive durch die Rede von »Saame«5 oder »Krankheitskeim« ersetzt wird.6 Damit nimmt die Metapher der Impfung die Formulierung der Keimtheorie durch Louis Pasteur und Robert Koch um mehr als 150 Jahre rhetorisch vorweg.7 Die Rede von der Einimpfung oder auch Einpfropfung der Pocken springt nicht nur, mit Blumenberg gesprochen, bei einer »logischen Verlegenheit« ein – sie läuft auch der Theoriebildung voraus.8 Mit dem Import der Impfmetapher aus dem Gartenbau werden aber auch Ambivalenzen in die Wahrnehmung des medizinischen Verfahrens eingeschleppt. 1798 macht der englische Arzt Edward Jenner mit der ›Vakzination‹ (von lat. vacca, Kuh) eine neue Variante der Impfung populär. Er impft statt der Menschenpocken die Kuhpocken, eine den menschlichen Pocken ähnliche Krankheit. Obwohl die Vakzination besser verträglich ist, knüpfen sich an die Übertragung von tierischem Pockenmaterial in den menschlichen Organismus zahlreiche Ängste. Man erzählt von monströsen Zwitterbildungen nach Vakzinationen: Kinder hätten begonnen, auf allen vieren zu laufen und zu brüllen wie eine Kuh, anderen sei sogar Fell gewachsen.9 Ähnliche Vorbehalte finden sich sogar bei aufgeklärten Zeitgenossen. So trägt sich Immanuel Kant mit dem Bedenken, dass sich der 6 7 4 5



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Vgl. »Auszug eines Schreibens von D. Emanuel Timon aus Constantinopel«, S. 102. Hufeland: Atmosphärische Krankheiten, S. 51. Ebd., S. 22. Zum Zusammenhang zwischen der Redeweise von der Verpflanzung oder Fortpflanzung der Pocken und dem medizinischen Vorstellungswandel vgl. Paillard: »Petit historique de la contagion«, S. 9−20. Blumenberg: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, S. 287. Vgl. Winkle: Geißeln der Menschheit, S. 885.



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Mensch durch Jenners Kuhpocken eine Art »Bestialität« zuziehe.10 Der Arzt Marcus Hertz spricht, knapp aber deutlich, von einer »Brutalimpfung«.11 Wenn die Vakzination als Brutalisierung, also Tierwerdung des Menschen perhorresziert wird, dann schlägt in der medizinischen Vakzination der ältere Sinn des Impfens, nämlich die botanische Kreuzung durch. Die medizinische Schutzimpfung wird zur Hybridbildung am menschlichen Körper, die statt einer Kultivierung zur Bastardisierung und Brutalisierung des Menschen führt. In der griffigen Analogie zwischen der gartenbaulichen und der medizinischen Impfung tun sich also genau besehen einige Unstimmigkeiten auf: Die Schutzimpfung kontaminiert den Körper mit fremdem Gift, um seinen Selbstschutz zu aktivieren. Dabei gefährdet sie den Organismus und beschädigt ihn zunächst, um ihn auf lange Sicht gesund zu halten. Der prophylaktische Charakter ist insofern entscheidend, als infektiöse Kinderkrankheiten in der Medizin des 18. Jahrhunderts meist noch als natürliche Entwicklungsstadien des Körpers aufgefasst wurden, die von der Impfung willkürlich vorweggenommen werden.12 Die Pfropfung im Gartenbau, bei der meist junge Reiser auf gealterte Bäume gebracht werden, bewirkt hingegen eine Verjüngung. Sie hat insofern einen innovativen Aspekt, als durch das Pfropfen neu gezüchtete Kultursorten fortgepflanzt werden. Während die medizinische Impfung den Kinderkörper künstlich altern lässt, verjüngt und verfeinert die gartenbauliche Verpfropfung die Pflanze. Das Veredelungspotential der botanischen Pfropfung kehrt jedoch in der medizinischen Impfung als problematische Zwitterbildung wieder. Liest man Aristoteles’ Beschreibung der metaphorá wörtlich als »Hinzufügung eines anderen bzw. fremden Wortes« (metaphorá de estis onómatos allotríon epiphorá), dann überrascht es nicht, dass bei der metaphorischen Verpflanzung eines Wortes in einen neuen Bereich auch etwas Fremdes virulent wird. Dieses Hinzutreten eines Fremden (allotríon) hat schon bei Aristoteles durchaus gewaltsame Konnotationen, denn epiphorá heißt nicht nur »das Hinzuspringen« und die »Hinzufügung«, sondern auch So berichtet Rink aus seinen Gesprächen mit Kant: »er redete von den Schutzblattern, gegen die er, wie gegen die Blatternimpfung überhaupt eingenommen war. Von jenen behauptete er, welche Furcht auch Andre geäußert haben, sie könnten, um mich seines eignen Ausdruckes zu bedienen, eine gewisse Bestialität in die Menschennatur übertragen«. Malter: Immanuel Kant in Rede und Gespräch, S. 480. 11 Zit. nach Honigmann: Medizinisches bei Dichtern und Denkern, S. 47 u. 50. 12 Hier handelt es sich um eine Sichtweise, die erst am Ende des Jahrhunderts überholt scheint. So heißt es im 1789 erschienenen Band der Krünitzschen Encyklopädie bereits aus überlegener Perspektive: »Man hält nämlich die natürlichen Blattern für eine Art Sauerteig, den jedes neugeborne Kind mit auf die Welt bringt, und der, wie jeder Sauerteig, eine Gährung hervorbringen müsse. Der Ausbruch der natürlichen Blattern sey nun nichts anderes, als das Produkt dieser Gährung«. Krünitz: »Krankenhaus«, S. 352. 10

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»Herankommen, Andrang, Überfall, Angriff«.13 Die Metapher verpflanzt also höchst angriffslustige fremde Worte in einen neuen Kontext. Im Folgenden soll deshalb nach den Kontaminationen zwischen gartenbaulicher und medizinischer Metaphorik gefragt werden: Zeigt sich nur die zweite, medizinische Redeweise von der ersten, botanischen tingiert? Oder kann sich die Rede vom Pfropfen als einem Verfahren der Kultivierung und Veredelung umgekehrt auch nicht von den medizinischen Bedeutungsnuancen der Gefährdung, Vergiftung und Kontamination rein halten? Wie verhalten sich gartenbauliche und medizinische Bedeutung dort, wo das Impfen und Pfropfen selbst zur Metapher für kulturelle, historische oder ästhetische Prozesse wird? Eine Antwort soll an zwei exemplarischen Kontaktstellen versucht werden, an denen sich in der metaphorischen Verwendung des Pfropfens oder Impfens die gartenbauliche Bedeutung und ihre medizinische Übertragung kreuzen. Der erste dieser Kreuzungspunkte findet sich in der Impfungsmetaphorik bei Kant und Schiller, bei denen die Impfung zum Bild für die moralische Erziehung des Menschen wird. Der zweite liegt bei Burckhardts und Nietzsches Variationen der Metaphorik um 1880, die das Kreuzen und Inokulieren im Bezug auf historische Entwicklungsprozesse reaktivieren. An beiden Stellen geht es um die Frage, wie die botanische und die medizinische Bedeutung des Impfens einander aufgepfropft und das Impfen so in die Schwebe zwischen Veredelung und Bestialisierung, Verbesserung und Gefährdung, Innovation und Kontamination gebracht wird.

II. Veredelung oder Verletzung? Vom Fortschritt in der Moral In den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen« von 1764 benutzt Kant die Pfropfung als Bild für eine moralische Kultivierungsleistung. Es könne die »wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler« seien. Die allgemeinen moralischen Grundsätze hält Kant nicht für das Ergebnis abstrakt aufgestellter Regeln, denn sie entspringen dem »Bewusstsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt«. Dieses Gefühl von der »Würde der menschlichen Natur« bildet nun den Stamm, auf den zum Ziel einer moralischen Veredelung die einzelnen Tugenden »gepfropft« werden.14 Kant benutzt das Bild von der Pfropfung, um die Erziehung zur Tugend als Kultivierungsprozess zu beschreiben, bei dem Natur und Kunst wechselweise aufeinander angewiesen sind. Die Basis der mora13 14

Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, S. 279. Kant: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen«, S. 836.



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lischen Erziehung bildet das in jedem Menschen angelegte Gefühl von »der menschlichen Würde«. Dieses natürliche Gefühl muss jedoch, so Kants Programm, durch gezielt verpfropfte Tugenden künstlich erzogen und verfeinert werden. Die Methodenlehre der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) schließt Kant mit einer genaueren Beschreibung dieses Stammes, also des moralischen Gefühls der vorkritischen Schrift. Das zugrundeliegende Gefühl heißt nun Selbstachtung, die sich aus dem Bewusstsein der eigenen Unabhängigkeit von Neigungen ergibt.15 In diesem Zusammenhang steht die Pfropfung kurz vor den bekannten Schlusssätzen vom »[bestirnten] Himmel über mir« und dem »[moralischen] Gesetz in mir«16 noch einmal als Verfahren der moralischen Erziehung ein, denn nur auf ein bereits vorhandenes Gefühl der Achtung könne »jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden«.17 Die Pfropfung bezeichnet auch hier die Ausdifferenzierung und Konkretisierung eines grundlegenden und grundsätzlich vorhandenen moralischen Gefühls. In seiner Begründung beginnt Kant nun, die gartenbauliche Metaphorik zu verlassen. Das Gefühl der Achtung biete deshalb den einzig geeigneten Stamm sittlicher Ansichten, weil es »der beste, ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüthe abzuhalten«.18 Die als Pfropfung imaginierte moralische Erziehung erhält eine interessante Doppelfunktion. Es sollen sich auf der Grundlage eines bereits angelegten Gefühls »sittliche Gesinnungen« entfalten können, dieser Stamm übernimmt aber auch eine Schutzfunktion, indem er Verunreinigendes und Verderbendes »vom Gemüthe abzuhalten« imstande sein soll. Die moralische Kultivierung assoziiert sich also mit einer Schutz‑ und Abwehrleistung, bei der die Moral frei von »verderbenden«, sie korrumpierenden und kontaminierenden Trieben gehalten werden sollen. Hier wird nicht nur die Doppeldeutigkeit des pflanzlichen und menschlichen Triebs aktiviert: Mit der Vorstellung von einer starken Abwehr schleicht sich auch ein immunologischer Hintersinn in die gartenbauliche Metapher ein. Auch Schiller verkreuzt in seinem wohl bekanntesten Erziehungskonzept, das er 1794 in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« entwickelt, die Vorstellungen von Veredelung und hygienischem Schutz. Im neunten Brief umreißt er das Konzept einer autonomen, also Zu Kants Modifikation des aus der schottischen Moralphilosophie übernommenen auf Sympathie, Mitleid und Wohlwollen gegründeten moralischen Gefühls, vgl. Recki: Ästhetik der Sitten. 16 Kant: »Kritik der praktischen Vernunft«, S. 300. 17 Ebd., S. 299. 18 Ebd. 15

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von äußeren Zwecken freien Kunst und bringt es auf den Begriff der Immunität. Die Kunst erfreue sich, so Schiller, »einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen«.19 Die Rede von der Immunität lässt sich hier zunächst gemäß der juristischen Grundbedeutung als Freiheit von Verpflichtungen, Lasten und Steuern lesen, so dass Immunität für die Loslösung der Kunst von außerästhetischen Zwecken stehen kann.20 Schiller treibt die Rhetorik des Immunen aber noch weiter. Seine Briefe »Über die ästhetische Erziehung« greifen Kants Autonomieästhetik nicht zuletzt auf, um einen Ausweg aus einer in die Sackgasse geratenen Aufklärung zu finden. Seine Diagnose der gegenwärtigen Lage fasst Schiller in einer chiastisch verkeilten Frage: »Alle Verbesserung im Politischen soll von der Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?« (583) Aus diesem Dilemma soll die immune Kunst heraushelfen, denn sie bilde einen Bereich, der »sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten« (583) könne. Die Metaphorik von Reinheit und Verderbnis, Ansteckung und Immunisierung prägt nun bei genauerem Hinsehen die gesamte Rhetorik des neunten Briefs. So stellt sich Schiller den Künstler »unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten« vor und wünscht, ein derartig immuner Künstler würde kommen, um seine Zeit zu »reinigen«. (584) In Schillers Rede von einer gegen politische Zwecksetzungen immunen und von den Pathologien der Zeit unverdorbenen Kunst verbindet sich also die ältere juristische Grundbedeutung der Immunität mit der neueren medizinischen Vorstellung von Ansteckungsschutz und Reinheit. Der medizinische Subtext der ästhetischen Erziehung ist insofern kein Zufall, als Schiller bereits im Rahmen eines früher skizzierten Erziehungsprogramms die Verbindung zum aufklärerischen Kultivierungsmodell der veredelnden Pfropfung gekappt und durch das Bild der medizinischen Impfung ersetzt hatte. In den Fragment gebliebenen »Philosophischen Briefen« von 1782 erzählt Schiller die Bildungsgeschichte des Julius als Unterweisung durch seinen Freund und Mentor Raphael. An einer Scharnierstelle von Julius’ Bildungsgang benutzt Schiller die Metapher der Einimpfung. Julius wirft Raphael vor, ihn von der Empfindung zur Vernunft geführt und damit von der schlafwandlerischen Gefühlssicherheit abgeschnitten zu haben. Raphael rechtfertigt sich, indem er seiner therapeutischen Intervention Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, S. 583. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text. 20 Zedlers Universallexicon verzeichnet 1739 unter Immunität die »Kirchen-Freiheit«, die die Kirche Verfolgten gewähren kann, sowie die Freiheit von Steuern und Abgaben, die die Kirche ihrerseits genießt. Zedler: Großes vollständiges Universallexicon, Bd. 14, S. 592. Zur Begriffsgeschichte ausgehend vom römischen Recht vgl. Esposito: Immunitas, S. 11−13. 19



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einen Namen gibt. Er habe lediglich »eine Krisis beschleunigt, die solchen Seelen wie die Deinige, früher oder später unausbleiblich bevorsteht«. Er habe also nichts anderes getan, »als diese unvermeidliche Seuche durch Einimpfung unschädlich zu machen«.21 In der Vorerinnerung gibt Schiller einen Hinweis darauf, von welcher Seuche hier die Rede ist: »Skeptizismus und Freidenkerei sind die Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes«. An der gleichen Stelle formuliert Schiller auch schon die Vorstellung einer Heilung durch Krankheit. Diese Fieberschübe nämlich werden »durch eben die unnatürliche Erschütterung, die sie in gut organisierten Seelen verursachen, zuletzt die Gesundheit befestigen helfen«.22 Diese paradoxe Therapie rechtfertigt sich dadurch, dass eine künstlich erzeugte Krankheit besser durchzustehen sei als eine natürlich ausgebrochene. Die Krise der Zweifelsucht, während der ein Heranwachsender vorübergehend an der Vernunft verzweifelt, kann fatal sein, wenn sie ihn in einem durch Leidenschaften geschwächten Zustand trifft. Die Impfung nimmt deshalb die Fieberkrise der Vernunft genau dann vorweg, wenn der Patient bei Kräften ist. Durch die »Einimpfung« des »Skeptizismus« stößt der Erzieher den Schüler gewaltsam aber gezielt über die Schwelle der Adoleszenz. Diese Impfpädagogik tangiert nun auch Schillers allgemeines Programm einer Kultivierung der Vernunft. In der Bildungsgeschichte der »erwachenden und fortschreitenden Vernunft« befinde man sich in der »Epoche« der »halben Aufklärung«,23 die erst noch ans Ziel zu führen sei. Das Ziel dieser Vernunfterziehung gibt Schiller zwar nach wie vor in der Veredelung an – »Ein erleuchteter Verstand […] veredelt auch die Gesinnungen«24 – allerdings radikalisiert er mit seinem Prinzip einer Befestigung durch Erschütterung die vergleichsweise sanfte Aufklärungspädagogik, die Kant mit dem Prinzip der Pfropfung verbunden hatte. Während Julius noch darum bittet, die »zarte Pflanzung« der Vernunft nicht aufs Spiel zu setzen, wechselt Raphael das Register von der Biologie zur Medizin. Statt Inokulation, Züchtung und Veredelung ist nun die Rede von »Übel« und »Seuche«, von täuschenden »Palliativen« und den dagegen zu aktivierenden »Heilkräften«.25 Damit ist die Metapher der Impfung vom Garten in die Klinik verpflanzt. In seiner Ästhetik des Erhabenen löst Schiller das pädagogische Programm des künstlich provozierten Leidens schließlich auch poetologisch ein. Das Erhabene, so heißt es in der 1800 publizierten Schrift »Über 23 24 25 21 22

Schiller: »Philosophische Briefe«, S. 215f. Ebd., S. 209. Ebd., S. 208. Ebd. Ebd., S. 215f.

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das Erhabene«, sei ein besonderer »Schwung des Gemüts«, der durch die Tragödie »kultiviert« werden könne.26 Die »Empfindungsfähigkeit« für das Erhabene ist zwar »in alle Menschen gelegt; aber der Keim dazu entwickelt sich ungleich, und durch die Kunst muß ihm nachgeholfen werden«.27 Die pathetisch-erhabene Tragödie betreibt diese Nachhilfe durch die »Inoculation des unvermeidlichen Schicksals«.28 Im Mitleiden infiziert sich der Zuschauer mit dem Leiden des Helden und immunisiert sich zugleich gegen eigene Schicksalsschläge, die ihn noch treffen könnten. Damit legt Schiller den in der Antike präsenten medizinischen Sinn der katharsis frei und deutet ihn zugleich in entscheidender Weise um. Anders als Aristoteles imaginiert er die katharsis nicht als reinigende Ausleitung störender Affekte, sondern als Panzerung gegen kontingente Ereignisse.29 Zwar ist das Erhabene für Schiller, ganz wie für Kant, Indiz und Ergebnis der moralischen Freiheit des Menschen. Kants grundlegendes Gefühl der Achtung, auf das sich moralische Gesinnungen pfropfen lassen, realisiert sich bei Schiller jedoch erst im Losreißen von der Sinnlichkeit und im gewaltsamen Riss zwischen physischem und moralischem Menschen.30 Was in Kants Metaphorik als ein zu veredelnder Stamm figuriert, wird bei Schiller zum Ergebnis einer schmerzhaften therapeutischen Intervention. Im Zuge dessen überführt Schiller das Modell einer veredelnden moralischen Erziehung in eine paradoxe Logik, der zufolge Gesundheit durch Krankheit, Stärke durch Schwächung, Schutz durch Schmerz hervorgerufen werden soll. Seine Veredelung induziert eine künstliche Krise, statt die Wachstumseigenschaften gepfropfter Triebe zu aktivieren. Dennoch treffen sich Schillers und Kants Vorstellungen von der moralischen Erziehung als Impfung oder Pfropfung in einem Punkt: Beide übergehen die Tatsache, dass bei der Pfropfung immer etwas Neues und Fremdes eingebracht wird, und biegen die Metapher um in eine Erziehung, die bereits Angelegtes mal schonend kultiviert, mal gewaltsam provoziert.31 Der dabei ausgesparte 28 29 30

Schiller: »Über das Erhabene«, S. 824. Ebd., S. 831. Ebd., S. 837. Vgl. dazu Zumbusch: »Kunst als Impfung gegen das Leben?«, S. 251−262. »Der physische und der moralische Mensch werden hier [im Erhabenen, C. Z.] aufs schärfste voneinander geschieden«, denn »plötzlich und durch eine Erschütterung reißt es den selbständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte«. Schiller: »Über das Erhabene«, S. 830. 31 Im Kapitel »Der Charakter des Geschlechts« aus der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« wird dies besonders deutlich. Nach Kant lasse sich gerade der Charakter des Weibes im »rohen Naturzustande« gar nicht »erkennen«, denn wie bei »Holzäpfel und Holzbirnen, deren Mannigfaltigkeit sich nur durch Pfropfen oder Inoculiren entdecken« lassen, werden die »weiblichen Beschaffenheiten« erst in der Kultur kenntlich. Kant: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, S.  648. Die Pfropfung treibt also die natürlich angelegten Eigenarten und »Schwächen« des Züchtungsobjekts hervor. 26 27



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Aspekt der Vermischung, der Zwitterbildung und Bastardisierung, der in der Impfmetapher virulent ist, rückt erst etwa hundert Jahre später in den Fokus der Entwicklungsmodelle.

III. Bastarde und Zwitter: Vom Fortschritt in der Geschichte Jacob Burckhardt überrascht in den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« mit der Feststellung, historische Innovation sei nur durch Bastardbildung zu haben. Im Kapitel »Natur und Geschichte« wendet er sich gegen his­ torische Entwicklungsmodelle, die sich an natürlichen Verlaufsformen orientieren, und grenzt natürlich gegebene gegen historisch entwickelte Formen ab.32 Während die Natur noch Urtypen schaffe, sei das Volk als historisches Pendant zur biologischen Spezies ein »allmähliches Produkt«.33 Entscheidend für die Differenzierung zwischen Natur und Geschichte ist Burckhardts starker Begriff von Individualität. In der Natur gebe es zwar eine sehr große Anzahl an Gattungen, jedoch kaum Unterschiede zwischen den Individuen. In der Geschichte hingegen sei die Individualität nicht nur sehr stark ausgeprägt, sie bilde auch den eigentlichen Antrieb für Veränderungen: »die Individuen aber drängen auf Ungleichheit = Entwicklung«. Die Künstlichkeit des Produkts Volk und die Produktivität des Ungleichen und Individuellen führt Burckhardt in der Metapher des Bastards zusammen. Im »geschichtlichen Leben«, so Burckhardt, sei »alles voll Bastardtum, als gehörte dasselbe wesentlich mit zur Befruchtung für größere geistige Prozesse«.34 Im Gegensatz zur Natur, in der Zwitterbildungen meist unfruchtbar sind, führen geistige Bastarde nicht in evolutionäre Sackgassen, sondern garantieren den Fortschritt. So fixiert Burckhardt mit dem Bastard als Bild für künstlich beschleunigte Entwicklungsprozesse den Unterschied von Natur und Kultur. Gerade indem er selbst eine biologische Analogie herstellt, fällt seine Unterscheidung zwischen natürlichen und geschichtlichen Entwicklungsmodellen denkbar deutlich aus. Anders als die Natur kommt die Geschichte nur durch den Bruch mit Traditionen voran. Auch Nietzsche greift bei der Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Neuanfang, von Vergangenheit und Zukunft, Altem und Neuem auf ein Konzept des Fortschritts durch Diskontinuität zurück. Dabei benutzt er nicht die Metapher des Bastards, wohl aber die der Inokulation. Das fünfte Nach Herbert Schnädelbach hat sich der Historismus nach den zwei Seiten der spekulativen Geschichtsphilosophie einerseits und der empiristischen Naturwissenschaft andererseits zu verteidigen. Der Darwinismus gab dabei ein quasi-historistisches Konkurrenzmodell ab. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland, S. 80. 33 Burckhardt: »Weltgeschichtliche Betrachtungen«, S. 18. 34 Ebd. 32

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Hauptstück Anzeichen höherer und niederer Kultur aus »Menschliches, Allzumenschliches« (1878) beginnt Nietzsche mit einem Aphorismus (Nr. 224), den er mit der paradoxen Formel »Veredelung durch Entartung« überschreibt. Hier stellt er die Frage, wie sich der »Stamm eines Gemeinwesens« am besten entwickeln könne.35 Dabei dementiert er die naheliegende Vermutung, eine starke Gemeinschaft beruhe auf dem Zusammenhalt möglichst gleicher, starker Individuen mit möglichst gleichen, starken Gesinnungen. Eine derartige Inzucht gefestigter Charaktere und Grundsätze stärke zwar ihren Zusammenhalt, zugleich aber auch ihre Dummheit. In der »allmählich durch Vererbung gesteigerte[n] Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt«, so Nietzsche, besteht für starke Gemeinschaften eine latente Gefahr. Tatsächlicher Fortschritt hingegen, so muss er folgern, knüpft sich an die »moralisch schwächeren Individuen«, denn »gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich«. Die Schwachen »lockern« die stabile Dummheit der gefestigten Gemeinschaft auf und öffnen sie für Neues. Sie tun dies, und hier wechselt Nietzsche ins medizinische Register, indem sie dem Gemeinwesen eine Wunde zufügen: »Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert«. (ebd.) Trotz der Rede von der Wunde bleibt offen, ob Nietzsche mit dem Vergleich der Inokulation auf das Prinzip der biologischen Züchtung oder das der medizinischen Impfung anspielt. Der Kontext ruft beide Konnotationen auf – dazu noch einmal der ganze Passus: Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. (187f.)

Die Rede von den »abartenden Naturen« und vom »[F]ortbilden« spielt deutlich auf das biologische Paradigma der Züchtung an. Im Bild vom Blut, in dem das »Neue« zirkuliert, wird jedoch eher die Inokulation eines menschlichen Körpers und nicht die Pfropfung einer Pflanzenart evoziert. Weiter unter ist schließlich explizit von einer Infektion die Rede. Ziel der Inokulation sei es nämlich, »die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben«. (188) So changiert das geimpfte oder 35

Nietzsche: »Menschliches, Allzumenschliches«, S.  187. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.



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auch gepfropfte Gemeinwesen zwischen pflanzlicher und menschlicher Organik. Beide Bildbereiche greifen dort ineinander, wo Nietzsche sein zentrales Paradox einer Stärke durch Schwäche expliziert. Er bemüht das Erklärungsmuster der Dekadenz, um das Verhältnis von Schwäche und Stärke genauer zu bestimmen. Weil der »kränkere« Mensch seine Einschränkungen zu kompensieren und seine natürliche Schwäche in eine Stärke zu verkehren wisse, könne »eine Entartung, eine Verstümmelung« durchaus von Vorteil für die Entwicklung sein. Im Aphorismus 231 macht Nietzsche Pathologien – sei es »eine Verstümmelung, Verkrüppelung ein erheblicher Mangel eines Organs« (194) – sogar zur Voraussetzung dafür, dass ein Genie entstehen könne. Dieses Paradox transponiert er auf die Ebene einer Gegenwartsdiagnose. Zunächst attestiert er seiner Zeit eine gesteigerte »Glut der Empfindung«, die er zur »entzündeten furchtbaren Energie« (ebd.) erklärt. Zu dieser Diagnose liefert er auch einen Therapievorschlag. Im Aphorismus 251 bindet Nietzsche die Möglichkeit einer »höheren Kultur« an die Fähigkeit, ein »Doppelgehirn« auszubilden, in dem einerseits mit »Leidenschaft« »geheizt«, zugleich aber in der anderen Gehirnkammer »den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt« (209) werden könne. Gegen die »Überreizung der Nerven‑ und Denkkräfte«, so formuliert Nietzsche im Vokabular von Nervosität und Dekadenz, könne man nur durch den »Geist der Wissenschaft« angehen, der nämlich »im ganzen etwas kälter und skeptischer macht und den Glutstrom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt«. (204) Die Metaphysik – bei Schiller noch das Antidotum gegen die latent verderbliche Sinnlichkeit  –  ist hier zur Fieberkrankheit geworden, der mit Distanzierung und Abkühlung, ja einer vorbeugenden Immunisierung zu begegnen ist. Andererseits markiert Nietzsche auch die Grenzen der Prophylaxe: Der Zyniker, so moniert er im Aphorismus 275, »härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab« und verliert dabei alle Anzeichen der höheren Kultur. Indem er mit den Unlustgefühlen zugleich seine gesamte Empfindungsfähigkeit einbüßt, wird er, so Nietzsche wörtlich, zum »Haustier«. (227) Eine Kultivierung durch reine Abkühlung und Abhärtung endet also im Käfig, die wahre Freidenkerei ist hingegen auf die Freisetzung von Empfindung und Leidenschaft angewiesen. Neben der medizinischen hält Nietzsche aber auch die biologische Bedeutung der Inokulation im Spiel. So führt er für die produktive Kultivierung durch Infektion im bereits zitierten einleitenden Aphorismus 224 einen pädagogischen Vergleich an, der zunächst an Schillers Erziehungsmodell aus den »Philosophischen Briefen« erinnert. Laut Nietzsche hat ein guter »Erzieher« dem Zögling

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Cornelia Zumbusch Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. (188)

Während Schiller mit der Rede von der Inokulation eindeutig auf die Einimpfung einer Kinderkrankheit setzt, hält Nietzsche den biologischmedizinischen Doppelsinn in der Schwebe. Liest man die »Wunde« schlicht als Schnitt oder Kerbe, dann bleibt Nietzsche hier im Bereich des Gartenbaus, für den ganz besonders auch die Rede vom inokulierten Edlen, den Früchten und der Veredelung spricht. Die Verwundung dient jedoch einer langfristigen Befestigung und Stärkung, denn sie hat den Zögling »so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann«. So enthält die Vorstellung von einer pädagogischen Veredelung zugleich den Beiklang des Starken und Gesunden, der eher zur Immunisierungspraxis gehört. Indem Nietzsche in der Frage nach der Möglichkeit kulturhistorischen Fortschritts die gartenbauliche und die medizinische Doppeldeutigkeit der Inokulation aktiviert, lässt er die Möglichkeit, Neues durch künstliche Kreuzung schaffen zu können, mit der Vorstellung von einer Infektion des Neuen zusammenlaufen. Durch die Überblendung der gartenbaulichen und medizinischen Redeweise verkoppelt Nietzsche beide Logiken auf eine Weise, die die im 18. Jahrhundert imaginierte Kultivierung und Immunisierung auf den Kopf stellt. Schiller hatte ja bereits Kants Vorstellung von den Pfropfreisern der Moral vom Garten in die Klinik verpflanzt und mit dem Bild vom gewaltsam inokulierten Skeptizismus auch mit dem Aufklärungsoptimismus einer schmerzlosen moralischen Veredelung und Kultivierung gebrochen. Die Rede von der Inokulation verbindet sich bei Schiller mit einer Kampfmetaphorik, die sich mit Schmerz, Verletzung und dem prekären Durchkämpfen einer Krankheit assoziiert. Dennoch bleibt klar definiert, was als gesund und was als krank, was als schwach und was als stark zu gelten hat. Nach Schiller empfiehlt sich eine Einimpfung nur dann, wenn man den Impfling »frei und stark, den großen Kampf zu bestehen« vorfände.36 Im Erhabenen ist dieser Kampf um die Vernunftfreiheit, die sich gegen die eigene Sinnlichkeit immun gemacht hat, schließlich zur poetologischen Figur geworden. Im Vergleich dazu verkehrt Nietzsche die Prämissen. In seiner polemischen Zuspitzung macht er die konstitutive Schwäche zur Voraussetzung eines kompensierenden Fortschritts zu neuer Stärke. Zum Neuen taugt das Schwache und Kranke, während gerade das Starke gegen 36

Schiller: »Philosophische Briefe«, S. 216.



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Veränderungen unempfindlich bleibt. Wo der Künstler bei Schiller immun gegen seine verdorbene Gegenwart werden soll, verdankt sich nach Nietzsche die Bildung von Genie und Freigeist gerade den Pathologien der Zeit. Während Schiller den Fortschritt der Aufklärung also als Immunisierungsleistung vorstellt und in eine rigide Schutz‑ und Abwehrhaltung verlegt, ist nach Nietzsche kein Fortschritt ohne Krankheit und Schwäche zu haben. Die Auslegungen der Impfmetapher grundieren dabei zwei konkurrierende geschichtsphilosophische Modelle: Wo die Inokulation bei Schiller für die Beschleunigung prinzipiell angelegter Entwicklungen steht, da wird die Inokulation bei Nietzsche zum Bild für diskontinuierliche Sprünge. Damit nimmt auch die Geschichte der Metapher eine eigenwillige Wendung. Indem Nietzsche die gartenbauliche und die medizinische Bedeutung der Inokulation verkreuzt, macht er sie zum Prinzip einer Innovation durch Kontamination. So endet die im Zeichen aufklärerischer Kultivierungs‑ und Erziehungsmodelle begonnene Metaphorologie der Impfung nicht bei einem Begriff, sondern bei einem Metaphernhybrid. Literatur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Mit D. W. Soltau’s Beyträgen, rev. u. berichtiget von Franz Xaver Schönberger, Wien 1808 (Nachdruck Hildesheim 1990). Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Aristoteles: Rhetorik, übers. u. hg. v. Gernot Krapinger, Stuttgart 1999. »Auszug eines Schreibens von D. Emanuel Timon aus Constantinopel, worinnen von der daselbst gewöhnlichen Einpfropfung der Kinderblattern Nachricht ertheilet wird. [Philosophical-Transactions for the months of April, May and June 1714, Nom. 339]«, übers. von C. F. Schulze, in: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen, 18 (1757), S. 99−108. Blumenberg, Hans: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1996, S. 356−379. Burckhardt, Jacob: »Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium. Historische Fragmente aus dem Nachlaß«, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Jacob Oeri  /  Emil Dürr, Bd. 4, Basel u. a. 1978, S. 273−328. Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, übers.  v. Carl W. Neumann, Stuttgart 2005. Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004. Honigmann, Georg: Medizinisches bei Dichtern und Denkern, Breslau 1924. Hufeland, Christoph Wilhelm: Atmosphärische Krankheiten und atmosphärische Ansteckung. Unterschied von Epidemie, Contagion und Infection. Ein Beitrag zu den Untersuchungen über die Contagiosität des gelben Fiebers, Berlin 1822. Kant, Immanuel: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen«, in: ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 2, Vorkritische Schriften bis 1768, Frankfurt a. M. 1977, S. 825−886. Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders.: Werkausgabe, hg.  v. Wilhelm Weischedel, Bd. 12, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt a. M. 1977, S. 399−690. Kant, Immanuel: »Kritik der praktischen Vernunft«, in: ders.: Werkausgabe, hg.  v. Wilhelm Weischedel, Bd.  7, Kritik der praktischen Vernunft und Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Frankfurt  a. M. 1974, S. 105−302. Krünitz, Johann Georg: ›Krankenhaus‹, in: Ökonomische Encyklopädie oder Allgemeines System der Staats‑ Stadt‑ Haus‑ u. Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung, 1773ff., Bd. 47 (1789).

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Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, unter Berücksichtigung der Etymologie, hg. von Hermann Menge, Berlin u. a. 1987. Malter, Rudolf (Hg.): Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Hamburg 1990. Nietzsche, Friedrich: »Menschliches, Allzumenschliches«, in: ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Giorgio Colli  /  Mazzino Montinari, Bd. 2, München 1999. Paillard, Bernard: »Petit historique de la contagion«, in: Communications, 66 (1998), S. 9−20. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001. Schiller, Friedrich: »Philosophische Briefe«, in: Friedrich Schiller Werke und Briefe, hg. v. Otto Dann  /  Axel Gellhaus u. a., Bd. 8, Frankfurt a. M. 1992, S. 208−233. Schiller, Friedrich: »Über das Erhabene«, in: Friedrich Schiller Werke und Briefe, hg. v. Otto Dann  /  Axel Gellhaus u. a., Bd. 8, Frankfurt a. M. 1992, S. 822−840. Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: Friedrich Schiller Werke und Briefe, hg.  v. Otto Dann  /  Axel Gellhaus u. a., Bd.  8, Frankfurt  a. M. 1992, S. 556−676. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland. 1831−1933, Frankfurt a. M. 1983. Winkle, Stefan: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, 3., verb. und erw. Aufl., Düsseldorf 2005. Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, OnlineVersion der Ausgabe Leipzig u. a. 1732−1754, http://www.zedler-lexikon.de/. Zumbusch, Cornelia: »Kunst als Impfung gegen das Leben? Eine medizinische Metapher in Schillers Theorie des Erhabenen«, in: Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, hg. v. Miriam Schaub  /  Nicola Suthor  /  Erika Fischer-Lichte, München 2005, S. 251−262.

Geburten aus dem Geist der Pfropfung? Zu Kant und Goethe Michael Bies

I. Im Zuge der vielfältigen und vielbesprochenen Umwälzungen, die besonders das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts kennzeichnen, ist auch die Metapher der Aufpfropfung umgewertet und durch neue, teils widersprüchliche Bedeutungen angereichert worden. Konnte das Pfropfen – damals auch okulieren oder »impffen, peltzen und zweigen genennet«1 – in der Mitte des Jahrhunderts noch optimistisch als umfassender »triomphe de l’art sur la nature«2 gedeutet werden, so wurde es in den Jahren um 1800 zunehmend skeptischer bewertet. Unter Einbeziehung der unter dem gleichen Stichwort firmierenden Diskussionen zur Pockenimpfung3 wurde das Pfropfen nun nicht mehr nur als triumphale Kultivierung der Natur verstanden. Vor allem aus ethischer und pädagogischer Perspektive erschien es dazu als ein Abfall von der Natur, als gewaltsamer Einbruch eines Widernatürlichen. Die aus diesen Bedeutungsspielräumen resultierende Konjunktur der Pfropfmetapher um 1800 soll im Folgenden beispielhaft anhand einiger Passagen bei Kant und Goethe erkundet werden. Dabei wird es nicht allein darum gehen, das Dickicht der Kontexte zu lichten, die die Verwendung und Bedeutung der Pfropfung jeweils bestimmten. Außerdem soll betrachtet werden, wie die ›Greffo-Logik‹, die dem Text mit der Pfropfmetapher eingepflanzt wird, in ihren Kontext eingreift – oder umgekehrt,

3 1 2

Art. »Baum pfropffen«, in: Universallexicon, Bd. 3, Sp. 762. Art. »Greffe«, in: Encyclopédie, Bd. 7, S. 921. »Impfen«, so erklärt Adelung, heißt »den Zweig eines Baumes zur Fortpflanzung in die Rinde oder den Stamm eines andern befestigen, damit er mit ihm zusammen wachse. […] Auch Krankheiten impfet man ein, wenn man sie durch Versetzung der Krankheits-Materie in den Körper fortpflanzt«. Art. »Impfen«, in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 1366. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Cornelia Zumbusch und Falko Schmieder in diesem Band.

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nach Hans Blumenberg: für welche »logische ›Verlegenheit‹«4 sie jeweils einzuspringen vermag.

II. Kant, der an entscheidenden Passagen der Kritiken auf die Metaphern des Pfropfens und Okulierens zurückgreift, scheinen solche »Verlegenheiten« vertraut gewesen zu sein. So erklärt er im Übergang zum Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft, »daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig« sei; die Urteilskraft hingegen müsse als »ein besonderes Talent« bestimmt werden, »welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«: Daher ist diese auch das Spezifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann: so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher.5

Interessant ist an dieser Passage weniger, dass die Urteilskraft hier allein als »das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren«,6 verstanden wird – da die reflektierende Urteilskraft, das Herzstück der Kritik der Urteilskraft, zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgearbeitet war. Vielmehr ist es das Pfropfen selbst, das hier auf entscheidende Weise in den Blick gerät. Denn im Unterschied zur Urteilskraft, die Kant als eine »Naturgabe« erklärt, die zwar »unter Regeln subsumieren«, doch nicht durch sie geleitet werden kann, müssen dem »eingeschränkten Verstande« diese Regeln entweder »dargereicht« oder, falls er diese Gabe aufgrund seiner Beschränkung verschmäht, »gleichsam eingepfropft« werden. Die damit eingeführte Metapher der Einpfropfung erweist sich bei genauerer Lektüre als treffend. Schließlich setzt sie nicht nur eine gewisse, wie auch immer zu verstehende Gleichartigkeit von Verstand und Regeln voraus, ohne die die Pfropfung nicht gelingen und dem Verstand nicht durch »fremde Einsichten« geholfen werden kann. Zudem beschreibt sie einen Kultivierungsprozess. So wie ein »Pfropfreis«, nach der Erläuterung in Zedlers Universallexicon, »auf einen wilden Stamm gesetzet, und solcher dadurch verbessert wird«,7 soll hier der »eingeschränkte Verstand« durch 6 7 4 5

Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 10. Kant: »Kritik der reinen Vernunft«, S. 184f. Ebd., S. 184. Art. »Pfropfreis«, in: Universal-Lexicon, Bd. 27, Sp. 1684.



Geburten aus dem Geist der Pfropfung?

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»fremde Einsichten« veredelt werden. Schief ist die Metapher nur insofern, als es Kant um die Verbesserung eines »Lehrlings« geht. Im Gartenbau dagegen wird »ein junges jähriges Reis von einem fruchtbaren Baume«8 auf einen älteren Stamm gepfropft. Auf eine ähnliche Weise hatte Kant das Pfropfen schon in die 1764 erschienenen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen eingebracht. Im Hinweis darauf, dass der Erfolg dieses Verfahrens entscheidend von der Beschaffenheit des Stammes, mithin von einer geeigneten »Grundlage« abhängt, hatte er hier erklärt, dass »wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden«9 könne  –  und nicht auf »Mitleiden und Gefälligkeit« und »dergleichen hülfleistende Triebe als Supplemente der Tugend in uns«. (837) Weiter führt er aus, dass diese Grundsätze, die die erfolgreiche Inokulation der Tugend begünstigen, im »Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur« fußen: »Das erstere ist ein Grund der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung« (836f.), fügt er schließlich hinzu. Gegen Ende der Kritik der praktischen Vernunft werden diese Ausführungen wieder aufgenommen. Unter erneuter Herausstellung der Unterlage, die hier nurmehr als »Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit« bestimmt wird, erklärt Kant: »Auf diese, wenn sie wohl gegründet ist, […] kann nun jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden«.10 Anders als in den Beobachtungen erläutert er nun aber auch, weshalb gerade die Achtung sich zum Stamm der Pfropfung eignet: weil sie »der beste, ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüthe abzuhalten«.11 Die Metapher des Pfropfens erfährt damit eine entscheidende Wendung. Waren »Wohlgewogenheit« und Achtung in den Beobachtungen noch Bedingungen dafür, dass die Okulation »wahrer Tugend« gelingen konnte, so muss die Achtung in der Kritik der praktischen Vernunft nicht nur garantieren, dass »jede gute sittliche Gesinnung gepfropft« werden kann. Dazu fungiert sie hier als ein »Wächter«, der »das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüthe« verhindert. Eine solche Wächterfunktion war bislang nur aus den medizinischen Diskursen der Zeit hinlänglich bekannt, vor allem aus den Diskussionen über den Nutzen, die Gefahren und die Legitimität der Pockenimpfung.12 Ebd. Kant: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, S.  836. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text. 10 Kant: »Kritik der praktischen Vernunft«, S. 299. 11 Ebd. 12 In Moritz August von Thümmels Verserzählung Die Inoculation der Liebe (1771) werden die Bedenken gegen die – vor Einführung der Vakzination durchaus risikoreiche – Pocken

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Übersehen wurde dabei aber meist, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die Landwirtschaft und der Gartenbau, in denen die Pfropfung ebenfalls als Impfung firmierte,13 schon von der Sorge vor Fremdem infiziert waren. Die Rolle des Überträgers könnte hierbei der Mannheimer Arzt und Botaniker Friedrich Casimir Medicus gespielt haben, der sich »[in] seiner frühen Zeit als Arzt« nicht umsonst »besonders mit den Pocken und der Malaria« beschäftigt hatte.14 In seinen leidenschaftlich polemischen Beiträgen zur schönen Gartenkunst warnt Medicus 1782 eindringlich vor jenem »äußerst unsichern und gefährlichen Wege der Vermehrung«, vor »der gegenwärtigen, leider! überall eingerissenen sehr fehlerhaften Methode, die Vermehrung der anzugewöhnenden ausländischen Bäume durch Ableger, Pfropfen oder Okulieren zu besorgen«.15 Diese Ablehnung begründet er mit der angeblichen Widernatürlichkeit des Verfahrens. Als »Nachahmung der englischen und holländischen Geldschrupperei« würde das Pfropfen vor allem zu ökonomischen Zwecken genutzt, um die langwierigere natürliche Fortpflanzung zu umgehen. »Auch unsere Deutschen«, so fährt er fort, wollen nun von ihren deutschen Mitbürgern diejenigen Summen wieder erpressen, die sie ehemals mit Gewalt verschleudert haben. Sie denken also nach, wie sie solche Bäume erzeugen, von denen sie hoffen können, daß sie nach Verlaufe einiger Jahre wieder darauf gehen, bedienen sich des natürlichen Mittels, des Saamens, nicht, sie zu vervielfältigen, sondern sie bringen sie durch pfropfen oder oculieren auf ihnen unnatürliche Bäume, verkaufen diese, und nöthigen dadurch den Liebhaber, die nämlichen Stämme von Zeit zu Zeit Ihnen wieder abzuhandlen. (118f.)

Diese »unglückliche Gärtnerpraxis« bringe aber nicht allein mit sich, dass »die eingeführte neue Art ausländischer Hölzer immer so schwächlich, als möglich ist«, gehalten wird, damit sie sowohl dem »Ungestüm des Himmelsstriches« (203) als auch dem Ungestüm der jeweiligen Unterlage ausgeliefert sei: »weil der wilde Stamm«, nach Medicus’ Entwurf einer impfung so zusammengefasst: »Das ist ein Thor, wer seine Schmerzen häuft,  / Ein Sünder, welcher Gott in seine Rechte greift, / Ein Bösewicht, – wer sich inoculieret«. Thümmel: »Die Inoculation der Liebe«, S. 104. 13 Auch Thümmel arbeitet mit dem Doppelsinn des Pfropfens und Impfens in Medizin und Gartenbau. So erzählt er von der jungen Karoline, die im Willen, sich gegen Pocken impfen zu lassen, an einen »jungen Herrn« gerät, der ihr  –  beginnend »mit freundschaftlichen Küssen« – stattdessen die Liebe inokuliert. Ebd., S. 113. Im Unterschied zum medizinischen Impfen wird der Körper hierdurch aber nicht zur Produktion eines Schutzes angeregt, als vielmehr Karolines Erziehung vollendet – denn was selbst die besten Mütter ihre Töchter nicht lehren können, ist nach Thümmel »die Kunst zu küssen«. Ebd., S. 101. 14 Knoll: Friedrich Casimir Medicus, S. 18. Vgl. ebd., S. 75−77. 15 Medicus: Beiträge zur schönen Gartenkunst, S.  3. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.



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Geburt des Partisanen aus dem Geiste der Pfropfung, »das fremde Reis überwältiget, und solches, wann es lang genug gekränkelt, tödet«. (295, Anm.) Für die Widernatürlichkeit des Pfropfens spreche auch, dass geldgierige Gärtner »mit forschendem Auge« gerade nach »Kennzeichen eines meist kränkelnden Baumes« fahnden und »sodann nichts eilfertiger zu verrichten« wüssten, als das Kranke, Monströse und »Widernatürliche durch Pfropfen und Einäugeln zu vervielfältigen, und dann diese so erhaltenen Spielarten für schweres Geld dem unwissenden Sammler zu verkaufen«. (293f., Anm.) Ein »Kräuterkenner«, bemerkt Medicus schließlich mit Blick auf sich selbst, müsse solchen Baumhändlern »ein Dorn im Auge« sein, »weil dieser durch Offenbahrung des Betruges den Schruppereien Gränzen setzet«. (294, Anm.) In ihrer ebenso ausführlichen wie harschen Reaktion auf die aus England und Holland angeblich eingeschleppte »Geldschrupperei« entwerfen die Beiträge zur schönen Gartenkunst somit ein eigenartiges Bild. Weit davon entfernt, die Aufpfropfung als die »herrliche Erfindung« zu begreifen, »dadurch wilde Bäume zahm, unfruchtbare fruchtbar, und wohltragend gemacht, und alte Bäume durch Aussetzung frischer Reiser gleichsam verjünget«16 werden können, betont der ökonomisch interessierte Medicus17 das Widernatürliche dieser Praxis. Statt sie als Triumph der Kunst über die Natur zu loben, zeigt er an ihr die Dialektik der Aufklärung auf. Das »Einäugeln« erscheint ihm als ein Verfahren, das die natürliche Ökonomie außer Kraft setzt, dessen Anwendung das Risiko birgt, dass die Natur, die nach Goethe »sich niemals verschulden, oder wohl gar bankrutt werden kann«,18 zum Gewinn des Gärtners endlich doch »bankrutt« geht. An die Stelle der Ökonomie der Natur tritt damit der sich um 1800 formierende homo oeconomicus.19 Im Unterschied zu Medicus hatte Kant die Pfropfmetapher in der Kritik der praktischen Vernunft auf keine so weitreichende, doch dafür doppeldeutigere Weise verwendet. Nachdem er die Achtung mit einem Stamm assoziiert hatte, auf den »jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden« Art. »Baum pfropffen«, in: Zedler: Universallexicon, Bd. 3, Sp. 762. Der Merkantilist Medicus war seit 1770 Direktor der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft in Kaiserslautern und leitete dort von 1774 bis 1784 zudem die Kameral-Hohenschule. Hier zeigte er sich auch um die ›Reinheit‹ der deutschen Sprache besorgt: Vorlesungen mussten auf Deutsch gehalten werden. Vgl. Knoll: Friedrich Casimir Medicus, S. 44−55. 18 Goethe: »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie«, S. 234. Dieses »haushälterische Prinzip«, das eine der Grundlagen von Goethes Naturphilosophie bildet, wird auch in »Athroismos« (ebd., S. 472−474), später als »Metamorphose der Tiere« publiziert, und in den »Principes de philosophie zoologique« besprochen. Ebd., S. 836. 19 Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 234ff. (»Ökonomie der Natur«) und S. 289−351 (»Der ökonomi­sche Mensch«). 16 17

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könne, wendete er die Metapher, indem er die Achtung zum »einzigen Wächter« erklärte, der »das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüthe« verhindern könne. Die Kultivierung, die das Pfropfen in Landwirtschaft und Gartenbau bezweckt, überlagert er somit durch den Schutz vor dem gewaltsamen Eindringen des Unedlen und Verderbenden, auf den nicht nur die zeitgenössischen immunologischen Diskurse, sondern auch Medicus’ Beiträge zur schönen Gartenkunst bauen. Im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, nutzt Kant das Pfropfen ein weiteres Mal. War er in § 64 hier zunächst zu einer vorläufigen Erklärung des Organismus als Naturzweck gelangt – »ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist« –, so versucht er im Fortgang des Paragraphen, »die Bestimmung dieser Idee von einem Naturzwecke zuvörderst durch ein Beispiel [zu] erläutern«.20 In gleich dreifacher Hinsicht bedient er sich hierfür des Beispiels eines Baums. Zuerst erklärt Kant, dass dieser »sich selbst der Gattung nach« erzeugt, indem er sich in anderen Bäumen ›natürlich‹ fortpflanzt »und eben so, sich selbst oft hervorbringend, sich, als Gattung, beständig erhält«. (KU 482)21 Doch nicht nur als Gattung sei der Baum Ursache und Wirkung seiner selbst. Wie Kant weiter argumentiert, erzeuge er »sich auch selbst als Individuum«, insofern er sich auf ein ihm einwohnendes Ziel hin bilde – und das »vermittelst eines Stoffes, der, seiner Mischung nach, sein eignes Produkt ist«. (KU 482) Auch das »Wachstum« sei deshalb »einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Namen, gleich zu achten«. (KU 482) Und schließlich, in dritter Hinsicht, »erzeugt ein Teil dieses Geschöpfs sich auch selbst so: daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung der andern wechselsweise abhängt«. (KU 483) Diesen Aspekt nun, der für die folgenden Ausführungen wichtig ist, erläutert Kant wie folgt: Das Auge an einem Baumblatt, dem Zweige eines andern eingeimpft, bringt an einem fremdartigen Stocke ein Gewächs von seiner eignen Art hervor, und eben so das Pfropfreis auf einem andern Stamme. Daher kann man auch an demselben Baume jeden Zweig oder Blatt als bloß auf diesem gepfropft oder okuliert, mithin als einen für sich selbst bestehenden Baum, der sich nur an einen andern anhängt oder parasitisch nährt, ansehen. Zugleich sind die Blätter zwar Produkte des Baums, erhalten aber diesen doch auch gegenseitig; denn die wiederholte Entblätterung würde ihn töten, und sein Wachstum hängt von ihrer Wirkung auf den Stamm ab. (KU 483)

Kant: »Kritik der Urteilskraft«, S. 482. Weitere Nachweise mit der Sigle »KU« und Seitenzahl im Text. 21 Kant knüpft hiermit an Buffons Definition der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft an. Vgl. Buffon: Histoire naturelle, Bd. 4, S. 377−432. 20



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Kant ergänzt diese Ausführungen, indem er »im Vorbeigehen« noch zwei der »wundersamsten Eigenschaften organisierter Geschöpfe« erwähnt: die Regenerationsfähigkeit von Organismen, die Johann Friedrich Blumenbach wenige Jahre zuvor so prominent erforscht hatte,22 und die »Selbsthülfe der Natur« bei »Mißgeburten und Mißgestalten im Wachstum«. (KU 483) Doch mag der Verweis auf diese Phänomene, die in den generationstheoretischen Debatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viel beachtet wurden,23 hier nur als Kontext der Passage zur Aufpfropfung dienen – denn diese ist für sich schon bemerkenswert genug. Wie gesehen, führt Kant die Pfropfung hier nicht als Variante der zuvor schon diskutierten Fortpflanzung ein; ihm geht es also nicht um den bei Medicus besprochenen Gegensatz von natürlicher und vermeintlich widernatürlicher Reproduktion. Vielmehr versucht er mit ihrer Hilfe zu belegen, dass der Organismus nicht nur als Gattung und Individuum, sondern – als ›Dividuum‹, wie man sagen müsste  –  auch teilweise, in der Wechselwirkung von Teilen und Ganzem Ursache und Wirkung seiner selbst ist.24 Im Beispiel der Entblätterung bringt Kant dieses Wechselverhältnis scheinbar am deutlichsten zum Ausdruck, indem er erklärt, dass die Blätter einerseits Produkte des Baums seien, ohne die dieser andererseits aber sterben würde. Auf eine verschränktere, dem Organismus zweifellos angemessere Weise führte er dieses Verhältnis aber schon mit den Pfropfungen ein, wenn er in diesen eine Vorwegnahme des Ganzen durch die Teile geleistet sieht. Auffallend ist an dieser Passage indes weniger, dass Kant dem Pfropfen in der Metaphorik des Parasitären erneut den Doppelsinn verleiht, den er schon in die Kritik der praktischen Vernunft eingebracht hatte. Eher erstaunt, dass  –  und wie  –  er das Modell des Pfropfens nutzt, um eine Bestimmung aller Organismen zu gewinnen. Wenn ein Pfropfreis, so erklärt er, sich auf einer fremden Unterlage als Ganzes ausbildet, enthalten auch alle anderen Zweige und Blätter bereits einen vollständigen Organismus; unabhängig von allen Pfropfungen müssen sie deshalb als »für sich selbst bestehender Baum« angesehen werden. Im Umkehrschluss könnte man sagen: Was sich nicht aufpfropfen lässt, ist kein Organismus. An dieser Argumentation erstaunt nicht nur, dass sie kaum noch einen Schritt von der berühmten Formel entfernt ist, die Goethe kurz zuvor als Grundlage seiner Metamorphosenlehre und Morphologie in Italien notiert hatte: »Alles ist Vgl. Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Vgl. allgemein Müller-Sievers: »Über Zeugungskraft«. 24 Peter McLaughlin weist darauf hin, dass Buffon und Blumenbach den Organismus auf ähnliche Weise durch »nutrition«, »développement« und »génération« (Buffon: Histoire naturelle, Bd. 2, S. 18−73) oder »Generation, Nutrition und Reproduction« (Blumenbach: Über den Bildungstrieb, S. 13) bestimmt sahen. Vgl. McLaughlin: »Kants Organismusbegriff«, S. 104. 22 23

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Blatt«.25 Außerdem fällt auf, dass es Kant hier nur mittels der Kulturtechnik des Pfropfens und der von ihr implizierten Logik gelingt, jene Besonderheit der belebten Natur herauszuarbeiten, dass diese in ihren Teilen ein Ganzes bleiben kann. Im Unterschied dazu belegen die »im Vorbeigehen« erwähnten »Mißgeburten und Mißgestalten« bloß, dass Organismen auch ohne ein Teil ganz sein mögen; die »Entblätterung« hingegen erinnert lediglich an die Unmöglichkeit eines Ganzen ohne Teile. Die mithilfe der Aufpfropfung getroffene Bestimmung, dass ein Organismus in seinen Teilen Ursache und Wirkung seiner selbst ist, erweist sich im Fortgang der Kritik der Urteilskraft als entscheidend. Denn gerade das von ihr eingebrachte Verhältnis der Teile zu einem Ganzen, das die bereits zitierte »vorläufige« Formulierung des Na­turzwecks nicht expliziert – »ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist« (KU 482) –, nimmt Kant im Folgenden auf. In § 65 bringt er es zunächst auf die Erklärung, zu »einem Dinge als Naturzweck« sei erforderlich, »daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind«. (KU 484) Diese Bestimmung, die noch allein auf die wechselseitige Relation der Teile zum Ganzem zielt, präzisiert er dann im Hinweis darauf, »daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«. (KU 485) Auf diesem, durch die Pfropfung gewiesenen Weg gelangt er in § 66 dann schließlich zur Definition des Naturzwecks: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«. (KU 488)

III. Den damit eröffneten Weg, aus der Aufpfropfung jene Logik des Lebendigen zu erklären, derzufolge ein Ganzes auch in seinen Teilen ganz bleiben kann, scheint Goethe nicht zu gehen. Auffallend ist dafür zunächst, dass er die Pfropfmetapher gleich mehrfach zur Rechtfertigung der Metamorphosenlehre, zur Erklärung ihrer Entstehung und Rezeption nutzt. Nicht nur beschreibt er die vor allem auf Sizilien gewonnenen oder, wie es ihm im Rückblick der Italienischen Reise erscheinen will, genial eingegebenen Ideen »über organische Natur, deren Bilden und Umbilden« als »gleichsam [eingeimpft]«.26 Auch zur ihn enttäuschenden Aufnahme der Metamorphosenlehre erklärt er in Der Inhalt wird bevorwortet, dass sie zumindest manche Nachfolger gefunden habe, dass »manches von daher 25 26

Goethe: »Hypothese«, S. 84. Goethe: »Italienische Reise«, S. 434.



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Entsprungene, durch Tradition in der wissenschaftlichen Welt Fortgepflanzte« inzwischen doch gewisse Früchte trage, »ob man gleich nicht immer den Garten benamset der die Pfropfreiser hergegeben«.27 Indes zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass Goethe die Möglichkeiten der Pfropfmetapher nicht nur im Blick auf die Kontextualisierung der Metamorphosenlehre, sondern auch auf ihre innere Begründung gesehen und genutzt hat – nur scheint er das seinerseits nicht »benamsen« zu wollen. Deutlich belegen das bereits die Lektürespuren in seinem Handexemplar der Kritik der Urteilskraft. Nach der doppelten Anstreichung der »vorläufigen« Definition des Naturzwecks in § 64 schließt Goethe aus der besprochenen Pfropfungspassage hier auf die »Gleichgültigkeit des Pflanzenreichs«,28 auf die alle Pflanzenindividuen gleichermaßen betreffende Gültigkeit der Bildungsgesetze, die er mit der Metamorphosenlehre behauptet. Vorbereitet wurde diese Lektüre durch die eigenen Studien zur Pflanzenentwicklung. In den unmittelbar nach der Rückkehr aus Italien verfassten Notizen hatte Goethe die dem Blatt hierbei zukommende Sonderstellung bereits in die Formulierung von der »Wichtigkeit dieses abfälligen und doch mit der Pflanze innig verbundenen Körpers«29 gefasst. Deutlicher noch wird er im 1790 veröffentlichten Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Um die letztlich »wohl mit dem Verstande, keineswegs aber mit den Sinnen«30 erkennbare Identität von Augen – im Sinne von Knospen – und Samen zu belegen, erklärt er hier in § 89: Das Auge bedarf keiner Kotyledonen; weil es mit seiner schon völlig organisierten Mutterpflanze zusammenhängt, und aus derselbigen, so lang es mit ihr verbunden ist, oder, nach der Trennung, von der neuen Pflanze auf welche man es gebracht hat; oder durch die alsobald gebildeten Wurzeln, wenn man einen Zweig in die Erde bringt, hinreichende Nahrung erhält.31

Obgleich Goethe auch hier nicht explizit von einer Pfropfung, sondern vom Aufbringen einer Knospe auf eine neue Pflanze redet, argumentiert er doch mit ihr: Er nutzt sie auf eine zumindest ähnliche Weise wie Kant, um einen Pflanzenteil als in sich vollständig zu beschreiben. Wo es Kant aber darum ging, von dieser Ganzheit eines Teils zur Definition des Organismus zu gelangen, versucht Goethe, die Identität von Wachstum und Fortpflanzung zu behaupten  –  in § 64 der Kritik der Urteilskraft hat Kant diese Identität, wie gesehen, unter dem Stichwort der individuellen Zeugung behandelt. 29 30 31 27 28

Goethe: »Der Inhalt wird bevorwortet«, S. 405. Molnár: Goethes Kantstudien, S. 123f. und 326f. Goethe: »Gesetze der Pflanzenbildung«, S. 101. Goethe: »Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären«, S. 139. Ebd., S. 138f.

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Warum Goethe es vermeidet, die Geburt der Metamorphose und Morphologie explizit aus dem Geist der Pfropfung zu erklären, darüber soll hier nicht weiter spekuliert werden; seine Zurückhaltung gegenüber festen Terminologien mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie seine deutliche Zurückweisung aller Eingriffe in den »gemessenen Schritt« und die »[langsamen] Übergänge« der Natur.32 Stattdessen soll nun in Anbetracht von zwei weiteren, ganz unterschiedlichen Passagen untersucht werden, wie Goethe Pfropfungen im »verblümten Verstande«33 verwendet. Die erste dieser Passagen findet sich in dem 1773 erschienenen Text Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. In dieser frühen Abhandlung zitiert Goethe die paulinische Pfropfmetapher, um den Gültigkeitsbereich des alttestamentlichen Dekalogs abzustecken und den zeitgenössischen Disput über die Universalität oder Partikularität der Bibel und ihrer Lehren zu schlichten. Hatte Paulus mit Hilfe des Pfropfens noch, wie es bei Zedler heißt, »die Auf- und Annahme der Heyden zu Christo und in sein Gnaden-Reich«34 vorgebildet, nutzt der die Zwo Fragen vorbringende »Landgeistliche in Schwaben«35 die Pfropfmetapher hier, um »einen Ausritt in das so verwachsene Dickigt« (131) dieser Debatten zu wagen und »die Mittelstraße« (133) zu markieren: Das jüdische Volk seh ich für einen wilden unfruchtbaren Stamm an, der in einem Kreis von wilden unfruchtbaren Bäumen stund, auf den pflanzte der ewige Gärtner das edle Reis Jesum Christum, daß es, darauf bekleibend, des Stammes Natur veredelte, und von dannen Pfropfreiser zur Befruchtung aller übrigen Bäume geholt würden. Die Geschichte und Lehre dieses Volks, von seinem ersten Keime bis zur Pfropfung ist allerdings partikular […]. Von der Pfropfung an wendet sich die Sache. Lehre und Geschichte werden universell. Und obgleich jeder von daher veredelte Baum seine Spezialgeschichte, und nach Beschaffenheit der Umstände seine Speziallehre hat, so ist doch meine Meinung: hier sei so wenig partikulares als dort universelles zu vermuten und zu deuten. (133) Ebd., S. 111 und 126. Art. »Pfropffen«, in: Universallexicon, Bd. 27, Sp. 1683. 34 Im Zedler beginnt der Artikel »Pfropffen« mit dem Verweis auf Römer 11, 17−24, der unter Herausstellung eines parasitären Nebensinns so erläutert wird: »Denn wie ein fremdes Pfropffreißlein in einen fremden Baum gepfropfft, daß es aus demselben Safft und Krafft saugen, wachsen, blühen, und Früchte tragen könne: also wurden die Heyden unter die Juden gepfropffet«. Ebd., Sp. 1683. 35 Goethe: »Zwo wichtige biblische Fragen«, S.  132. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.  –  Mit der Figur des »Landgeistlichen in Schwaben«, dessen pietistische Frömmigkeit auf die Formel: »die einzige brauchbare Religion muß einfach und warm sein«, gebracht wird (ebd.), bezieht Goethe sich auf Hamanns Beylage zun [!] Denkwürdigkeiten des seligen Sokrates, die in ihrem Untertitel ebenfalls erklären, »Von einem Geistlichen in Schwaben« zu stammen. Dass Goethe in der Beantwortung der ersten Frage die spinozistische Bibelkritik aktualisiert, erklärt Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza, S. 57−61. 32 33



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In dieser Passage pfropft Goethes Landgeistlicher seiner Argumentation aber nicht nur eine biblisch vorgeprägte Metapher ein, um mittels der zur Pfropfung erschaffenen und von ihr durchwachsenen Schnittstelle zwischen »jüdischem Volk« und »edlem Reis« Jesu die »partikulare« und »universelle« Lehre und Geschichte sowohl zu unterscheiden als auch zu verbinden. Darüber hinaus zeigt sich, dass der Landgeistliche mit dieser Passage selbst eine Schnittstelle schafft, indem er zunächst eine »Mittelstraße« in das »verwachsene Dickigt« der zeitgenössischen theologischen Debatten schlägt und diese »Mittelstraße« sodann durch den »Deutpfahl« (133) der biblischen Pfropfmetapher markiert. Paulus’ Rede von der Aufpfropfung wird hier insofern nicht bloß zitiert. Als ein Moment, das die Argumentation der Zwo wichtigen bisher unerörterten biblischen Fragen strukturiert, hat sie ihren Kontext außerdem schon im Vorhinein durchdrungen – oder, zugespitzt formuliert: ebenso infiziert wie veredelt. Im Unterschied zu den Zwo Fragen haben die Pfropfungen der Wahlverwandtschaften ungleich größere Berühmtheit erlangt. Gleich im Einsatz des Romans heißt es: Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. Sein Geschäft war eben vollendet; er legte die Gerätschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnügen, als der Gärtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleiße des Herrn ergetzte.36

Obgleich diese Pfropfungen die einzigen bleiben, die in dem von landschaftsarchitektonischen Diskursen durchzogenen Roman vollbracht werden, exponiert Goethe hiermit einen weiten Hintergrund. Wenn Eduard sich im Ausgang der nachmittäglichen Gartenarbeit auf den Weg begibt, den ihm der Gärtner eigenartigerweise erst weisen muss, auf den Weg zu den von Charlotte gestalteten neuen Parkanlagen, dann reflektiert der Roman nicht nur die das späte 18. Jahrhundert kennzeichnende »Trennung von ›Gartenkunst‹ und ›Gärtnerei‹«.37 Viel deutlicher noch bezeichnen die Pfropfungen die Melancholie38 und das Dilettantentum des Protagonisten. Vor allem der Umstand, dass Eduard die »frisch erhaltenen Pfropfreiser« auf »junge Stämme« aufbringt und nicht auf kräftige, wilde, ältere Bäume, Goethe: »Die Wahlverwandtschaften«, S.  271. Weitere Nachweise mit der Sigle »WV« und Seitenzahl im Text. 37 Gamper: »Die Natur ist republikanisch«, S. 22. 38 Wie Eduard schon durch das Pfropfen in das Zeichen Saturns gestellt wird, des Gottes und Planeten der Melancholie, deutet Waltraud Wiethölter im Kommentar zu den Wahlverwandtschaften in der Frankfurter Ausgabe kurz an. Vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 1017f. 36

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scheint hierauf zu deuten – auch wenn von einem Misslingen dieser Pfropfungen später nicht die Rede ist. Angedeutet wird lediglich die Skepsis des konservativen Gärtners. Dass sein »Ergetzen« auf »den teilnehmenden Fleiß des Herrn« beschränkt bleibt, wird im Fortgang des Texts dadurch bekräftigt, dass er diese Pfropfungen für einen Spleen der »Herrschaft« und »für unnützen Aufwand und Verschwendung« (WV 460) erklärt. Von diesem Standpunkt aus lässt sich bereits das den Roman eröffnende Aufbringen der Pfropfreiser als Zeichen jenes Unglücks verstehen, das den »reichen Baron im besten Mannesalter« ebenso wie die anderen Hauptfiguren zu verfolgen scheint: So sehr sie sich von Anbeginn der Wahlverwandtschaften bemühen, den Gang der Natur zu lenken, so sehr bergen diese Versuche immer schon den Keim des Scheiterns und Verfehlens.39 Dass die Pfropfmetapher sich nach Eduards Versuchen schon fast im Spiel des Romans erschöpft zu haben scheint, ist nicht verwunderlich angesichts des ästhetisch geprägten Modells der Gartenkunst,40 auf das die Wahlverwandtschaften sich besonders in der Gestaltung der Parkanlagen beziehen. Der Blick auf handwerkliche Verfahren wie die Pfropfung gerät dabei zugunsten eines scheinbar natürlichen Gesamteindrucks, zugunsten des ästhetischen Scheins der Landschaft in den Hintergrund. Einer solchen, tatsächlich aufs Ganze gehenden Gartentheorie hatte nicht nur Medicus das Wort geredet, indem er mit Blick auf den »Systematischen Garten einer Hohen Schule« forderte, dass dieser »keine Raritätenkammer, sondern ein philosophischer Garten seyn« solle.41 Viel mehr noch bahnte Christian Cay Lorenz Hirschfeld dieser Auffassung den Weg. Im »Vorbericht« der von 1779 bis 1785 publizierten Theorie der Gartenkunst, die Goethe gut bekannt war, erinnerte er deshalb daran, »daß man die Gartenkunst von botanischer und ökonomischer Gärtnerey zu unterscheiden habe«.42 Sodann erklärte er, dass er sich bloß »auf das Schöne und den Geschmack« beziehe: »Was zur Erziehung und Wartung der Bäume und Pflanzen gehört, ist schon in tausend Schriften gelehrt, und liegt außer meinem Bezirk«.43 Vgl. Vogl: »Mittler und Lenker«; sowie ders.: Kalkül und Leidenschaft, S. 289−310. Zum diskursgeschichtlichen Hintergrund vgl. vor allem Gamper: »Die Natur ist republikanisch«; und, mit stärkerem Bezug auf Goethe, Polianski: Die Kunst, die Natur vorzustellen. 41 Medicus: Beiträge zur schönen Gartenkunst, S.  129. Obgleich Goethes Bibliothek nur ein Heft von Medicus’ 1791 publizierter Philosophischer Botanik enthielt (vgl. Ruppert: Goethes Bibliothek, S.  700), ist anzunehmen, dass er mit den Beiträgen zur schönen Gartenkunst bekannt war. Ausgehend davon versucht Igor Polianski zu zeigen, dass der 1794 unter Goethe »neugegründete botanische Garten zu Jena inhaltlich in vieler Hinsicht dem von Medicus entworfenen Konzept eines systematischen Gartens einer Hohen Schule entsprach«. Polianski: »Der außerordentliche Garten«, S. 214. 42 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. x. 43 Ebd., S. xi. 39 40



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Doch ist diese Abkehr von der Pfropfung nicht allein durch die Hinwendung zur Gartenkunst zu erklären, die die »botanische und ökonomische Gärtnerey« als ein schon tausendmal behandeltes Relikt einer auf Nützlichkeit bedachten Aufklärung erscheinen lässt. Überlagert wird sie durch die Orientierung an der Chemie, der Goethe eine mehrpoligere, bereits in sich dynamische Wissensfigur, ein neueres  –  und doch schon veraltetes – »Gleichnis« entnimmt, um die Handlung des Romans zu modellieren: das Konzept der doppelten Wahlverwandtschaften. Infolge dieses Phänomens, das Goethe sowohl durch die Arbeiten Torbern Bergmans und Friedrich August Göttlings als auch durch Berthollets revolutionäre Absage an das klassische Affinitätskonzept bekannt war,44 führt die Berührung zweier stabiler Paare  –  sie werden A und B, C und D genannt  –  zu der bekannten, den Romanverlauf angeblich formenden Umgruppierung, die der Hauptmann wie folgt erläutert: »A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe«. (WV 306)45 Solch eine handlungsgestaltende Energie birgt das Modell der Pfropfung nicht. Dass es die Wahlverwandtschaften dennoch untergründig prägt, zeigen die Anschlüsse an die eingangs durchgeführten Okulationen. So bemerkt Ottilie am Ende des ersten Romanteils, als sie im Herbst die Rückkehr des plötzlich verreisten Eduard erwartet, »daß die Pfropfreiser dieses Frühjahrs alle so gar schön bekommen«. (WV 383) Doch wird mit dieser Bemerkung nicht nur ein weiteres Band zwischen Ottilie und dem abwesenden Geliebten geknüpft. Auch dem Gärtner, »dem guten alten Manne«, dienen die Pfropfreiser als Anlass, um Hoffnung auf die schnelle Rückkehr seines Herrn zu äußern: Wäre er diesen Herbst hier, so würde er sehen, was für köstliche Sorten noch von seinem Herrn Vater her im Schlossgarten stehen. Die jetzigen Herren Obstgärtner sind nicht so zuverlässig als sonst die Carthäuser waren. In den Katalogen findet man wohl lauter honette Namen. Man pfropft und erzieht und endlich wenn sie Früchte tragen, so ist es nicht der Mühe wert, daß solche Bäume im Garten stehen. (WV 383)

Diese Klage über den Niedergang einer alten Pfropfungskultur verweist einmal mehr auf den »immer schärferen Sog der Zeit«,46 dem die Wahl Vgl. Adler: Eine fast magische Anziehungskraft; Hoffmann: »›Zeitalter der Revolutionen‹«, insb. S. 417−434; Stengers: »Die doppelsinnige Affinität«. 45 Zu den Differenzen zwischen dem »chemischen Gespräch« und dem Romanverlauf vgl. be­ son­ders Hoffmann: »›Zeitalter der Revolutionen‹« und zuletzt Kim: »Ottilie muß sterben«. 46 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S.  291. Die die Wahlverwandtschaften prägenden Modernisierungen versucht Vogl übrigens als »Effekt des neueren Funktionswissens« zu beschreiben, »das sich in die häusliche Ordnung inokuliert«. Ebd., S. 294. Ebenso ders.: »Mittler und Lenker«, S. 148. 44

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verwandtschaften von Beginn an unterworfen sind. Räumlich zeigt dieser Sog sich vor allem in der Vernachlässigung des Schlossgartens durch das Hauptpersonal, insbesondere durch Charlotte und den Hauptmann, deren Aktivitäten sich deutlich auf die landschaftliche Umgestaltung der neuen Parkanlagen konzentrieren. Obgleich der väterliche Schlossgarten daher nicht nach Maßgabe eines ästhetischen Gesamteindrucks umgearbeitet worden ist, zeigt die Pfropfungspraxis jedoch, dass die stetigen Modernisierungen auch ihn nicht unberührt gelassen haben. Im Zuge einer zunehmenden, die Übereinkunft von adliger und religiöser Ordnung sprengenden Funktionalisierung wird er nun nicht mehr von zuverlässigen Karthäusermönchen, sondern von spezialisierten Obstgärtnern bearbeitet – sofern die »Herrschaft« nicht selbst dilettantisch, »nach zufälligen Eindrücken, an der Natur [herumversucht]«. (WV 290) Und auch wenn diese Obstgärtner nicht zu Zwecken der von Medicus beklagten »Geldschrupperei« pfropfen, bedienen sie sich dieser Kulturtechnik doch auf eine ähnlich kurzsichtige und, so der altmodische Gärtner, ähnlich widernatürliche Weise: Sie pfropfen nicht mehr um der »köstlichen Sorten«, sondern allein um der »honetten Namen« willen. Im zweiten Teil des Romans werden diese Diskussionen über den Schlossgarten und das Pfropfen in pädagogischer und ökonomischer Hinsicht wieder aufgenommen. Konnte bereits Ottilies Aufmerksamkeit für die Pfropfreiser des vergangenen Frühjahrs auch als Verweis auf ihre erzieherischen Interessen verstanden werden – nicht umsonst geht Ottilie in Begleitung Nannys zu den Obstbäumen –, dient der Garten nun als Gegenstand eines Gesprächs zwischen Charlotte und dem Gehülfen. Nachdem er, wie es heißt, »an einem der schönen Tage, an welchen der scheidende Winter den Frühling zu lügen pflegt, durch den großen alten Schloßgarten gegangen war und die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards Vater herschrieben, bewundert hatte« (WV 453), diskutiert der Gehülfe mit der hochschwangeren Charlotte das Verhältnis von Vater und Sohn. Ebenso wie sich, nach Charlottes Bemerkung, niemand mehr »in einem Garten behaglich« fühle, »der nicht einem freien Lande ähnlich sieht«, sei es – antwortet der Gehülfe – »möglich, daß Ihr Sohn die sämtlichen Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Großvaters zurückzieht«. (WV 454) Auf Charlottes anschließende Frage, ob solch ein Pendeln zwischen den Generationen nicht auch vermieden, ob »Vater und Sohn, Eltern und Kinder nicht in Übereinstimmung« gebracht werden können, erwidert der Gehülfe mit dem Verweis auf »ein vernünftiges Mittel […], das aber von den Menschen selten angewandt wird«:



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Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen, pflanzen, und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschädliche Willkür. Eine Tätigkeit lässt sich in die andre verweben, keine an die andre anstückeln. Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufügen ist. (WV 455)

Der Gehülfe führt die Pfropfung hiermit als Metapher eines »vernünftigen Mittels« ein, das den Sohn zum »Mitbesitzer« erhebt und die Tätigkeiten von Vater und Sohn unter Beibehaltung »unschädlicher Willkür« nicht gegenseitig »anzustückeln«, sondern miteinander zu »verweben« erlaubt.47 Im Unterschied zur um 1800 häufigen Verwendung der Pfropfung zur Bezeichnung widernatürlicher Prozesse gebraucht er sie damit scheinbar ungetrübt positiv, als Bild der vernünftigen Verwebung von Jung und Alt. Entsprechend seiner pädagogischen Maxime: »Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es überall wohl stehn« (WV 446),48 geht es ihm dabei aber vor allem um das konservative Potential dieser Verwebung, um die Möglichkeit einer bruchlosen Übertragung der väterlichen Entwürfe und die Beschneidung schädlicher Willkür auf Seiten der Jugend.49 Im Gegensatz dazu werden Pfropfungen im Gartenbau gerade genutzt, um junge Zweige schneller fortzupflanzen und alte Stämme zu kultivieren. Indes bezieht der Gehülfe sich nicht nur auf pädagogische Fragen. Wenn er den aufs »Nützliche« gerichteten Schlossgarten dazu als Ort der »Selbstbeschränkung« charakterisiert, die »ins Freie und Weite« gerichteten Parkanlagen hingegen durch »Überfluß« und »Verschwendung« gezeichnet sieht (WV 454f.), dann folgt er der bereits vom Gärtner geäußerten Kritik – wobei er anders als dieser übersieht, dass die moderne Bearbeitung auch hier schon auf Kosten der natürlichen und häuslichen Ökonomie gegangen ist. Gänzlich aus der Bahn gerät der Schlossgarten aber erst Goethes Vater scheint sich eines solch »vernünftigen Mittels« nicht bedient zu haben. Zumindest bemerkt Goethe in »Dichtung und Wahrheit«, seine Schwester und er seien vor den »didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen« des Vaters »gewöhnlich zu den Großeltern« geflüchtet. »Gewöhnlich eilten wir sogleich in den Garten«, heißt es weiter, wo der Großvater allabendlich »mit behaglicher Geschäftigkeit die feinere Obst- und Blumenzucht« besorgt habe: »und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschäftigte«. Goethe: »Dichtung und Wahrheit«, S. 45f. – In dieser Passage, die Goethe nicht zufällig an die Diskussion der »Einimpfung« der Pocken und die Schilderung seines heftigen »Blattern«-Leidens anschließt (43), wird damit nicht nur abermals eine Generation übersprungen. Auch ein auf Nutzen zielendes Pfropfungswissen schreibt Goethe hier erneut nur einer als »altertümlich« geschilderten, zum »würdigen Greis« stilisierten Figur zu. (46) 48 Vgl. hierzu Kittler: »Ottilie Hauptmann«. 49 Zur Verwendung dieser Pfropfungsmetapher in einer noch von der Erbsündenlehre geprägten Pädagogik vgl., mit Blick auf die ›Hausväterliteratur‹, Hoffmann: Die ›Hausväterliteratur‹ und die ›Predigten über den christlichen Hausstand‹, S. 151f. 47

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nach Lucianes Ankunft, der modernen Gegenfigur zur im Wortsinn ökonomischen, sich bis in den Tod selbstbeschränkenden Ottilie. Nachdem Luciane den »[ruhigen] Gang«, den eine »Pflanze zur dauernden und zur vorübergehenden Vollendung nimmt«, durch wilde Feste unterbrochen und die Gartennatur durch maßlose Verschwendung weiter aus dem Gleichgewicht gebracht hat,50 tröstet Ottilie den Gärtner »über manche durch Lucianens Wildheit entstandene Lücke unter den Topfgewächsen, über die zerstörte Symmetrie mancher Baumkrone«. (WV 459) Bei dieser Gelegenheit erneuert der Erzähler die Sorgen des alten Gärtners, die diesen immer mehr als Überlebenden eines längstvergangenen Jahrhunderts erscheinen lassen. Trotz seiner unbestrittenen Kunstfertigkeit – »ob er gleich alles was die Baum- und Küchengärtnerei betraf, auch die Erfordernisse eines älteren Ziergartens, vollkommen zu leisten verstand«  –  seien ihm, so heißt es, doch die neuen Zierbäume und Modeblumen einigermaßen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das sich nach der Zeit auftat, und den darin herumsummenden fremden Namen, eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich machte. Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er umso mehr für unnützen Aufwand und Verschwendung, als er gar manche kostbare Pflanze ausgehen sah, und mit den Handelsgärtnern […] in keinem sonderlichen Verhältnisse stand. (WV 460)

IV. Somit zeigt vor allem das Beispiel des alten Schlossgartens, der – Ironie der Geschichte – schließlich nicht durch Lucianes Feste, sondern durch Ottilies Beerdigung im Herbst so »verödet« wird, »als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt hätte« (WV 523), dass Goethe das Modell der Pfropfung ganz anders als Kant verwendet. Dieser hatte die Pfropfmetapher in die Kritik der praktischen Vernunft eingebracht, um das Verhältnis von Achtung und wahrer Tugend entsprechend dem Doppelsinn von Impfen und Okulieren in Medizin und Gartenbau zu erklären; in der Kritik der Urteilskraft hingegen gebrauchte er sie, um zur Bestimmung des Naturzwecks zu gelangen. Diese Wege verfolgt Goethe nicht weiter: Weder wendet er die Pfropfung ins Negative,51 noch begründet er seine Or Auch das überträgt der Erzähler ins Pädagogische, wenn er den »[ruhigen] Gang« der Pflanze mit den »eigensinnigen Menschen« vergleicht, »von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt«. (WV 459f.) Dem entspricht die versuchte Heilung der »Seelenkranken«, an der Luciane scheitert, »eben weil sie Aufsehn erregen wollte«. (WV 435) 51 Dem entspricht Goethes positive Bewertung der Vakzination, der »Impfung der Schutzblattern«. Eckermann: Gespräche mit Goethe, 19. Feb. 1831, S. 426; vgl. auch Goethe: 50



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ganismustheorie explizit durch die Möglichkeit des Okulierens – obgleich er, wie besonders die Eintragungen in sein Handexemplar der Kritik der Urteilskraft gezeigt haben, sowohl diese Möglichkeit als auch die Berührungen zwischen Kants Organismustheorie und seiner Metamorphoselehre erkannt hat. Stattdessen nutzt er die Pfropfungen in einem historisch und ökonomisch differenzierten Sinn  –  und diese historische Differenzierung mag den Verzicht auf die Begründung der Metamorphoselehre aus der Logik der Pfropfung ebenfalls bestimmt haben. In den Wahlverwandtschaften zeichnet er mit ihrer Hilfe einen Gegensatz zwischen der vermeintlich sanften Ökonomie der Natur, der die Karthäusermönche im väterlichen Schlossgarten folgten, und der verschwenderischen Ökonomie des modernen Menschen, die Luciane am deutlichsten verkörpert. Dieser Gegensatz, den besonders konservative Romanfiguren wie der Gärtner und der Gehülfe betonen, scheint zunächst der von Medicus vorgebrachten Kritik am Pfropfen zu entsprechen. Doch argumentieren die Wahlverwandtschaften subtiler. Während Medicus das Pfropfen als angeblich widernatürliches Verfahren kennzeichnet, ist es für den Gärtner durchaus mit dem Gang der Natur vereinbar, solange es um der nützlichen Sache und nicht um der »honetten Namen« willen praktiziert wird. Dem Gehülfen dient es sogar als Modell einer vermeintlich harmonischen Erziehung, als Bild einer vernünftigen und naturgemäßen Verbindung und Verwebung der Generationen. Diese deutlich positive Auffassung ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auffassung der Pfropfmetapher bemerkenswert. Denn auf prominente, obgleich ganz anders geartete Weise wird Derrida die Pfropfung dann wieder als – immer schon beanspruchte – Möglichkeit der Verwebung begreifen, wenn er erklärt, dass »die Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens« der »Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens« eigen ist.52 Nach Blumenberg müsste die Pfropfung »Dichtung und Wahrheit«, S. 43f. und Goethe: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, S. 551. Für den Hinweis auf diese Stellen danke ich Dominik Hagel. Kant dagegen zeigte sich, wie Friedrich Theodor Rink übermittelt, in den 1790er Jahren noch gegen die »Schutzblattern […] wie gegen die Blatternimpfung überhaupt eingenommen«, da er befürchtete, »sie könnten […] eine gewisse Bestialität in die Menschennatur übertragen. Die Impfung überhaupt aber betrachtete er in den letzten Jahren, als eine wahrscheinlich schädliche Anmaßung, da sich die Vorsehung der Blattern und des Krieges, als zweyer großen Mittel zu bedeutenden Zwecken zu bedienen scheine«. Malter: Immanuel Kant in Rede und Gespräch, S. 480. Vgl. hier dann auch die Parallelisierung von Pädagogik und Pockenimpfung bei Rink selbst: »Die Pädagogik hat neuerdings durch die Bemühungen mehrerer verdienter Männer, namentlich eines Pestalozzi und Olivier, eine neue interessante Richtung genommen, zu der wir dem kommenden Geschlechte, nicht minder, als zu den Schutzblattern Glück wünschen dürfen«. Rink: »Über Pädagogik«, S. 695. 52 Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, S. 32. Vgl. hierzu Wirth: »Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur‑ und Mediengeschichte«.

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Michael Bies

als Metapher noch als Reaktion auf eine der Sprache vorgängige »logische ›Verlegenheit‹«53 verstanden werden: als Reaktion auf die Verlegenheit, eine Vereinigung zweier Dinge bezeichnen zu wollen, bei der diese Dinge dennoch nicht verschmolzen, sondern getrennt gehalten werden. Bei Derrida ist diese Figur nun nicht mehr vorsprachlich begründet, sondern in die »Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens« eingewandert. Aus der »Verlegenheit« ist bei ihm eine Notwendigkeit geworden – die er dennoch, wenig verlegen, metaphorisch bezeichnen muss. Doch ist das eine andere Geschichte. Literatur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Mit D. W. Soltau’s Beyträgen, revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger, Wien 1811. Adler, Jeremy: »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit, München 1987. Blumenbach, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781 (Reprint, Stuttgart 1971). Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998. Bollacher, Martin: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs, Tübingen 1969. Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de: Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roy, Paris 1749−1789. D’Alembert, Jean Le Rond  /  Denis Diderot: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, Paris u. a. 1751−1780. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders.: Limited Inc., hg.  v. Peter Engelmann /übers.  v. Werner Rappl unter Mitarb. v. Dagmar Trauner, Wien 2001, S. 15−45. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg.  v. Fritz Bergemann, Wiesbaden 1955. Gamper, Michael: »Die Natur ist republikanisch«. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Hendrik Birus  /  Dieter Borchmeyer  /  Karl Eibl u. a., Frankfurt a. M. 1985−1999. – »Die Wahlverwandtschaften«, Bd. 8, S. 269-531. – »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, Bd. 10. – »Dichtung und Wahrheit«, Bd. 14, S. 8−851. – »Italienische Reise«, Bd. 15 / I, S. 9−935. – »Zwo wichtige biblische Fragen«, Bd. 18, S. 131−134. – »Der Inhalt bevorwortet«, Bd. 24, S. 402−406. – »Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie ausgehend von der Osteologie«, Bd. 24, S. 227−263. – »Gesetze der Pflanzenbildung«, Bd. 24, S. 98−109. – »Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären«, Bd. 24, S. 109−152. Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst, Leipzig 1779−1785. Hoffmann, Christoph: »›Zeitalter der Revolutionen‹. Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 67 (1993), S. 417−450. Hoffmann, Julius: Die ›Hausväterliteratur‹ und die ›Predigten über den christlichen Hausstand‹. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim u. a. 1959. Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983. – »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, Bd. 1, S. 825−884.

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Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 10.



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– »Kritik der reinen Vernunft«, Bd. 2. – »Kritik der praktischen Vernunft«, Bd. 4, S. 107−306. – »Kritik der Urteilskraft«, Bd. 5, S. 171−620. – »Über Pädagogik«, Bd. 6, S. 691−765. Kim, Hee-Ju: »Ottilie muß sterben. Zum ›Ungleichnis‹ zwischen chemischer und menschlicher Natur in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften«, in: Goethe-Jahrbuch, 124 (2007), S. 85−95. Kittler, Friedrich A.: »Ottilie Hauptmann«, in: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, hg. v. Norbert W. Bolz, Hildesheim 1981, S. 260−275. Knoll, Ilona: Der Mannheimer Botaniker Friedrich Casimir Medicus (1736−1808). Leben und Werk, Heidelberg 2003. Malter, Rudolf (Hg.): Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Hamburg 1990. McLaughlin, Peter: »Kants Organismusbegriff in der Kritik der Urteilskraft«, in: Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765−1844), hg. v. Kai Torsten Kanz, Stuttgart 1994, S. 100−110. Medicus, Friedrich Casimir: Beiträge zur schönen Gartenkunst, Mannheim 1782. Molnár, Géza von: Goethes Kantstudien. Eine Zusammenstellung nach Eintragungen in seinen Hand­ exemplaren der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der ›Kritik der Urteilskraft‹, Weimar 1994. Müller-Sievers, Helmut: »Über Zeugungskraft. Biologische, philosophische und sprachliche Generativität«, in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. v. Hans-Jörg Rheinberger  /  Michael Hag­ ner  /  Bettina Wahrig-Schmidt, Berlin 1995, S. 145−164. Polianski, Igor: Die Kunst, die Natur vorzustellen. Die Ästhetisierung der Pflanzenkunde um 1800, Köln 2004. Polianski, Igor: »Der außerordentliche Garten. Zur Geschichte des Herzoglichen Botanischen Gartens zu Jena«, in: Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800, hg.  v. Gerhard Müller  /  Klaus Ries  /  Paul Ziche, Stuttgart 2001, S. 205−219. Ruppert, Hans: Goethes Bibliothek. Katalog, Weimar 1958. Stengers, Isabelle: »Die doppelsinnige Affinität: Der newtonsche Traum der Chemie im 18. Jahrhundert«, in: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hg.  v. Michel Serres  /  übers.  v. Horst Brühmann, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2002, S. 527−567. Thümmel, August Moritz von: »Die Inoculation der Liebe. Eine Erzählung«, in: Sämmtliche Werke, Bd. 8, Leipzig 1854, S. 93−128. Vogl, Joseph: »Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Poetologien des Wissens um 1800, hg. v. dems., München 1999, S. 145−161. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Wirth, Uwe: »Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur‑ und Mediengeschichte«, in: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), hg.  v. Lorenz Engell  /  Bernhard Siegert  /  Joseph Vogl, Weimar 2006, S. 111−121. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Halle u. a. 1732−1754 (Reprint Graz 1961−1964).

›Blendlinge‹. Zur Theorie der Übersetzung bei Friedrich Schleiermacher Davide Giuriato Ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht immer größer als der Riese selbst? (Herder)

I. Die Kulturtechnik des Übersetzens gehört zu denjenigen Praktiken des Sekundären, die Gérard Genette im Rahmen seiner Untersuchungen zur ›Literatur auf zweiter Stufe‹ als eine Form der ›Transposition‹ klassifiziert hat. Neben den ›ernsten‹ Transpositionen wie Parodie, Travestie, Nachbildung, Persiflage u. a. ist die Übersetzung dadurch charakterisiert, dass sie als »rein formale« Übertragung eine Modifikation des primären Textes nur »infolge einer perversen und nicht angestrebten Konsequenz« bewirkt.1 Im Einklang mit einer langen Tradition von Übersetzungstheorien, deren kaum je ignoriertes Grundproblem von der originären Unübersetzbarkeit im italienischen Sprichwort vom traduttore traditore seinen geflügelten Ausdruck gewonnen hat, beklagt Genette die (literarische) Übersetzung gleichwohl nicht als ein Unfall des Originals. Denn seine Klassifikation macht deutlich, dass er die Übersetzung auf die Produktivität des Reproduktiven perspektiviert. Zwar wird sie idealiter immer wieder darauf verpflichtet, den Sinn des Textes getreu wiederzugeben, dass sie ihn aber nur in dem Maße übertragen kann, wie sie ihn auch modifiziert, ist eine Gesetzmäßigkeit, die durch Genette ihren ebenso angemessenen wie unbestreitbaren systematischen Stellenwert erhalten hat. Diese Aufwertung des Sekundären besitzt eine lange und wechselhafte Geschichte. Spätestens seit der Romantik tritt die literarische Übersetzung dezidiert aus ihrem Schattendasein heraus, zu dem sie als kraftlose Nachahmungskunst degradiert worden ist. Es rückt ihre mediale Position, die sie zwischen den Sprachen einnimmt, in den Vordergrund. Das Übersetzen operiert in einem Grenzbereich, der immer wieder auf den wirkungsmäch1



Genette: Palimpseste, S. 287ff.

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tigen Mythos von Babel zurückgeführt worden ist und der zu sehr unterschiedlichen theoretischen Positionen Anlass gegeben hat: Wird einerseits die Übersetzung als Modell jeglicher Form sprachlicher Vermittlung und Verständigung konzipiert,2 kann anderseits – ebenso modellhaft – gelten, dass die Sprachen nur in dem Maße die Möglichkeit einer Verbundenheit oder einer Mitteilung kennen, in dem sie unwiederbringlich auseinander gebrochen sind.3 Worum es in beiden Ansätzen mit erhöhter Aufmerksamkeit geht, ist die methodische Bestimmung eines Zwischenbereichs, wobei festzuhalten bleibt, dass im ersten Fall das Mediale instrumentell in den Dienst von Kommunikation gestellt wird, während es im zweiten Fall sichtbar bleiben soll und eine eigenwillige Produktivität entfaltet. Wenn der übersetzungstheoretische Diskurs für die Konzeption dieses Dazwischens mit Vorliebe auf biologische Metaphern zurückgreift, so ist das ein Umstand, der nicht erst im Rahmen der postcolonial studies und dem darin favorisierten Konzept von der kulturellen »Hybridität« hervortritt.4 Schon im 18. und 19. Jahrhundert wird wiederholt auf das Bild einer spezifischen Agrartechnik zurückgegriffen, das die Übersetzung als Vorgang des ›Verpflanzens‹ veranschaulicht. Die pflanzenmetaphorische Umschreibung der Nachahmungskunst, die noch in Derridas berühmter Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie um die zitathafte Verwendung von Sprache im Bild des Pfropfreises und der Aufpfropfung aktiv ist,5 stellt der Logik ihrer Bildlichkeit entsprechend den Schauplatz bereit, auf dem nicht der instrumentelle, sondern der experimentelle Charakter des Übersetzens vorgeführt wird. Die Metapher vom Verpflanzen erscheint keineswegs erst in Walter Benjamins berühmtem und für die Übersetzungstheorie im 20. Jahrhundert folgenreichen Essay »Die Aufgabe des Übersetzers«, in dem das Bild dazu dient, die romantische Vorstellung vom Wachstum der Sprachen aufzugreifen, zu thematisieren und auf den Kopf zu stellen.6 Auffallend ist, dass 4 2 3

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Vgl. Steiner: Nach Babel, S. V. Vgl. Derrida: »Babylonische Türme«, passim. Vgl. Young: Colonial Desire. Vgl. zum Konzept einer »hybriden Übersetzung«: Bohnenkamp: »›Hybrid‹ statt ›verfremdend‹?«. Vgl. Wirth: »Die Schreib-Szene als Editions-Szene«, bes. S. 169ff. Benjamin bezieht seine biologischen Metaphern (»Samen«, »Leben«, »Reife« u. a.) auf ein »heiliges Wachstum der Sprachen« (Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, S.  10f.). Freilich fügt er der vitalistischen Konzeption eine Komponente hinzu, die im Begriff der »Nachreife« ein postmortales Moment betont: Die Nachreife, die das Leben des Originals durch die Übersetzung erfährt, bedeutet zwar »Wandlung und Erneuerung des Lebendigen«, impliziert aber gleichzeitig, dass der Reifungsprozess schon abgeschlossen ist (vgl. Derrida: »Babylonische Türme«, S.  133f. und de Man: »Schlußfolgerungen«, S.  198). Benjamin partizipiert an einer genetischen Sprachkonzeption also nur insofern, als er sie bricht und ihr, um im Bildfeld zu bleiben, den Boden entzieht. Nicht von ungefähr ist seine Rede von der Bodenlosigkeit und vom »Abgrund« des Übersetzens, wie er ihn am intensivsten in



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Benjamin die Metapher sehr kalkuliert einsetzt, indem er sie nur ein einziges Mal verwendet, um damit ausdrücklich auf die Romantiker zu verweisen, die vor allen anderen Einsicht in das »Leben der Werke« gehabt hätten.7 Zwar schließt Benjamin damit theoretisch an eine Tradition an, die das Produktive der Übersetzung bekräftigt hat, aber in erster Linie historisiert er die Metapher vom »Verpflanzen« und hütet sich davor, sie mitsamt ihren biologistischen Implikationen ungebrochen zu übernehmen.8 Für die romantische Tradition steht die Theorie der Übersetzung im Rahmen eines organologischen Sprachverständnisses, das sich in einem breiten Feld von Metaphern äußert – etwa im Bild der »Feldarbeit« oder der Kultivierung der »Sprachpflanze«.9 Die Übertragung von einer Sprache in eine andere wird dabei als Bewegung der Verpflanzung verstanden, durch die Sprache erst eigentlich neue Lebenskraft schöpft. Diese Metapher ist im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert durchweg in den Übersetzungstheorien präsent und mit der Vorstellung verknüpft, derzufolge die Übersetzung das Wachstum der Sprache nicht mehr natürlich, sondern durch eine Kunst vorantreibt. Das Wagnis dieser kunstvollen Technik besteht  –  ganz in Analogie zum Experiment des Verpflanzens oder des Pfropfens  –  darin, dass das Übersetzen die Sprache entweder entkräften oder veredeln kann. Der vorliegende Beitrag nimmt Benjamins historische Verortung als methodische Vorsichtsmaßnahme auf und bemüht sich darum, die Genealogie der Verpflanzungsmetapher in den Übersetzungstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren, um so auch die Rede vom Hybriden an ihren sprachtheoretischen Kontext zurückzubinden. Vor diesem Hintergrund wird ein Text genauer analysiert, in dem diese Metaphorik wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Übersetzungstheorie zu einem tatsächlichen Problem geworden ist, nämlich in Friedrich Schleiermachers »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens« von 1813. Dieser Text artikuliert ein prägnantes Interesse an zwischensprachlichen Hybriden, ohne freilich mit diesem Interesse friedlich im Einklang zu sein.



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Hölderlins Übertragungen erblickt hat, das negative Pendant zu einer Konzeption, die das Übersetzen als einmal mehr, einmal weniger problematische Verpflanzung des Fremden auf den eigenen Boden versteht. Vgl. zu diesem vielrezipierten Text: Hart Nibbrig: Übersetzen: Walter Benjamin. Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, S. 15. So richtig es ist, dass Benjamin – wie vor ihm schon Goethe, Schleiermacher und Humboldt – »der Beschreibung der Perfomativität der Übersetzung als Inszenierung kultureller Differenz« sehr nahe kommt, so ungenau ist es, seine biologische Metaphorik in das genetische Konzept einer »kulturellen Hybridität« zu übertragen, ohne Benjamins Problematisierung der biologischen Metaphorik zu beachten. Vgl. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 339. Vgl. dazu Krapf: Sprache als Organismus.

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II. Die Konzeption des Übersetzens als Akt des Verpflanzens hat ihre Wurzeln in den organologischen Theorien des 18. Jahrhunderts, allen voran in den Theorien Herders. Gemäß seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 ist »die Fortbildung der Sprache dem Menschen so natürlich als seine Natur selbst«.10 Ihr ›Wachstum‹ ist – analog zu den Lebensaltern des Menschen  –  dem Naturgesetz von Werden und Vergehen unterworfen. Herder figuriert die Sprache als »[einen] [unermeßlichen] Garten voll Pflanzen und [Bäumen]« (HfS 552), sie »keimt, trägt Knospen, blüht auf und verblühet«. (HfS 181) In den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur von 1767/68, in deren erster Sammlung ausführlich über den Stellenwert und Nutzen von Übersetzungen nachgedacht wird, lässt sich beobachten, dass Herders Metaphorik schlüssig im Rahmen des organologischen Modells steht. Getragen von einer »Sympathie für die kulturelle und sprachliche Verschiedenheit der Nationen«,11 sind ›Pflanzen‹ (Original) und ›Verpflanzen‹ (Übersetzung) gleichberechtigt am Leben der Sprache beteiligt. Wiederholt bezeichnet Herder das Übersetzen als eine »Kunst«, die fremde Gewächse auf eigenen Boden »verpflanzt« und dadurch die »Biegsamkeit der deutschen Sprache« befördern kann.12 (HfS 205) Auf die Geschichte der deutschen Sprache kann eine Übersetzung bisweilen sogar mehr Einfluss als »zehn Originalwerke« nehmen, und zwar dann, wenn sie als eine Nachahmung wirkt, »die Original bleibt«. (HfS 292) Gute Übersetzer heben sich demnach von schlechten dadurch ab, dass sie selbst als schöpferische Genies erkennbar bleiben: »Wo ist ein Übersetzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philolog ist: er soll der Morgenstern einer neuen Epoche in unsrer Literatur sein«. (HfS 293) Herders Lob der Übersetzung steht im Rahmen seiner historischen Diagnostik. Die deutsche Sprache befinde sich in der »Zeit der Bildung« (HfS 598) und zeige einen uneinheitlichen Zustand: »[…] eine Sprache, die so wie sie ist, nach allen von ihr losgeschnittenen und verpflanzten Ästen, mit allen in sie gepfropften fremden Zweigen, doch als ein selbstgewachsener Stamm dasteht, verletzt, aber doch nicht zerstückt […]«. (HfS 570)13 Herder: Frühe Schriften, S. 775. Weitere Nachweise mit der Sigle »HfS« und Seitenzahl direkt im Text. 11 Vgl. etwa zu Herders Interpretation des Babel-Mythos: Trabant: »Eine Philosophie der Sprache zur Bildung der Menschheit«, S.  260−262 und Greiner: »Archäologie der Hermetik«, S. 9f. 12 Vgl. ausführlicher Gaier: »Geschichtlichkeit der Literatur«. 13 Dieser Zustand wird – nicht konzeptuell, sondern graduell – kontrastiert durch die Art und Weise, wie sich Herder das Griechische als Modell einer ursprünglichen Sprache vorstellt: »Sie [die griechische Sprache] ist nicht wie die Literatur anderer Sprachen ein Baum, der dem Erdreich, als ein Fremdling erzwungen, durch die Kunst als ein Sklave aufgetrieben, 10



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Dass Herder das Deutsche als einen Baum betrachtet, dem die Äste weggeschnitten sind und der mit fremden Pfropfreisern versetzt ist, hat nichts mit der »Nachahmungs‑ und [gedankenlosen] Schreibsucht der Deutschen« zu tun, die er anderswo als »Originalsucht« seiner Zeit beklagt. (HfS 273) Zwar entwirft er das Konzept einer Muttersprache, an die sich ein Schriftsteller halten soll, wenn er ein ›Originalschriftsteller‹ sein will: »Wahrlich, der Dichter muß seinem Boden getreu bleiben, der über den Ausdruck herrschen will! Hieher kann er Machtwörter pflanzen, denn er kennet das Land, hier kann er Blumen pflücken, denn die Erde ist sein«. (HfS 412) Das schließt den Rückgriff auf fremde Sprachen aber keineswegs aus, denn auch der »Nationalautor« darf die »Lücken und Wüsten« seiner Muttersprache mit Fremdem befruchten. (HfS 408) In der baummetaphorisch veranschaulichten Hierarchie von Mutter‑ und Fremdsprache ist gleichwohl impliziert, dass das Deutsche wesentlich von innen, aus sich selbst heraus wachsen soll. Darin klingt die genieästhetische Position nach, die bei Edward Young vorgezeichnet ist, die aber das Verhältnis zwischen Dichten und Übersetzen deutlich einfacher versteht. In seinen Gedanken über die Original-Werke von 1759, deren deutscher Übersetzer von Teubern die eigene Übertragung gleich eingangs als »Verbrechen wider die Majestät des Genies« bezeichnet,14 beschreibt Young die natürlich aus sich selbst wachsende Pflanze, die »nicht durch die Kunst getrieben wird«, als Sinnbild für das Originalwerk.15 Nur in diesem herrsche das Leben der Natur, während alle sekundären Produkte, d. h. Nachahmungen und Übersetzungen, die Zeichen des Verfalls tragen. Bestenfalls können sie ex negativo zeigen, wie unübersetzbar Originalwerke sind, indem sie als blasse Kopien notwendig scheitern.16 Das Bild, das Young für diesen Verfall einsetzt, führt ebenfalls die Technik der Verpflanzung vor Augen: »Fern von diesem blühenden Frühlinge ist der Nachahmer, der die Lorber-Zweige nur verpflanzet, welche oft bei dieser Versetzung eingehen, oder doch allezeit in einem und als Weichling erzogen, widernatürliche Pfropfreiser empfängt, und den ungesunden Fleiß seines Treibers nicht anders lohnen kann, als durch vorzeitige Früchte: durch Früchte, die das Auge betrügen, den Geschmack aufbringen, statt ihn zu besänftigen […]: denn so war die Literatur anderer Sprachen. Allein die ihrige war wie ein freiwilliger Baum, aus einer Wurzel in schöner Erde langsam hervogetreten: aus ädler Natur gebar er ädle Keime, gesunde Blätter, erquickende Blüten, vollendete Früchte«. (HfS 599) 14 Young: Gedanken über die Original-Werke, S. 3f. 15 Ebd., S.  17: »Man kann von einem Originale sagen, daß es etwas von der Natur der Pflanzen an sich habe: es schießt aus der belebenden Wurzel des Genies auf: es wächset selbst, es wird nicht durch Kunst getrieben«. 16 Ebd., S. 50: »Die Nachahmer und die Übersetzer gehören unter die Gattung der Piedestals, und erheben oft den Ruhm ihres Originals mehr als ihren eigenen, indem sie zeigen wie sie dasselbe nicht nachahmen können«.

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fremden Boden schwächer fortkommen«.17 Die Übersetzung wird demnach als eine unnatürliche Bewegung verstanden, die für Young, anders als für Herder, etwas Schädliches darstellt,18 weil Fremdes und Eigenes den Wachstumsprozess zu einem künstlichen Experiment machen, dessen Gelingen a priori bezweifelt wird. Herders Einsatz der Metapher hat schon gezeigt, dass gerade mit dem Bild des Verpflanzens das Verhältnis von Mutter‑ und Fremdsprache im Hinblick auf einen gegenseitigen Austausch gedacht werden kann, wonach fremde Gewächse auf eigenem Boden sehr wohl gedeihen und diesem sogar neue Kraft verleihen können.19 In der romantischen Übersetzungstheorie hat diese Auffassung Konjunktur, denn die Übersetzung gewinnt nun den Stellenwert einer kultivierten und kultivierenden Kunst. Nach Herder hat Wilhelm von Humboldt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon von 1816 diese Position, neben Schleiermacher und Goethe, maßgeblich mitgeprägt. Da die Übersetzung, wie er wohl als erster mit Entschiedenheit vorausgesetzt hat, von einer prinzipiellen Unübersetzbarkeit des Originals ausgehen muss, besteht ihre dringlichste Aufgabe nicht mehr darin, dessen Inhalt treu zu übertragen und Gleiches anders zu sagen, sondern maßgeblich darin, die Differenz zum Original zu markieren und das Leben der eigenen Sprache produktiv »fortzupflanzen«.20 Humboldt leitet dieses Argument sprachtheoretisch her. Seine Konzeption der Sprache als das »bildende Organ des Gedanken« ist an die Vorstellung gebunden, dass die Genese des Wortes von einer inneren Kraft des Geistes geprägt ist. Demnach ist der Gedanke wesentlich an die konkrete Lautform gebunden und nicht von einer Sprache in die andere übertragbar.21 Diese sprachtheoretische Grundthese bildet für Humboldt einerseits den Grund für die Verschiedenheit der Sprachen und für ihre unmögliche Übersetzbarkeit. Anderseits macht sie auch verständlich, warum der Übersetzung eine eigene sprachbildende Kraft zugesprochen werden kann. Gerade weil sie das Original nicht nachzuahmen vermag, sondern es in eine neue Sprachform überträgt, kann sie eine Erweiterung der eigenen Sprache bewirken.22 Die Verschiedenheit der Sprachen und das daraus folgende Ebd., S. 16. Vgl. hierzu auch: Wirth: »Die Schreib-Szene als Editions-Szene«, S. 169. 19 Diese Vorstellung findet sich schon bei dem von Herder so geschätzten Leibniz. Dieser richtet sich bereits in einer frühen Schrift von 1683 gegen einen blinden Sprachpurismus und vermittelt eine positive Vorstellung über die Aufnahme fremder Wörter, wenn er sagt: »soviel die Sprache selbst betrifft, einige gute Redensarten als fremde Pflanzen in unsere Gärten selbst versetzt«. Leibniz: Von deutscher Sprachpflege, S. 32. 20 Humboldt: Übersetzungen, S. 129. 21 Vgl. Humbold: Schriften zur Sprache, S. 44f. und S. 76f. – Vgl. dazu Trabant: Traditionen Humboldts, S. 43−49. 22 »Das Uebersetzen und gerade der Dichter ist vielmehr eine der nothwendigsten Arbeiten 17 18



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Prinzip der Unübersetzbarkeit werden damit zu einem produktiven Prinzip gewendet. Zudem sieht Humboldt unter dem Eindruck von Klopstock und Voß, die antike Silbenmaße ins Deutsche eingeführt haben, auch in literarhistorischer Perspektive, dass die Übersetzung einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung des Deutschen bildet. Für seine »schon hoch [cultivierte] Zeit« sei keine »mächtigere und wohltätigere Einwirkung« als diejenige der Übersetzung denkbar.23 Das Deutsche sieht er mit anderen Worten schon so sehr entwickelt, dass es nun zum höchsten Zweck der Übersetzung gehört, das Fremde als Fremdes aufzunehmen. Demnach wird beim Übersetzen nicht einfach Fremdes in Eigenes übertragen, sondern »das Eigene auch verfremdet«.24 Humboldts vorbehaltlos begrüßte und geförderte Produktivität der Übersetzung führt in das gewohnte Verhältnis zwischen Fremd‑ und Muttersprache ein Element ein, das auf eine die Grenzen überschreitende spezifische Sprache der Übersetzung weist. Die Frage nach dem Stellenwert dieser Sprache wird von Humboldts Zeitgenossen, namentlich von Schleiermacher und Goethe, nicht einfach als Erweiterung der eigenen Sprache, sondern als Sprache sui generis diskutiert. Goethe skizziert in seinen Ausführungen zum West-östlichen Divan von 1819 eine interkulturelle Ethik des Übersetzens und beschreibt eine Art von Übertragungen, in denen der Übersetzer die ›Originalität seiner Nation‹ aufgibt. Diese Übersetzung nennt er »ein Drittes«.25 Für das konzeptuelle Verständnis dieses Dritten ist es nützlich, Goethes Metaphorik zu verfolgen. Auch er greift auf das Bild der Verpflanzung zurück, um den Übertragungsvorgang zu beschreiben.26 Beim Dritten handelt es sich demnach aber nicht einfach nur um eine geglückte Transplantation fremder Pflanzen auf eigenem Boden, sondern um die Überwindung der exklusiven Unterscheidung zwischen Fremdem und Eigenem. Goethe geht damit einen Schritt weiter als Humboldt, denn die Sprache der Übersetzung wird von ihm als hybride Form gedacht,27 die aus der Kreuzung von Eigenem und Fremdem hervorgegangen ist, um etwas Neues zu bilden. Diese Lesart bewahrheitet sich – unter negativen Vorzeichen  –  gut siebzig Jahre später, als der Gräzist von Wilamowitz-

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in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eignen Sprache«. Humboldt: Übersetzungen, S. 130. Ebd., S. 131. Frey: »Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt«, S. 60. Goethe: West-östlicher Divan, S. 281. Für diejenige Art der Übersetzung, die das Fremde »mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist«, fordert er, dass »für jede fremde Frucht ein Surrogat das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sey«, mit zu übertragen ist. Ebd., S. 281. Vgl. Bohnenkamp: »Goethes poetische Orientreise«, S. 149.

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Moellendorff gegen Goethe den Vorwurf erhebt, für die ganzen Irrwege und den falschen Ruhm der deutschen Übersetzungen, namentlich von Voß, Klopstock und Humboldt, verantwortlich zu sein. Mit ihm sei die Sprache der Übersetzung als ein »Zwitterding« kultiviert worden.28 Solche Zwitterwesen geistern wenige Jahre vor Goethe schon durch Friedrich Schleiermachers übersetzungstheoretische Überlegungen. Da die Übersetzung an der Fortpflanzung der Sprache beteiligt ist, produziert sie nicht mehr einfache Nachahmungen originaler Pflanzen, sondern neue und unerwartete Schöpfungen. Während Goethe das Dritte als geglückte Kreuzung verständlich macht, ohne die Möglichkeit einer misslungenen Vermischung zu erwähnen, stehen die hybriden Formen bei Schleiermacher im Ausgang einer experimentellen Anordnung, deren Gelingen nicht von vornherein feststeht.

III. Friedrich Schleiermachers 1813 an der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin vorgetragene Abhandlung »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens« ist mehr als bloß eine Methodenlehre. Vielleicht ist sie sogar alles andere als eine technische Anleitung, wie man übersetzen kann oder sollte. Bereits im Titel ist jene »Leidenschaft des Differenzierens« zu erahnen, die Peter Szondi als Ausdruck von Schleiermachers Problembewusstsein gegenüber identitätsphilosophischen Auflösungen in der Hermeneutik Asts und Wolfs gelesen hat und die in der Rezeption nach Dilthey »zugunsten der Thesen über das Divinatorische und die Einfühlung«29 allzu sehr in den Hintergrund gedrängt worden sei. Die Differenzierungen bestimmen in Schleiermachers Abhandlung den nur dem Anschein nach starren Schematismus binärer Oppositionen, nach dem etwa »Dolmetschen« und »Übersetzen«, »Paraphrase« und »Nachbildung«, »Kunst« und Alltagssprache, »mechanische« und »natürliche« Übersetzungsmethoden einander gegenübergestellt werden. Entscheidend ist, wie skrupulös dieser Schematismus durchgeführt und an seinen jeweiligen Grenzsetzungen ausgemessen wird. Gleich im Eingang des Textes, dort, wo er die Unterscheidung zwischen »Dolmetscher« und »Übersetzer« festlegt, hält Schleiermacher hinsichtlich seiner eigenen Methode fest: »[So] werden Wilamowitz-Moellendorff: »Was ist übersetzen?«, S. 146. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 170. (Vgl. auch Frank: »Der Text und sein Stil«, S. 30f. und Frank: »Einleitung«, S. 46ff.) – Schleiermacher selbst hielt für die übersetzungstheoretische Abhandlung brieflich fest: »[…] es sind einige Seitenhiebe auf Wolf’s Ansichten darin; ich weiß aber nicht ob Jemand sie bemerkt hat«. Schleiermacher: »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens«, S. XXXIV – Weitere Nachweise mit der Sigle »SMÜ« und Seitenzahl im Text.

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wir auch hier zwei verschiedene Gebiete  –  freilich nicht ganz bestimmt, wie dann das selten gelingt, sondern nur mit verwaschenen Grenzen, aber doch wenn man auf die Endpunkte sieht deutlich genug – unterscheiden können«. (SMÜ 68) Schleiermachers Differenzierungen stehen mithin im Dienste einer Heuristik, die es erlaubt, Probleme eher zu benennen, als sie zu lösen. Mit der Unterscheidung zwischen Übersetzer und Dolmetscher beispielsweise wird das Gebiet der Künste und der Wissenschaften, in dem nach Schleiermacher das ›eigentliche‹ Übersetzen stattfindet, von demjenigen abgegrenzt, das im Bereich des Geschäftslebens  –  gemeint sind Gebrauchstexte unterschiedlicher Art – unproblematische Übertragungen gewährleisten soll. Anders als das Dolmetschen ist für Schleiermacher das Übersetzen nichts Mechanisches. Mit Humboldt teilt er die Annahme von der Verschiedenheit der Sprachen: »Wenn wir von der Differenz der Sprache reden, unterscheiden wir die äußere Differenz des Klanges und die innere des Gehaltes. Es ließe sich denken, daß nur der Klang verschieden sei, der Gehalt derselbe. Aber kein Wort […] korrespondiert mit einem Wort einer anderen Sprache«.30 Diese »Irrationalität« der Sprachen (SMÜ 70) ist so tiefgreifend, dass sie nicht nur das Gebiet des Übersetzens betreffen kann. Auch das Dolmetschen ist im Kern von der Unmöglichkeit adäquater Übertragung bestimmt. Die Unterscheidung, die Schleiermacher eingeführt hat, operiert mit grundsätzlich »verwaschenen Grenzen«.31 Der Grund für die Verschiedenheit der Sprachen besteht nach Schleiermacher wie den romantischen Sprachtheorien zufolge in ihrem individuellen organischen Prinzip. In jeder Sprache waltet eine »lebendige Kraft« (SMÜ 71), durch die sie wächst und sich je eigentümlich ausbildet. Jede einzelne Äußerung nimmt aktiv an diesem »Leben der Sprache« teil. Deshalb bestimmt Schleiermacher die Übersetzung wie Humboldt so, dass sie nicht den Sinn des Originals wiedergeben, sondern einen Text »in fremden Boden […] verpflanzen« (SMÜ 67) und dadurch die Sprache, die als ein »geschichtliches Ding« definiert wird, »fortpflanzen« soll. (SMÜ 78) Dem organologischen Modell gemäß wird das Übersetzen als ein natürlicher Vorgang konzipiert, durch den die Sprache ihre vitale Kraft erst voll entfaltet: Wie vielleicht erst durch vielfältiges hineinverpflanzen fremder Gewächse unser Boden reicher und fruchtbarer geworden ist, und unser Klima anmuthiger und milder: so fühlen wir auch, daß unsere Sprache, weil wir sie der nordischen Trägheit wegen weniger selbst bewegen, nur durch die vielseitigste Berührung Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 461. Vgl. Frey: »Schleiermachers Übersetzungstheorie«, S. 37.

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mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigne Kraft vollkommen entwickeln kann. (SMÜ 92)

»Verpflanzen«, »fortpflanzen«, »wachsen«, »gedeihen« sind die Metaphern, die Schleiermachers Abhandlung exzessiv einsetzt, um diesen sprachlichen und kulturellen Austausch positiv zu besetzen. Es gehört zu den Feinheiten seines Textes, den Vorgang der Transplantation so zu problematisieren, dass er dem organischen Wachstumsprinzip äußerlich ist und als Störfaktor auftreten kann. Das Übersetzen wird daher als eine »Kunst« bezeichnet, die in das natürliche Wachstum der Sprachen eingreift. Diejenige Sprache, die im Vorgang des Übersetzens Fremdes aufnimmt, lässt nämlich »ahnden, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sey; und man muß gestehen, dieses mit Kunst und Maaß zu thun, ohne eigenen Nachtheil und ohne Nachtheil der Sprache, dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit die unser Uebersetzer zu überwinden hat«. (SMÜ 81) Das Produkt der Übersetzung ist Schleiermacher zufolge ein ebenso notwendiges wie unnatürliches Gebilde, das aus einer kunstvollen und delikaten Technik hervorgegangen ist. Darin das Verfahren der Pfropfung zu erkennen,32 ist deshalb keineswegs weit hergeholt, denn Schleiermachers Metaphorik ist durchgehend sprechend. An anderer Stelle heißt es über dieses Verfahren: »[Wie] will der Uebersetzer sich hier glücklich durchfinden, da das System der Begriffe und ihrer Zeichen in seiner Sprache ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, anstatt sich gleichlaufend zu decken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden«. (SMÜ 79) Beim Übersetzen werden nach dieser Metaphorik fremde und eigene Sprache ›geschnitten‹ und ›zusammengesetzt‹. Das Gefühl des Fremden im Eigenen fortzupflanzen, bedeutet also, das Eigene zu beschneiden und an der Schnittstelle das Fremde einzusetzen. Schleiermacher lehnt sich hier fast wörtlich an Herder an, wenn er sagt, dass die eigene Sprache zur fremden »hinübergebogen« wird oder, um eine weitere Wendung aus dem Aufsatz aufzunehmen, dass die Sprache »unnatürliche Verrenkungen« mache.33 (SMÜ 81)

Schleiermacher verwendet die Metapher vom »Pfropfen«, um damit einen »nicht [naturgemäßen] Zustand« der »Sprachmischung« zu beschreiben. Vgl. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 90. 33 An anderer Stelle wird Herder ohne Anführungszeichen zitiert, als von der »Biegsamkeit« der heimischen Sprache die Rede ist. (SMÜ 84) 32



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Mit der als unnatürlich empfundenen Technik der Pfropfung kommen bei Schleiermacher allerdings auch die Gefahren zur Sprache, die das Übersetzen birgt. Er erwähnt die puristischen »Klagen, daß ein solches Uebersetzen nothwendig die Reinheit der Sprache und ihrer ruhigen Fortentwickelung von innen heraus nachtheilig werden müsse«. (SMÜ 82) Zwar stellt Schleiermacher dieses Problem sogleich beiseite, aber er lässt eine Unentschiedenheit und Zwiespältigkeit erkennen, wenn er die Übersetzungstätigkeit als eine notwendige Erniedrigung darstellt: »Das Unternehmen erscheint als der wunderbarste Stand der Erniedrigung, in den sich ein nicht schlechter Schriftsteller versetzen kann. […] Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge?« (SMÜ 81) Die Aufgabe der Übersetzung, die darin besteht, in der Muttersprache das Fremde als Fremdes wiederzugeben, nimmt dieses Wagnis um den Preis auf sich, dass die Übertragung künstliche und unreine Geschöpfe produziert, die hier mit einem biologischen Terminus aus Tier‑ und Pflanzenwelt bezeichnet werden, nämlich als »Blendlinge«. Was aber ist ein Blendling? Ein Blendling, so hält es das Grimmsche Wörterbuch im Verweis auf das griechische hibrida fest, ist ein »bastart und zwitter, wodurch die reine, natürliche art getrübt und gemischt wird, von menschen, thieren und pflanzen«.34 Eine etymologische Verwandtschaft mit dem deutschen Wort ›blenden‹ ist strenggenommen unwahrscheinlich, denn das Wort stammt vermutlich aus dem englischen to blend (›vermischen‹). In Schleiermachers Argumentation erscheint freilich auch die erste Bedeutungsvariante sinnvoll. Denn als das eigentliche Ziel der Übersetzungskunst wird die Aufgabe bestimmt, dass die Zwitter, die sie erzeugt, gerade nicht als abweichende und unnatürliche, sondern als »natürliche Erscheinung« dastehen sollen. (SMÜ 84) Dies würde auch einer Lesart von ›Blendlinge‹ entsprechen, die Schleiermacher leicht bei Adelung hätte finden können: »Dieses Wort kommt von Blende, so fern dasselbe ein Ding bedeutet, das den Schein von einer Sache hat, die es doch nicht ist, also den Zuschauer verblendet«.35 Schleiermachers Text aktiviert im Wort »Blendling« folglich eine doppelte etymologische Herkunft (aus dem Englischen und aus dem Deutschen), gleichsam die Metapher vom Hybriden auf den Bereich der (eigenen) Sprache übertragend. Als schillerndes Bild für das, was die Sprache der Übersetzung produziert, ist der ›Blendling‹ deswegen so zwiespältig insze-

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Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 106. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1066.

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niert, weil er die unentschiedene Haltung seiner übersetzungstheoretischen Abhandlung selbst sinnigerweise zum Ausdruck bringt. Fortan enthält Schleiermachers Text eine ganze Reihe von gespensterhaften Wesen, die für eine misslungene Übersetzung stehen und die scharf kritisiert werden: Neben den ›Blendlingen‹ tauchen nicht näher bestimmte »künstliche Männer« auf, die so übersetzen, als hätten sie ursprünglich schon in der fremden Sprache gedacht und geschrieben: »Allein diese Reden sind auch freilich nicht aus dem Gebiet, wo die Gedanken kräftig aus der tiefen Wurzel einer eigenthümlichen Sprache hervortreiben, sondern wie die Kresse, die ein künstlicher Mann ohne alle Erde auf dem weißen Tuche wachsen macht«. (SMÜ 87) Diese unnatürlichen Männer sind mit jener für Schleiermacher moralisch inakzeptablen Figur des Zweisprachigen verwandt, der er wegen ihres »Doppeltgehen« vorwirft, der »Geseze der Natur zu spotten«. (SMÜ 88) Denn die »Production in der fremden Sprache« kann für Schleiermacher »keine ursprüngliche« sein. (SMÜ 88) Den Zweisprachigen, der nichts Geringeres als die systematische Unterscheidbarkeit von Original und Übersetzung, von Fremd‑ und Muttersprache, von Eigenem und Fremdem, von organisch und mechanisch untergräbt, diskreditiert Schleiermacher nicht nur moralisch. Er geht sogar soweit, die Möglichkeit des Zweisprachigen überhaupt zu bestreiten: Es handle sich dabei um ein »Naturwunder gegen alle Regel und Ordnung«, eine Erscheinung, die »doppelt geht wie ein Gespenst«. (SMÜ 88)36 So kehrt zuletzt in Schleiermachers Text alles wieder in die natürliche Ordnung zurück: Denn zuerst muß feststehen, daß es in einer Sprache […] auch ein eignes Sprachgebiet giebt für die Uebersetzungen, und ihnen manches erlaubt sein muß, was sich anderwärts nicht darf blikken lassen. Wer dennoch unbefugt solche Neuerungen weiter verpflanzt, wird schon wenig Nachfolger finden oder keine […]. So können wir uns schon auf den assimilirenden Prozeß der Sprache verlassen, daß sie alles wieder ausstoßen wird, was […] ihrer Natur nicht eigentlich zusagt. (SMÜ 93)

Im Einklang mit den Positionen Herders, Humboldts und Goethes bestimmt Schleiermacher die Kunst des Übersetzens als eine notwendige Fortentwicklung im Wachstum der Sprache, wonach durch Aufnahme des Fremden das Eigene veredelt wird. Im Gegensatz zu Humboldt, der eine Verfremdung des Eigenen anstrebt, und zu Goethe, der mit dem »Dritten« die glückliche Kreuzung der eigenen und fremden Sprache benennt, 36

Vgl. grundsätzlich zur Figur des Zweisprachigen in Schleiermachers Text: Frey: »Schleiermachers Übersetzungstheorie«, passim.



›Blendlinge‹

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heben Schleiermachers ›Blendlinge‹ das hybride Resultat der Verpflanzung zwiespältig hervor. Denn sie werden nur dann akzeptiert, wenn die unnatürlichen Zwitter als natürliche Produkte in Erscheinung treten. Diese Kunst des Scheins steht mit einer ganzen Reihe von gespensterhaften Wesen in Verbindung, die durch Schleiermachers Text geistern. Am Ende ist das Experiment des Übersetzens bei Schleiermacher durch sein Urvertrauen in die Selbstregulierung der (Sprach-) Natur doch begrenzt  –  jedenfalls scheinbar. Dieses Urvertrauen verhindert nicht, dass man im Garten der eigenen Sprache nicht auch das sieht, was man in Anlehnung an Herder deren innere »Wüste« nennen könnte: »Es liegt uns keine Sprache ganz vor, selbst nicht die eigene Muttersprache«.37 Literatur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Leipzig 1793−1801. Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg.  v. Rolf Tiedemann  /  Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV  /  1, Frankfurt a. M. 1972, S. 9−21. Bhabha, Homi: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Bohnenkamp, Anne: »›Hybrid‹ statt ›verfremdend‹? Überlegungen zu einem Topos der Übersetzungstheorie«, in: Linguistische Aspekte der Übersetzungswissenschaft, hg.  v. Peter Colliander, Tübingen 2004, S. 9−26. Bohnenkamp, Anne: »Goethes poetische Orientreise«, in: Goethe-Jahrbuch, 121 (2003), S. 144−156. de Man, Paul: »Schlußfolgerungen. Walter Benjamins ›Die Aufgabe des Übersetzers‹«, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. Alfred Hirsch, Frankfurt a. M. 1997, S. 182−228. Derrida, Jacques: »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. Alfred Hirsch, Frankfurt a. M. 1997, S. 119−165. Frank, Manfred: »Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie«, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt a. M. 1989, S. 15−37. Frank, Manfred: »Einleitung«, in: Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt  a. M. 1977, S. 7−67. Frey, Hans-Jost: »Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt«, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. Alfred Hirsch, Frankfurt a. M. 1997, S. 37−63. Frey, Hans-Jost: »Schleiermachers Übersetzungstheorie«, in: ders.: Der unendliche Text, Frankfurt  a. M. 1990, S. 25−37. Gaier, Ulrich: »Geschichtlichkeit der Literatur: Bedingung des Übersetzens bei Herder«, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg.  v. Ulrich Stadler, Stuttgart u. a. 1996, S. 32−41. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993 (1982). Goethe, Johann Wolfgang: West-Östlicher Divan, hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt a. M. 1994. Greiner, Bernhard: »Archäologie der Hermetik. Geschichten des Turmbaus zu Babel«, in: Hermetik, hg. v. Nicola Kaminski  /  Heinz Drügh, Tübingen 2002, S. 1−20. Grimm, Jacob  /  Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854−1960. Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 2001. Herder, Johann Gottfried: Frühe Schriften 1764−1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985. Humboldt, Wilhelm von: »Übersetzungen«, in: Schriften zur Sprache, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 8, Berlin 1909 (Photomechanischer Nachdruck Berlin 1968). Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprache, hg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1995. Krapf, Veronika: Sprache als Organismus: Metaphern – Ein Schlüssel zu Jacob Grimms Sprachauffassung, Kassel 1993. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Ermahnung an die Deutschen  /  Von deutscher Sprachpflege, Darmstadt 1967.

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Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 84.

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Schleiermacher, Friedrich: »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens«, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hermann Fischer, Bd. 11, Berlin u. a. 2002, S. 66−93. Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977. Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Frankfurt a. M. 2004 (1975). Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1975. Trabant, Jürgen: »Eine Philosophie der Sprache zur Bildung der Menschheit«, in: Herder. Im Spiegel der Zeiten, hg. v. Tilman Borsche, München 2006, S. 247−263. Trabant, Jürgen: Traditionen Humboldts, Frankfurt a. M. 1990. Wirth, Uwe: »Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels«, in: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. v. Martin Stingelin, München 2004, S. 156−174. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: »Was ist übersetzen?«, in: Das Problem des Übersetzens, hg. v. Hans Joachim Störing, Stuttgart 1973, S. 139−169. Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke, hg. v. Gerhard Sauder, Heidelberg 1977 (Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760). Young, Robert: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London u. a. 1995.

Wörter und Äpfel. Prozesse der Hybridisierung bei Michail M. Bachtin und Ivan Vl. Mičurin Sylvia Sasse

Gibridizacija (›Hybridisierung‹) ist in der russischen bzw. sowjetischen Ästhetik, Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft, Biologie, Botanik, Agrarwirtschaft und Mathematik der 1920er und 1930er Jahre ein durchaus oft verwendeter Begriff.1 Von Hybridität ist in den Einzelwissenschaften immer dann die Rede, wenn entweder wie in der Eugenik oder Botanik durch Kreuzung etwas Neues, Drittes hergestellt werden soll, oder wenn wie beispielsweise in der Linguistik die Evolution von Sprache als natürlicher bzw. organischer Prozess von Vermischung oder Kreuzung dargestellt wird. Eine konstruktivistische, in die Natur eingreifende Hybridisierung steht damit einer natürlichen, ja organischen Hybridität entgegen. Am unheimlichsten wird die in die Natur eingreifende Hybridisierung in der sowjetischen Eugenik der 20er Jahre ausbuchstabiert. Michail Bulgakov hat die potenziellen menschlich-tierischen Hybriden in Hundeherz (Sobač’e serdce, 1925) grotesk beschrieben. In Hundeherz werden Mensch und Hund gekreuzt, genauer gesagt führt Transplantation dort zu Hybridisierung: In einen räudigen Straßenköter wird die Hypophyse eines verstorbenen Säufers und Diebes transplantiert. Die Transplantation produziert einen Tier-Mensch-Zwitter, der nun mit den Eigenschaften des Hundes und den unangenehmen Merkmalen seines menschlichen Organspenders ausgestattet ist: Er wächst, er verliert größtenteils sein Fell, geht auf den Hinterbeinen, spricht alle fünf Minuten ein neues Wort, spielt auf einem Musikinstrument, tanzt und lernt sogar lesen und schreiben. Allerdings flucht er ebenso schrecklich wie sein menschlicher Spender, belästigt wie dieser Frauen, raucht, trinkt und stiehlt. Erst die Rücktransplantation 1



Vgl. u. a. Ivanov: Borozdy i meže, S. 340; Vinogradov: O chudožestvennoj proze, S. 75f.; Špet: Iskusstvo kak vid znanija, S. 458. Der Mathematiker Sergej Bernštein versucht beispielsweise, Mendels Kreuzungsexperimente mathematisch zu beweisen und einen statistisch belegbaren Vererbungskoeffizienten zu ermitteln (Vgl. Velminski: »Der Speck am Text«, S. 119f.).

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kann den grotesken Hybriden wieder in einen Hund zurückverwandeln und die alten ›biosozialen‹ Verhältnisse wieder herstellen: »Man könnte dem Hund die Hypophyse von Spinoza oder sonst einem Waldschrat einpflanzen«, resümiert der Professor schließlich, »und ein hochstehendes Wesen aus ihm machen. Aber wozu zum Teufel? […] Erklären Sie mir bitte, wozu soll man Spinozas fabrizieren, wenn jedes Weib sie jederzeit gebären kann?«2 Bulgakov greift in seiner Sowjet-Satire die Diskussion um die Legitimation des Eingreifens in die Natur durch den Menschen auf, die zentral ist für die Schöpfung des ›Neuen Menschen‹ in der Sowjetunion. Soll dieser, so lautet die Frage, durch Konditionierung, durch Eugenik und Antropotechnik entstehen oder durch (Um)Erziehung und verinnerlichte Selbstdisziplinierung hervorgebracht werden. Bulgakov verweist in Hundeherz indirekt auf Experimente des Zoologen Nikolaj K. Kol’cov, Präsident der russischen Eugenik-Gesellschaft und Leiter des Instituts für Experimentelle Biologie in Moskau, des Chirurgen Sergej Voronov und des Zootechnikers und Biologen Il’ja I. Ivanov, die in den 20er Jahren durch die Sensations-Presse gingen. Alle Genannten befassten sich mit Verjüngung durch Bluttransfusion und Transplantation, Lebensverlängerung, Kreuzung von unterschiedlichen Tieren (Hybride aus Zebra und Pferd bei Ivanov), Kreuzung von Mensch und Tier durch Transplantation der Geschlechtsorgane oder künstliche Besamung in den Forschungen von Voronov und Ivanov.3 Hinter den Experimenten stand nicht nur die Idee, durch die Hybridisierung die Unveränderbarkeit und Zufälligkeit der göttlichen Schöpfung infrage zu stellen, sondern auch die Überzeugung, die überzivilisierten und inzwischen degenerierten Bürger durch Kreuzung an ihren natürlichen, archaischen Ursprung zurückzuführen.4

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Bulgakov: »Sobač’e serdce«, S. 397: »Можно привить гипофиз спинозы или еще какогонибудь такого лешего и соорудить из собаки чрезвычайно высокостоящего. Но на какого дьявола? […] Обьясните мне, пожалуйста, зачем нужно искусственно фабриковать спиноз, когда любая баба может его родить когда угодно«. Vgl. Malikova: »NĖP kak opyt social’no-biologičeskoj gibridizacii«. Vgl. auch Rossijanov: »Gefährliche Beziehungen«; Adams: »Eugenics in Russia 1900−1940«. Am Beispiel von Bulgakovs Hundeherz wird die Experimentalbiologie auch in literarischen Kreisen diskutiert, so schreibt beispielsweise der symbolistische Dichter Andrej Belyj, der Bulgakovs Text (erstmals 1968 im Ausland und 1987 in Russland erschienen) als Manuskript kannte, Ende 1926 an den Literaturkritiker Ivanov-Razumnik (Razumnik Vasil’evič Ivanov) über die Experimente des Chirurgen Voronov bezüglich der Kreuzung von Mensch und Affe: »Voronov wartet darauf, dass sie [die Besamung eines Menschen durch einen Affen, S. S.] einen ›Menschen‹ gebärt; aber das wird kein ›Mensch‹, sondern, vielleicht, das erste anormal und gewaltsam von dort nach ›hier‹ herübergezerrte unbekannte Geschöpf; ›schrecklich‹, dass sich verantwortungslose und leichtsinnige ›hervorragende Halunken‹ von der Art Voronovs gewaltsam in die menschliche Erblinie hineingemischt haben«. Belyj  /  Ivanov-Razumnik: Perepiska, S.  551: »Воронов ждет, что она родит ›человека‹; это будет не ›человек‹, а, может быть, первое ненормально насильно втянутое из оттуда в ›сюда‹ неизвестное существо; ›ужас что‹ вмешивают насильственно в линию рода людского



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Michail M. Bachtins und Ivan Vl. Mičurins Forschungen zur Hybridität auf dem Gebiet der Linguistik und Literaturwissenschaft sowie der Botanik sind harmlos im Unterschied zu den humangenetischen Experimenten in der Eugenik und Zoologie. Bachtin geht es lediglich um die Hybridisierung von Wörtern und Romanen, Mičurin um Äpfel und Birnen. Dennoch lassen sich die Forschungen beider nicht getrennt betrachten vom nachrevolutionären Streit um die Hervorbringung des Neuen, der kennzeichnend ist für die Diskussion der sozialistischen Vererbungslehre von Marx bis Stalin und der insbesondere zwischen Mendelisten und Neo-Lamarckisten bzw. Neo-Darwinisten ausgetragen wird. Mičurin ist innerhalb der Botanik sogar Wegbereiter neo-lamarckistischer Theorien und Experimente. Wo aber lässt sich Bachtins Sprach‑ und Literaturauffassung im Kontext der Vererbungslehren und Evolutionsmodelle der 20er und 30er Jahre in der Sowjetunion situieren?5

I. Wort-Hybride Michail Bachtins Forschungen zur Hybridität von Worten und Genres haben auf den ersten Blick mit der sozialistischen Evolutionstheorie nichts gemein. Überhaupt spielt das Wort Hybridität bei Bachtin im Unterschied zur Dialogizität eine untergeordnete Rolle, eigentlich kommt Hybridität nur an einigen wenigen Stellen vor, am ausführlichsten in seiner Abhandlung Das Wort im Roman (Slovo v romane)  –  und auch dort nur auf knapp zehn Seiten. Häufiger jedoch ist im Gesamtwerk Bachtins von Kreuzung (skreščenie) oder Überschneidung (peresečenie) die Rede. Was hat es also mit der kurzen Hinwendung zur Hybridität im System der Bachtinschen Sprachphilosophie auf sich? Die Studie Das Wort im Roman, in der von Hybridität die Rede ist, ist zwischen 1934 und 1935 entstanden; 1929 wurde Bachtin  –  soviel zur Orientierung  –  kurz nach dem Erscheinen seines Dostoevskij-Buches verhaftet, anschließend wird er nach Kustanaj, einen kleinen Ort in der kasachisch-sibirischen Grenzgegend verbannt. In den 30er Jahren beginnt Bachtin auch seine Studien zu Rabelais und zum deutschen Bildungsroman, wobei letzteres Manuskript nicht vollständig erhalten bleibt. In der Studie zum »Wort im Roman« fragt Bachtin, was Hybridisierung im Bereich der Sprache überhaupt bedeuten kann: »Sie ist die Vermischung (smešenie) zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung,



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безответственные и бессознательные 'величайшие негодяи', подобные Воронову«. Zur Hybridität als kulturelle Metapher vgl. Stoss: »The Hybrid Metaphor«; Young: Colonial Desire, S. 1−28.

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das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena dieser Äußerung«.6 Das Aufeinandertreffen zweier sprachlicher Bewusstseine diskutiert Bachtin bereits im Rahmen seiner Untersuchungen zur Dialogizität. Vielfach wird in der Forschung auch darauf hingewiesen, dass Bachtin Dialogizität und Hybridität eigentlich synonym verwendet.7 Aber Hybridisierung unterscheidet sich vom dialogischen Aufeinandertreffen des Wortes. Dialogisch verhalten sich zwei sprachliche Bewusstseine, wenn es nicht zu ihrer Verschmelzung oder Vermischung kommt, d. h. wenn, wie Bachtin sagt, zwar in der »Sprache eine einzige Äußerung aktualisiert wird, aber im Licht einer anderen Sprache gegeben ist«.8 Diese zweite Sprache, so heißt es weiter, bleibt außerhalb der Äußerung, auf sie wird nur referiert, sie klingt, deshalb auch die Rede von der Polyphonie, in der Äußerung an, wird aber nicht von ihr usurpiert oder vermischt sich eben nicht mit ihr. Bachtin spricht in diesen Zusammenhängen übrigens nie von Pfropfung. Vom Prozess her ist die dialogische Struktur des Wortes aber durchaus mit einem Aspekt der Pfropfung zu vergleichen, und zwar damit, dass bei der Pfropfung die beiden aufeinandergepfropften Teile ihre Eigenschaften bewahren. Derrida hat die Aufpfropfung in diesem Sinne als spezifische Text-zu-Text-Beziehung beschrieben: »Jeder aufgepfropfte Text strahlt weiterhin in Richtung des Ortes seiner Entnahme aus, transformiert auch ihn, wenn er mit neuem Terrain in Berührung kommt. Er wird durch die Operation definiert (gedacht) und ist zugleich für die Regelung und die Wirkung der Operation definierend (denkend)«.9 Derrida hebt hier auf ein textuelles Wechselverhältnis ab, das auch charakterisierend ist für die Idee des Dialogischen bei Bachtin. Derrida spricht von Prozessen des Transformierens, Deformierens, Kontaminierens, Abstoßens oder Regenerierens, mit denen man es beim Pfropfen zu tun hat  –  also mit Austauschprozessen, die zwischen zwei Texten oder Worten stattfinden, ohne dass diese ineinander verschmelzen.10 Bachtin bedient sich terminologisch selten in der Biologie, er spricht eher von einem parodistischen oder polemischen oder stilisierenden Verhältnis, bei dem der Text, auf den Bachtin: »Wort im Roman«, S. 244; Bachtin: »Slovo v romane«, S. 170: »Это смешение двух социальных языков в пределах одного высказывания, встреча на арене этого высказывания двух разных, разделенных эпохой или социальной дифференциацией (или и тем и другим), языковых сознаний«. 7 Vgl. u. a. Babič: »Dialog poėtik«, S. 41. 8 Bachtin: »Wort im Roman«, S.  247; Bachtin: »Slovo v romane«, S.  174: »здесь актуа­ лизирован в высказывании один язык, но он дан в свете другого языка«. 9 Derrida: »Aufpfropfungen«, S. 402. 10 Ebd. 6





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Bezug genommen wird, als anderer erkennbar bleibt. Und wenn Bachtin in diesem Zusammenhang ›Kreuzung‹ (skreščenie) oder ›Überschneidung‹ (peresečenie) verwendet, dann nie, um eine Konnotation von ›Vermischung‹ aufzurufen, sondern um  –  ganz im Gegenteil  –  anzuzeigen, dass in der genannten Kreuzung zwar ein »inneratomarer, unregelmäßiger Wechsel der Stimmen«11 stattfindet, diese aber als sich Unterscheidende noch zu identifizieren sind. In seinem 1929 erschienenen Buch Probleme des Schaffens bei Dostoevskij (Problemy tvorčestvo Dostoevskogo) arbeitet Bachtin deshalb auch heraus, dass in Dostoevskijs Romanen trotz der Kreuzung und Verschränkung von Stimmen und Bewusstseinen immer mindestens zwei Stimmen zu hören sind: »In jeder Stimme konnte er [Dostoevskij] zwei miteinander streitende Stimmen hören, in jeder Äußerung einen Bruch und die Bereitschaft, sofort zu einer anderen, entgegengesetzten Äußerung überzugehen, er begriff die tiefe Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit jeder Erscheinung«.12 Zweistimmigkeit und Ambivalenz, d. h. Zweiwertigkeit der Standpunkte sind grundlegend für das dialogische Sprachverständnis und das dialogisierte Wort. Mit der Hybridisierung verhält es sich nach Bachtin jedoch anders, hier kommt es tatsächlich zu einer Vermischung, zu einer neuen, unauflösbaren Verbindung. Grundsätzlich unterscheidet Bachtin zwischen einer »[unabsichtlich] unbewussten« (nenamerennaja bessoznatel’naja)13 Hybridisierung und einer bewussten und absichtlichen. Die »unabsichtliche, unbewusste« Hybridisierung ist nach Bachtin ein »zentraler Modus des historischen Lebens und Werdens von Sprachen«.14 In einer Fußnote vermerkt er, dass die aus dem Prozess der sprachlichen Evolution entstehenden Hybriden zwar zweisprachig sind, aber dennoch einstimmig, also monologisch.15 Er begründet dies damit, dass in diesen Hybriden zwei »unpersönliche (bezličnye) Sprachbewußtseine (die Korrelate zweier Sprachen)«16 gemischt werden. Die künstlerische Hybride hingegen ist beabsichtigt und bewusst hergestellt, im Roman stellt sie ein künstlerisches Verfahren dar. Im Unterschied zur einstimmigen Hybride der historischen Sprachevolution ist diese Hybride durchaus zweistimmig, also dialogisch, denn an der Vermischung sind nun zwei, wie Bachtin schreibt, individualisierte und nicht mehr unpersönliche Sprachbewusstseine, zwei Stimmen, zwei Standpunkte Bachtin: Probleme der Poetik, S. 236; »Problemy poėtiki«, S. 235: »внутриатомный перебой голосов«. 12 Ebd., S. 10. 13 Bachtin: »Wort im Roman«, S. 244; »Slovo v romane«, S. 170. 14 Ebd.: »один из важнейших модусов исторической жизни и становления языков«. 15 Ebd., S. 362. 16 Ebd., S. 245. 11

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beteiligt. Die künstlerische Hybride ist nach Bachtins Verständnis also dialogisiert, hier findet keine unbewusste Vermischung statt, sondern ein Zusammentreffen und ein Kampf auf dem Territorium der Äußerung. Die Terminologie vom Kampf und Streit verwendet Bachtin auch sonst für die Beschreibung des Dialogischen. In Wort im Roman ergänzt er sogar: »Die beiden Standpunkte werden hier nicht vermischt, sondern einander dialogisch konfrontiert«.17 An dieser Stelle spätestens muss nun gefragt werden, mit welchem Verständnis von Hybridität Bachtin eigentlich operiert? Bachtin ›kombiniert‹ hier ganz bewusst das Dialogische (die Idee des Aufpfropfens) mit dem Hybriden. In der Botanik unterscheiden sich Aufpfropfen und Hybridisieren als Prozesse und Kulturtechniken darin, dass beim Aufpfropfen die genetische Identität der beiden Teile bestehen bleibt trotz Zirkulation der Säfte an der Schnittstelle. Beim Hybridisieren hingegen wird aus zwei differierenden Entitäten etwas Drittes gebildet, das Eigenschaften von beiden aufweist und dessen neue Merkmale vererbbar sind. Obwohl Bachtin Hybridität und Dialogizität zu Beginn seiner Überlegungen zum Bild der Sprache im Roman im Grunde in diesem Sinne unterschieden hatte, wobei er zugleich einräumte, dass es sich nur um eine theoretische Unterscheidung handle, wird im Moment der Beschreibung der künstlerischen Hybride als dialogisierter Hybride die Trennung beider Begriffe scheinbar wieder aufgehoben. Bachtin hat jedoch, was seine Vorstellungen von Hybridität eher geprägt zu haben scheint, weniger die botanischen Prozesse im Sinn als eine Diskussion, die in der Linguistik und Ästhetik geführt wurde – bei Gustav Špet und Viktor Vinogradov  –  die sich ihrerseits an Humboldts Sprachphilosophie orientierten. Hybridität verwenden beide, Vinogradov und Špet, im Kontext einer Diskussion um die Romanstilistik, die »künstlerische Besonderheit des Wortes«18 im Roman. Bachtin kritisiert Gustav Špet, der dem Roman alle ästhetische Qualität abspricht, weil das Wort im Roman kein künstlerisches, sondern ein rhetorisches Wort sei. Špet kritisiert seinerseits in dem von Bachtin zitierten Werk, Die innere Wortform (Vnutrennaja forma slova, 1927) die von Humboldt getroffene Unterscheidung von Prosa und Poesie, wobei er beklagt, dass Humboldt »die hybride Natur der ›künstlerischen Prosa‹ sanktioniert«.19 Hybrid sei diese, weil Humboldt annehme, dass sowohl künstlerische Prosa als auch Poesie von der Wirklichkeit ausgehen, obwohl sich doch, nach Špet, Prosa Ebd., S. 246; Bachtin: »Slovo v romane«, S. 172: »Две точки зрения здесь не смешаны, а диалогический сопоставлены«. 18 Bachtin: »Das Wort im Roman«, S. 160. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Špet: »Vnutrennaja forma slova«, S. 458; Špet verweist auf Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, S. 236. 17



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und Poesie klar trennen lassen, die eine gehe von der Wirklichkeit, die andere von der Möglichkeit aus. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Vinogradov, der den Roman für ein hybrides Gebilde aus Poesie und Prosa hält. Bachtin entwendet im Anschluss der Lektüre von Špet und Vinogradov den Begriff der Hybridität und besetzt ihn positiv. Der Roman ist nach Bachtin nicht länger ein mehr oder weniger negativ zu bewertender Hybrid aus Prosawort und poetischem Wort, sondern jedes Wort, auch das rhetorische erweist sich ohnehin als hybridisiertes Wort, in der künstlerischen Verwendung sogar als dialogisiertes Wort, bringt also zwei Standpunkte, Akzente, Stimmen in einer Äußerung als sich voneinander unterscheidende zusammen. Bachtins Kritik an Špets Skepsis gegenüber dem hybriden Status der künstlerischen Prosa wird auf andere Weise in der Bachtinrezeption der Postcolonial Studies noch einmal pointiert.20 Während bei Špet eher eine negative Konnotation von Hybridität durchscheint, die analog zum Gebrauch des Begriffs der Hybridität seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Biologie als Kennzeichnung der Vermischung von zwei ursprünglich differenten Spezies oder reinen Rassen verwendet wird,21 geht Bachtin an keiner Stelle von einer ursprünglich angenommen Identität oder Reinheit aus. Ganz im Gegenteil, Bachtin betont explizit, dass Hybridisierung in der Sprache ein organischer, also natürlicher Prozess sei.22 Das ist der Moment, in dem sich Bachtin gegen die in der Kulturtheorie und Biologie übliche, meist pejorative Verwendung des Begriffes wendet. Sprache ist nach Bachtin schon immer eine organische Hybride. Und auch Sprachveränderung, sprachliche Evolution geht nach Bachtin hauptsächlich durch Hybridisierung, also durch stete Differenzbildung und Verarbeitung des Fremden vonstatten, durch einen kreativen Evolutionsprozess, in dem die Äußerung als »Tiegel der Vermischung« (kraterom dlja smešenija)23 dient. Eine Reihe von Arbeiten bezieht sich auf Bachtins Verständnis von sprachlicher Hybridität: Bhabha: The Location of Culture, S.  119; Canclini: Hybrid Cultures; Kapchan  /  Strong: »Theorizing the Hybrid«. In der Sondernummer Theorizing the Hybrid werden auch die Beziehungen zu anderen kulturellen Kreuzungs-Prozessen – zum Synkretismus, zur Bricolage, Kreolisierung und Pidginisierung thematisiert. 21 Young zeigt in seiner Begriffsgeschichte, dass seit dem 18. Jahrhundert ›Hybridität‹ als Begriff verwendet wird, »to describe the offspring of humans of different races implied, by contrast, that the different races were different species: if the hybrid issue was successful through several generations, then it was taken to prove that humans were all one species, with the different races merely sub-groups or varieties – which meant that technically it was no longer hybridity at all«. Young: Colonial desire, S. 9. 22 Vgl. auch Nancy: »Lob der Vermischung«, S. 7: »Die Vermischung ist nicht akzidentell, sondern ursprünglich; sie ist nicht kontingent, sondern notwendig; sie ist nicht: sie geschieht«. 23 Bachtin: »Wort im Roman«, S. 244. 20

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Diese Eigenschaft von Hybridität macht Bachtin auch für die Postcolonial Studies interessant. Für Homi K. Bhabha ist Hybridität eine Eigenschaft von Sprache und Kultur, die stetig Differenz erzeugt. Wie Bachtin interessiert er sich nicht dafür, »to trace two original moments from which the third emerges«, sondern er bestimmt Hybridität als »dritten Raum« (third space), »which enables other positions to emerge«.24 Diese durch Bachtin begonnene und durch Bhabha profilierte positive Resemantisierung des Konzepts von Hybridität hat nichts mehr mit Mischung oder Verlust von ursprünglicher Reinheit gemein, sondern bezeichnet vielmehr Differenz, Korrelation, Koexistenz  –  also Dialogizität in Bachtins Sinn. Und diese Wendung ist auch schon bei Bachtin selbst angelegt, indem er die künstlerische Hybride als dialogisierte beschreibt und Kreuzung nicht als Vermischung versteht. Bezogen auf kulturelle Prozesse liest Bhabha Bachtins Konzept der bewussten, intentionalen Hybridität als ein subversives Verfahren, das er als Widerstandsmöglichkeit gegen die koloniale Herrschaft, das durch diese selbst hergestellt wird, begreift.25 So weit geht Bachtin selbst allerdings nicht, zumindest nicht explizit, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte mit Blick auf die kulturelle Entwicklung in der Sowjetunion. Sein Anliegen ist es vielmehr deutlich zu machen, dass künstlerische Verfahren der Hybridisierung, beispielsweise im Roman, die organisch gewachsene Hybridisierung und die mit ihr verbundene Erkenntnis über Sprache im künstlerischen Werk nicht ignorieren oder sich von dieser sekundär befreien, sondern gerade darstellen. Bachtin spricht davon, dass in der künstlerischen Hybride, der Sinnhybride (smyslovoj gibrid), ein Bild der Sprache als organische Hybride (organičeskij gibrid) hergestellt wird. Es handelt sich hier also um ein Verfahren der Hybridisierung, das die organische Hybridität von Sprache zum Erscheinen bringt. Doch damit nicht genug: Weil Sprache nicht als Gegebene vorhanden ist, sondern im Prozess ihrer Verwendung immer deutlicher hybridisiert, gibt es immer mindestens zwei unterschiedliche, wie Bachtin schreibt, sprachliche Bewusstseine, in die eine Äußerung zerfällt. Die Verwendung von Sprache Rutherford: »The Third Space«, S. 211. In Third Space bezieht Bhabha sich auf die Prozesse der Hybridisierung im kolonialen Kontext. Durch die Kolonialisierung kommt es zu gegenseitigen Aneignungsprozessen, durch die ein hybrides »Drittes«, der »dritte Raum« entsteht, der weder zur kolonisierten noch zur kolonisierenden Kultur gehört. Der dritte Raum kann nach Bhabha zum Ausgangspunkt für die Subversion der Kolonialkultur werden. 25 Vgl. Bhabha: Verortung, S. 112: »Wenn wir den Effekt kolonialer Macht in der Produktion von Hybridisierung sehen und nicht in der lauten Herrschaft kolonialer Autorität oder der stummen Verdrängung indigener Traditionen, findet ein wichtiger Perspektivwechsel statt. Er offenbart die Ambivalenz am Ursprung traditioneller Diskurse über Autorität und ermöglicht eine Form der Subversion, die in dieser Unsicherheit gründet und die diskursiven Zustände der Herrschaft in den Nährboden der Intervention verwandelt«. 24



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ist somit eine stetige Vorführung des Prozesses von Hybridisierung, die in der künstlerischen Sprache sichtbar gemacht werden kann: »Die konkreten einzelnen Äußerungen bauen ja auf dieser abzubildenden Sprache auf, daher muss das abzubildende Sprachbewußtein notwendig in Autoren, Sprechern der betreffenden Sprache verkörpert sein, die darauf Äußerungen gründen und deswegen ihren eigenen aktualisierten sprachlichen Willen in die Potenz der Sprache einbringen. An der bewussten und beabsichtig­ ten künstlerischen Hybride sind also zwei Bewußtseine, zwei Willen und folglich zwei Akzente beteiligt«.26 Bachtins Verwendung des Begriffs Hybridität dient im Grunde der Differenzierung unterschiedlicher Wechselbeziehungen zwischen darstellendem und dargestelltem, wie er es nennt, »Bild der Sprache« (obraz jazyka). Darüber hinaus verbindet Bachtin mit dem Begriff der Hybridität ein organisches Modell der Sprache, die sich in Bezug zur sozialen-gesellschaftlichen Umwelt in steter Ausfaltung ihrer Mannigfaltigkeit weiterverzweigt, Sinnhybriden entstehen lässt, deren Abschließbarkeit durch ein ständig erneutes Sinnwachstum ausgeschlossen werden kann. In dieser organischen und immer schon vorhandenen Auffassung der Hybridität von Sprache liegt  –  zunächst  –  auch der deutlichste, wenngleich metaphorische Bezug zur Botanik der 20er Jahre, u. a. auch zur Mičurinschen Biologie. Bevor ich aber auf die Konsequenzen dieses Bezugs für die Sprachphilosophie bzw. Linguistik eingehe, ein kurzer Überblick über die Verwendung des Begriffs Hybridität in der sogenannten MičurinBiologie und sowjetischen Vererbungslehre.

II. Apfel-Hybride Auf dem Gebiet der Botanik war die Methode der Hybridisierung in Russland bzw. in der Sowjetunion zunächst mit dem Botaniker Ivan Vladi­ mirovič Mičurin und der sich aus seiner Methode entwickelnden MičurinBiologie, einer antimendelistischen, sich auf Lamarck zurückbeziehenden Vererbungslehre verbunden, die in der Sowjetunion zur Entwicklung, Miču­ rin nennt es selbst Erziehung, klimaresistenter Apfel‑ und Getreidesorten führen sollte. 26

Bachtin: »Wort im Roman«, S. 245; Bachtin: »Slovo v romane«, S. 171: »Ведь на этом изображаемом языке строятся конкретные единичные высказывания, следовательно, изо­ бражаемое языковое сознание обязательно должно быть воплощено в каких-то ›авторах‹, говорящих на данном языке, строящих на нем высказывания и потому вносящих в потенции языка свою актуализующую языковую волю. Таким образом, в намеренном и сознательном художественном гибриде участвуют два сознания, две воли, два голоса и, следовательно, два акцента«.

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Mičurin, geb. 1855, hatte seine ersten privaten Versuche der Züchtung neuer Apfel‑ und Obstsorten, die für den russischen Winter geeignet waren, bereits im zaristischen Russland begonnen. In seiner 1935, kurz nach seinem Tod von sowjetischen Hagiographen verfassten Biographie heißt es: »Schon als Kind beherrschte er ausgezeichnet die verschiedenen Pfropfmethoden, mit 18 Jahren ist er ein Meister im Okulieren, Kopulieren, Ablaktieren«.27 Nachdem Mičurin festgestellt hatte, dass der einheimische russische Obstbestand von minderer Qualität ist und ausländische Sorten das raue Klima nicht überstehen, gründete er 1888 seine erste Baumschule. Vom Zaren und von der russisch-orthodoxen Kirche wurde er bei seinen Züchtungsexperimenten kaum unterstützt. Überliefert wird in der Sowjetunion, dass die russisch-orthodoxe Kirche sich mit dem Satz: »Du hast den Garten Gottes in ein Freudenhaus verwandelt«28 dezidiert gegen seine in die Natur eingreifenden Forschungen wandte. Mičurin hatte mit seinen auf der Basis der Darwinschen und Lamarckschen Evolutions‑ bzw. Vererbungstheorien beruhenden Forschungen im alten Russland keinen Erfolg. Umso mehr jedoch wurde er nach der Oktoberrevolution gefeiert und verehrt. Schon 1922 wurde Mičurin mit einem eigenen Forschungslabor ausgestattet, auf der ersten Allunionsausstellung der Errungenschaften der Sowjetunion 1923 wurden seine Hybriden – Äpfel, Birnen, Kirschen – ausgestellt, 1927 ein erster Propagandafilm gedreht, der den einfachen Bauern die Methoden der Pfropfung und Hybridisierung erklären soll, 1931, vier Jahre vor seinem Tod, bekommt er schließlich den Leninorden; 1948 wird Mičurins Leben von Aleksandr Dovženko verfilmt. Wie lassen sich nun Mičurins Forschungsergebnisse zusammenfassen? Vier Methoden der Züchtung von Obstsorten hat sich Mičurin im Laufe von fünfzig Jahren gewidmet, einige davon hat er selbst erfunden. Zuerst versuchte Mičurin, Apfelsorten mit der Methode der Akklimatisation zu züchten, doch diese Methode hatte, wie er schnell feststellte, keinen Erfolg, die Klimaresistenz südlicher Apfelsorten stellte sich im russischen Winter nicht ein. Die Pflanzen gingen ein. Zweitens versuchte Mičurin, durch Pfropfung den ›Süden‹, wie er sagt, nach ›Norden‹ zu bringen, indem er ›Südländer‹ auf kältebeständige Wildlinge pfropfte. Doch auch die Pfropfung führte nicht zum Erfolg, die Sämlinge gingen im ersten Winter ein. Drittens versuchte Mičurin durch künstliche, sexuelle Hybridisation, örtliche Sorten mit südlichen Sorten zu kreuzen, doch die Eigenschaften der örtlichen Sorten blieben dominant. Viertens schließlich wagte Mičurin eine Hybridisation mit Elternpaaren, die nach ihrer geographischen Her27 28

Vgl. Bacharew: »Leben und Werk I. W. Mitschurins«, S. 28. Ebd., S. 41.



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kunft und in verwandtschaftlicher Hinsicht weit voneinander entfernt sind, er nennt das »entfernte Hybridisation«. Diese führte zum Erfolg. Die entfernten südlichen Sorten gaben den Geschmack, die Größe, die Färbung, die örtlichen die Widerstandsfähigkeit. Die entstandenen Hybriden, durch sexuelle Hybridisation (Bestäubung) erzeugt, wurden anschließend durch Pfropfung in die Krone eines Baumes, eine Methode, die Mičurin auch vegetative Hybridisation nennt, »erzogen«. Diese Pfropfung, die er der Hybridisierung gleichstellt, nennt Mičurin die Mentor-Methode. Im Unterschied zu Mendel war er davon überzeugt, dass vegetative Hybridisation möglich ist, dass also auch durch Pfropfung ein Einfluss auf die Erbmerkmale ausgeübt werden kann, eine These, die auch Darwin schon vertrat. Die Pfropfung eines jungen Hybriden hat nach Mičurin beispielsweise einen Einfluss auf die Eigenschaften beider Sorten, der junge Baum erzielt einen hohen Ertrag, der ältere verdoppelt die Größe seiner Früchte durch die Energie des jungen Baumes. Der Einfluss der Unterlage führt, so Mičurin, zur Verjüngung des Mentors, während der Mentor dem jungen Baum seine Trageigenschaften vererbt.

Abb. 1

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Mičurin war also der Ansicht, dass Obstsämlinge durch Erziehung und geeignete Pfropfpartner (Mentoren), durch eine Verbindung von Ontogenese und Phylogenese, und nicht gemäß den Mendelschen Gesetzen beeinflusst werden. Mičurin bewies, wie er es selbst formuliert, in Tausenden von Versuchen, dass die Eigenschaften, Merkmale und Qualitäten nicht nur der nächsten Verwandten erblich übertragen werden, sondern, und dies ist das zentrale Moment für die sowjetische Vererbungslehre, auch jene Veränderungen, die sich »infolge der wirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen und des Eigentums und des Einflusses der Umwelt ergeben«.29 Mičurin wollte also zeigen, dass durch »die Lenkung der individuellen Entwicklung des Organismus in eine bestimmte Richtung auch die Erbeigenschaften des Organismus geändert werden können«.30 Dass Mičurin hier Vorstellungen aufgreift, die zurückgehen auf Lamarck, ist überdeutlich. Schon Lamarck hatte behauptet, dass Lebewesen ihren Nachkommen auch jene Eigenschaften vererben, die sie in ihrem Leben neu erworben haben. Mičurin greift zu einem Zeitpunkt auf Lamarck zurück, als durch die von Mendel beschriebenen Regeln der Vererbung und die Entdeckung der Gene die Annahmen des Lamarckismus längst widerlegt worden waren. Doch Mičurin versucht die Grundthesen Mendels  –  die man in der Sowjetunion als formalistische oder mechanistische Genetik bezeichnet – in seinen Schriften zu widerlegen. Es heißt: »Weil die äußeren Einflüsse nicht reproduzierbar sind bei der Erziehung der Pflanzen, erhalten wir bei der Aussaat von Hybridensorten niemals dieselben Sorten, sondern stets völlig neue Sorten«.31 Im Unterschied zu Mendel hat Mičurin während seiner ganzen Tätigkeit niemals die von diesem behauptete Beständigkeit und Unveränderlichkeit bei den entfernten Hybriden von Obstbäumen und Beerensträuchern beobachtet. Die Vererbung sei eine Eigenschaft des gesamten Organismus. Es existieren keine diskreten Erbanlagen oder Gene, so Mičurin. Mičurins Kritik an der Mendelschen Genetik, der formalistischen Genetik, besteht in deren angeblichem A-Biologismus. Die formale Genetik behandle den Organismus wie einen leblosen Körper (neživoj), als anorganisches Phänomen. Das Ziel zur Erhöhung der Erträge kann deshalb  –  so waren sich die Forscher der Mičurin-Biologie einig  –  nicht die »mechanistische« Selektion von Arten mit optimalen Erblinien sein, sondern vielmehr die gezielte Erziehung der gebildeten Hybride, indem man sie jung durch die Mentor-Methode veredelt und gezielt jenen Umweltbedingungen aussetzt, an die man sie anpassen möchte. Evolution Ebd., S. 45. Vgl. Lyssenko: »I. W. Mitschurin«, S. 21. 31 Mitschurin: Ausgewählte Schriften, S. 424. 29 30



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müsse ein kreativer Prozess sein, kein restriktiver Prozess der Auslese; ein kreativer Prozess, in dem unterschiedlichste Rassen oder Arten – fehlerhaft und hybrid in ihren Ursprüngen – sich im Wachstumsprozess durch weitere Veredelung und Wechselwirkung mit der Natur in eine ertragreichere oder resistentere Pflanze verwandeln. Um der Kreativität auch terminologisch Raum zu geben, nennt man die Mičurin-Biologie in den 30er Jahren auch schöpferischen Darwinismus. Mičurin verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Anschauung, die Arten und Gattungen existierten ewig und seien einmal und für immer geschaffen, ohne mit anderen Arten und Gattungen ähnlicher Organismen in Verbindung zu stehen, falsch sei: »Wir leben in einem Zeitabschnitt der ununterbrochenen Bildung neuer Formen lebendiger Organismen«.32 Hybridität ist nach Mičurin ein ohnehin in der Natur vorkommender Prozess, der durch gezielte Kreuzung und Erziehung, also durch die Veränderung und Steuerung der Umweltbedingungen, nur optimiert werden kann. Hybridbildung ist so gesehen ein Prozess in der Natur, der durch eine Kulturtechnik wiederholt wird. In dem 1948 unter der Regie von Dovženko gedrehten PropagandaFilm über Mičurins Leben und Lehre wird die gesellschaftliche Relevanz seiner Entdeckung mitinszeniert. Besonders deutlich wird die Beziehung zwischen Subjekt und Umwelt, d. h. zwischen Mentormethode und Pädagogik hervorgehoben. Während einer Ausstellung erklärt der alte Mičurin der nächsten Generation von Bauern und noch einigen unbelehrbaren Gläubigen seine Methode. Während Mičurin ein Apfelpaar zeigt, einen Vater und eine Mutter, die durch geschlechtliche Hybridisation eine Tochter gezeugt haben, welche darüber hinaus durch Pfropfung erzogen wurde, schwenkt die Kamera in den Apfelbaum, in dem nicht nur Äpfel hängen, sondern auch die Früchte des Sozialismus, Kinder, sitzen.

Abb. 2 32

Ebd.

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Die Analogie ist deutlich, die Entwicklung des Menschen ist durch dessen Assimilation an die Umwelt zu erreichen, durch die pädagogische Mentormethode. Resultat soll der widerstandsfähige, anpassungsfähige neue Mensch sein. Und wenn Mičurin hinzufügt, dass »sich jede Pflanze, in allen ihren Teilen, nicht sofort, im ersten Jahr ihres Daseins, sondern erst allmählich im Verlauf mehrerer Jahre vervollkommnet, wobei sie alle Stadien der Veränderung von der Wild‑ zur Kulturart durchläuft«,33 dann erinnert dieser Entwicklungsprozess unweigerlich an den von Katerina Clark in jedem sozialistisch realistischen Roman entdeckten Masterplot, dem zufolge sich jeder Held auf dem Weg von der Spontanität (stichijnost’), der Wildheit, zur Bewusstheit (soznatel’nost’), zum Kulturmenschen, entwickelt. Dieser Weg ist immer durch das Milieu und die Erziehung gekennzeichnet, und es wird – bedenkt man Mičurins Vererbungslehre – noch einige Generationen dauern, bis sich das neue Milieu als dominant bei der Vererbung erweist. Boris Pasternak hat übrigens mit dem Ende seines Romans Doktor Živago eine deutliche Gegenposition zu dieser lamarckistischen Vererbungslehre eingenommen. Dort erkennt Evgraf die verloren gegangene Tochter seines Bruders Jurij Živago daran, dass diese das Spielen der Balalaika ganz wie der Vater beherrscht, obwohl sie es nie gelernt hat und im Sozialismus technisch, und zwar als Ingenieurin, in einem Wasserkraftwerk ausgebildet wurde. Die Gene sind also nach Pasternak stärker als das sozialistische Milieu.

III. Kreuzung vs. Aneinanderreihung – organisch vs. mechanisch Schon Engels, später Marx, hatte mit Verweis auf Darwin betont, dass die sozialen Umstände, das Milieu, das Bewusstsein den Menschen bestimmen. Neo-Darwinismus und Neo-Lamarckismus avancierten deshalb nach der Revolution nach und nach zur gültigen sozialistischen Evolutionslehre.34 Dovšenko: Mičurin, 25:23. In der linguistischen Japhetitentheorie von Nikolaj Marr gibt es analog dazu eine These von der Entwicklung der Sprachen. Die sogenannte Stadialtypologie bei Marr besagt, dass sich die einzelnen Sprachen analog zum Wechsel der Gesellschaftsformationen ›nach oben‹ entwickeln, im Kommunismus schließlich werde der qualitativ höchstmögliche Sprachzustand erreicht. Vgl. Marr: »Po etapam jafetičeskoj teorii«. 34 Heftig debattiert wurde über Marxismus und Evolutionsbiologie auf der All-UnionsKonferenz der marxistisch-leninistischen Forschungseinrichtungen im April 1929, der Streit wurde insbesondere zwischen Genetikern und sozialwissenschaftlich orientierten Marxisten-Lamarckisten ausgetragen. Die Genetiker Solomon G. Levit und Isreal Io. Agol forderten hier noch das Ende aller ›larmarckistischen‹ Forschungen und versuchten zu zeigen, dass die Genetik viel näher am Marxismus sei als der Lamarckismus. Der Streit in der sowjetischen Evolutions‑ und Erbforschung, der sowohl auf kultureller wie auf 33



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Boris Gasparov hat beobachtet, dass die Polemik der Neolamarckisten (Mičurin, Lysenko) gegen die ›formale Genetik‹ Ähnlichkeit hat mit der Polemik, die in den 20er Jahren zwischen dem Bachtin-Kreis und dem Kreis der russischen Formalisten (u. a. Viktor Šklovskij, Roman Jakobson) und allgemein der strukturalen Linguistik de Saussures geführt worden ist.35 Lässt sich, das ist nun meine Frage, die Rede von Hybridität in der Bachtinschen »Metalinguistik« mit der Frage der Hybridisierung in der Botanik bei Mičurin vergleichen? Was bedeutet es, an dieser Stelle Parallelen zu ziehen zwischen Biologie bzw. Botanik und Sprachphilosophie? Bachtin hatte Sprache als organisches, als natürliches Hybridsystem bezeichnet, das durch den Gebrauch, durch Sprecher, durch das soziale Umfeld immer wieder Modifikationen und neue Hybridisierungen erfährt. Bezeichnend ist hierbei, dass Bachtin vom Organischen in Bezug auf das Schöpferische der Sprache spricht und dabei nicht unbedingt an die Rede vom Organischen aus dem 18. und 19. Jahrhundert anschließt.36 Auch wenn Bachtin die bekannte Gegenüberstellung von organisch und mechanisch übernimmt und eine Ganzheit im Sinne hat, die mehr ist als die Summe der Teile, Gedanken, die sich auch schon in Friedrich Schlegels, Wilhelm von Humboldts und Jakob Grimms sprachtheoretischen Forschungen finden, verbindet Bachtin mit der Idee des Organischen vor allem den Gedanken des Schöpferischen und Vitalen, auf den insbesondere Henri Bergson in seiner Gegenüberstellung von organisch und anorganisch insistierte. Bergson denkt den Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem, dem Mechanischen und dem Leben vor dem Hintergrund der modernen Naturwissenschaft, die den Organismus restlos zu erkennen und zu ergründen sucht. Im Unterschied zu den modernen Naturwissenschaften, die, wie es bei Simmel über Bergson heißt, »die mechanistische Naturgesetzlichkeit sogar auf das Innere des Organismus übertragen«, d. h. auch einen Organismus als Körper betrachten, in dem »mechanistische Wirkungen sich zusammenfinden in einer außerordentlichen Komplikation biologischer Ebene geführt wurde, wird von Stalin Anfang der 30er Jahre jedoch beendet und zugunsten des Neo-Lamarckismus entschieden; Stalin verbietet alle Forschungen im Bereich der Genetik und Eugenik. Levits Institut der Medizinischen Genetik wird geschlossen, Levit und Agol werden verhaftet und umgebracht. Der ›Neue Mensch‹ solle fortan durch politische Erziehung und durch die Umwelt erzeugt und erzogen werden. Diese antrainierten Eigenschaften, davon war man überzeugt, werden – ganz im Sinne von Lamarck und Mičurin – auch an die nächsten Generationen weitergegeben. Vgl. Siemens: »Was ist Lyssenkoismus«. 35 Gasparov: »Development or Rebuilding«, S. 153ff. 36 Zur Rede vom Organischen der Sprache im 19. Jahrhundert vgl. z. B. Kucharczik: »Organisch«, S. 85. Kucharczik arbeitet heraus, dass drei verschiedene Organismuskonzeptionen gebräuchlich waren, die sprachtypologische Friedrich Schlegels, die historische Jakob Grimms und eine beinahe naturwissenschaftliche bei August Schleicher.

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der Gesetzmäßigkeiten, die sie auch außerhalb des Organismus zeigen«,37 wendet sich Bergson gegen diese Neukonzeption des Organischen, weil sie den Zeitfaktor vergisst und damit glauben macht, dass die Zukunft jedes Wesens berechenbar sei aus dem vorhergehenden. Simmel fügt hinzu – mit Seitenblick auf künstlerische Prozesse  –, dass das Lebendige in dieser Konzeption gegen das Konstruiertwerden, gegen die Wiederholbarkeit von Prozessen protestiert: »Das Nebeneinander der Atome, auf das der Mechanismus anwendbar ist, gleicht dem bloßen Nebeneinander der Worte, das nicht mehr von der Lebenskraft eines Sinnes durchblutet ist«.38 Dass Bachtin seine Theorie des dialogischen, ereignishaften, organischen Wortes u. a. im Dialog mit Henri Bergson und Georg Simmel aufstellt, ist nicht weiter verwunderlich, Bachtins Sprachphilosophie ist grundsätzlich gegen eine auf Generalisierbarkeit und Gesetzmäßigkeit zielende Linguistik und Kulturwissenschaft gerichtet. Auch in seinem einzigen Ausflug in die Biologie, dem 1926 unter dem Namen Ivan Kanaevs veröffentlichten Artikel »Moderner Vitalismus« (Sovremennyj vitalizm) bekennt sich Kanaev  /  Bachtin zum »kritischen Vitalismus« bzw. Neovitalismus, den er u. a. bei Bergson und Hans Driesch gegeben sieht.39 Dieser kritische Vitalismus denke nicht wie die moderne Naturwissenschaft den Organismus wie eine mechanische Gesetzmäßigkeit, sondern – umgekehrt – auch das Mechanische organisch, d. h. auch im Mechanischen finde sich ein Rest des Irrationalen, des Autonomen und Unvorhersehbaren. Die genannten Punkte sind im Grunde auch für die Mičurin-Biologie wesentlich, bis auf einen Unterschied: Zwar sagt auch Mičurin, dass sich Pflanzen in Korrelation mit der Umwelt entwickeln und die von der Umwelt erworbenen Eigenschaften weitergeben, so dass wir es ununterbrochen – aufgrund der Unberechenbarkeit von Umweltfaktoren – mit der Bildung neuer Formen lebendiger Organismen zu tun haben, die miteinander nicht identisch sind. Aber den Prozess der Hybridisierung denkt Mičurin, wie in der Botanik auch üblich, als Prozess der unauflösbaren Verbindung zweier Entitäten, die ihre Eigenschaften an die nächste Generation vererben. Ja sogar Pfropfung wird bei Mičurin zu einer Form der Hybridisierung (vegetative Hybridisierung), so dass sich nur noch die Kulturtechnik, nicht aber die Austausch‑ und Vererbungsprozesse bei Pfropfung und Hybridisierung unterscheiden. Man könnte sogar sagen, Bachtin denkt im Rahmen Simmel: »Henri Bergson«, S. 55. Ebd., S. 60. 39 Der Text erscheint 1926 in der Zeitschrift Der Mensch und die Natur (Čelovek i priroda). Bachtin, der hier unter dem Namen von Ivan Kanaev schriebt, konzentriert sich in diesem Text auf die Experimente Hans Drieschs (1867−1941) an Seeigeleiern, die die Thesen des »kritischen Vitalismus« demonstrieren, klärt aber zuvor die traditionell gegensätzlichen Standpunkte mechanistischer und vitalistischer Konzepte seit der Antike. 37 38



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seiner Sprachphilosophie Hybridisierung metaphorisch als Pfropfung, indem er sie als dialogische resemantisiert, umgekehrt behauptet Mičurin unter Beibehaltung der traditionellen Kulturtechnik, dass Pfropfung zur vegetativen Hybridisierung führen kann. Beide jedoch gehen davon aus, dass neue Organismen oder neue Worte nicht aus fertigen, distinkten, unveränderlichen Einheiten gebildet werden, die miteinander kombiniert werden, sondern mit einem dem Organismus und dem Wort und seiner Verwendung eigenen schöpferischen Prozess. Sprache ist somit weder gegeben noch erreicht die Sprachentwicklung je einen Zustand von Abgeschlossenheit. Die im Wort durch die Verwendung gespeicherte oder angereicherte Bedeutung verschwindet nicht, sie wird von Benutzer zu Benutzer weitergegeben, das macht Sinnbildung prinzipiell ereignishaft und daher unvorhersehbar. Weil dem so ist, wird von Mičurin u. a. die Mentormethode eingeführt, die Unberechenbarkeit der Natur wird durch Erziehung geregelt. Dieser Gedanke, eine Art Worterziehung, ist Bachtin selbstverständlich fremd. Im sozialistischen Realismus wird diese Erziehung jedoch von der Zensur übernommen. So gesehen ist Zensur der Mechanismus, der die ungenießbaren Wortfrüchte aussortiert und die klimaanfälligen veredelt. Lässt sich aber, so meine Frage, auch wenn es hier in der Botanik und in der Sprachphilosophie um die Beschreibung ähnlicher Prozesse geht, der Stellenwert der Mičurin-Biologie in der Sowjetunion mit dem der Bachtinschen Sprachphilosophie vergleichen? Schließlich handelt es sich bei Bachtins Sprachphilosophie um eine Theorie, die gerade aufgrund der Idee des Dialogischen und Hybriden als antidogmatisch gilt, weil auf der Idee des Dialogischen die »lebendige Vieldeutigkeit« (živaja mnogosmyslennost’)40 des Wortes ruht. Warum also lässt sich Mičurins Theorie gesellschaftlich nutzen, während Bachtins ›marxistische‹ SprachPhilosophie das kulturelle Konstrukt der Stalinzeit eher aushebelt? Und wie, um der These von Gasparov noch einmal nachzugehen, lässt sich der Streit zwischen dem Bachtin-Kreis und den Formalisten mit dem der Neolamarckisten und Mendelisten vergleichen? Aufschluss über diese Fragen erhält man insbesondere in jenen Schriften, die im Bachtin-Kreis unter den Namen Pavel Medvedevs und Valentin Vološinovs seit Mitte der 20er Jahre publiziert worden sind.41 In diesen Vološinov: Marxismus und Sprachphilosophie, S. 135; Vološinov: »Marksizm i filosofija jazyka«, S. 413. 41 Ich beziehe mich auf folgende Artikel, die Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre in Zeitschriften erschienen sind: Pavel Nikolaevič Medvedev: »Formalnyj metod v literaturovedenii« (»Formale Methode in der Literaturwissenschaft«, 1928); Valentin Vološinov: »Slovo v žizni i slovo v poėzii« (»Das Wort im Leben und das Wort in der Poesie«, 1926); »Marksizm i filosofija jazyka« (»Marxismus und Sprachphilosophie«, 1929); »O granicach 40

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wird die Verflechtung der organischen Sprachauffassung, der Rolle des Milieus und einer möglichen marxistischen Sprachphilosophie deutlicher formuliert als in »Wort im Roman«. In Marxismus und Sprachphilosophie (Markzism in filosofija jazyka) kommt Vološinov zu dem Schluss, dass die Sprache »ein ständiger Prozess des Werdens [sei], der durch die gesellschaftliche sprachliche Interaktion der Sprechenden verwirklicht wird«.42 Oder an anderer Stelle heißt es: »Sprache existiert nicht an und für sich, sondern nur zusammen mit dem individuellen Organismus einer konkreten Äußerung«, durchdrungen von »lebendigen Kräften«.43 Auch hier wird das Schöpferische der Sprache, ihr Werden, ihre Lebendigkeit betont. Im selben Buch diskutiert Vološinov auch die Sprachkreuzungstheorie von Nikolaj Marr, die in der Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt als Referenzpunkt galt. Nikolaj Marr war der Auffassung, dass Sprachen sich nicht wie im Stammbaummodell voneinander abspalten, sondern sich nur miteinander kreuzen und durch Kreuzung neue Sprachen entwickeln.44 Vološinov führt Marrs Theorie als positives Beispiel gegen die europäische Linguistik und Semasiologie an, deren Theorien, u. a. die von Ferdinand de Saussure, er als Versuch des abstrahierenden Systematisierens toter Sprachen ablehnt, weil sie auf einer monologischen Sprachauffassung beruhen: »Formalismus und Systematisierung sind der typische Zug eines Denkens, das auf ein fertiges und sozusagen stehengebliebenes Objekt gerichtet ist«.45 Marr hingegen verstehe »Kreuzung als Quelle der Bildung neuer Formen« und habe festgestellt, dass es eine ursprüngliche National‑ oder Muttersprache ohnehin nicht gebe, weil  –  so der Kommentar Vološinovs  –  der Ursprung schon immer durch die Begegnung mit dem fremden Wort bestimmt sei. Kreuzung (skrešenie) ist demzufolge der Schlüssel für alle Sprachursprungstheorien, weil es sich um den Prozess der Kreuzung handelt, der am Ursprung aller Sprachen liegt. Vološinov vertritt die These einer von vornherein bestehenden Hybridität der Sprache, ohne jedoch, wie später in Slovo v romane, einzuräumen, dass diese Form der Kreuzung durchaus monologisch sein kann. Allerdings kommt er nicht zu jenem Schluss, zu dem jedoch Marr gelangt und der besonders Stalin



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poėtiki i lingvistiki« (»Über die Grenzen der Poetik und Linguistik«, 1930). Die Frage der Autorschaft ist für die genannten Texte nicht abschließend zu klären. Vološinov: Marxismus und Sprachphilosophie, S.  162; Vološinov: »Markzism i filosofija jazyka«, S.  433: »Язык есть непрерывный процесс становлении, осуществляемый социальным речевым взаимодействием говорящих«. Ebd., S. 189. Vgl. Marr: »Po etapam jafetičeskoj teorii«, S. 268ff. Vološinov: Marxismus und Sprachphilosophie, S.  136; »Marksizm in filosofija jazyka«, S. 413: »Формализм и систематичность являюстся типический чертою всякого мышления, направленного на готовый, так сказать, остановившийся объект«. Oder, an anderer Stelle: »Die Orientierung im Strom des Werdens kann nie formal systematisierend sein«. Ebd.



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gefällt, nämlich dass die Kreuzung der Sprachen in der kommunistischen Gesellschaft in eine einzige Sprache münden werde.46 Ganz im Gegenteil, man könnte sogar behaupten, Vološinov wendet Marrs Theorie gegen sich selbst, denn Hybridisierung mündet, wie auch bei Bachtin, in die Vervielfältigung von Standpunkten, also in Ambivalenz und Differenz. Hybridisierung lässt sich also gleichzeitig stalinistisch und antistalinistisch lesen, wenn man Stalinismus mit Bachtins Worten als bestes Beispiel des Monologischen versteht. Marrs und Stalins Thesen erklären vielleicht auch, dass Bachtin Hybridisierung sowohl monologisch als auch dialogisch fasst, entweder als Vermischung oder als Bestehenbleiben des Doppelten und Ambivalenten im Dialogischen. Die streckenweise böse Polemik des Bachtin-Kreises gegen die formalistische Literaturtheorie bringt noch einen weiteren Akzent der Diskussion um Hybridität zur Sprache. Auch hier geht es im Wesentlichen um zwei Punkte, um die Isolation des Kunstwerkes von seiner Umgebung und die künstlerische Struktur als Summe oder Aneinanderreihung (nanizyvanie) von Verfahren. Medvedev argumentiert, dass die Isolation des literarischen Werkes von seiner Umgebung dazu führe, Literatur als anorganischen, mechanischen Gegenstand, als Summe von fertigen Einzelteilen zu bestimmen: »Die grundlegenden Voraussetzungen formalistischen Denkens bestehen darin, dass aus ihrer Position bloß Erklärungen von Umgruppierungen, Umplazierungen und Rekombinationen im Rahmen schon vorhandenen und völlig fertigen Materials möglich sind«.47 Šklovskij ignoriere den organischen Charakter des Romans, heißt es da, er untersuche bloß die Reihung »einander innerlich fremder Materialbrocken« (vnutrenne čuždych drug drugu kuskov materiala).48 Nach Medvedev wird weder Sprache noch Literatur aus Fertigteilen gebildet, die rekombinierbar sind, sondern aus sich ständig in Wechselbeziehungen befindenden und sich deshalb stets verändernden Elementen. Die Rede vom »selbstwertigen Wort« (samovitoe slovo) oder vom »Wort als solchem« (slovo kak takovoe) führe auf einen Irrweg, weil sich das Wort nicht isolieren lasse vom anderen Wort, vom Vgl. Marr: »Po etapam jafetičeskoj teorii«. Auch Stalin formuliert für die Sprachwissenschaft Thesen über die Kreuzung der Sprachen, so ist er der Meinung, dass bis zum Eintritt des Sozialismus, Kreuzung so stattgefunden hat, dass nichts Drittes oder Neues entstand, sondern sich im Kreuzungskampf der Sprachen immer eine als Sieger erwiesen habe, dass aber nun in der neuen Gesellschaftsordnung »zonale Sprachen« zu einer »gemeinsamen internationalen Sprache verschmelzen« würden. Vgl. Stalin: »An Genossen A. Cholopov«, S. 136. 47 Medvedev: »Formalnyj metod v literaturovedenii«, S. 275: »Основые предпосылки фор­ малистического мышления таковы, что на их почве возможны лишь объяснения перег­ руппировок, перемещений и перекомбинаций в пределах уже наличного и вполне готового материала«. 48 Ebd., S. 313. 46

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vorhergehenden Wort und antwortenden Wort.49 Šklovskij z. B. schreibt Mitte der 20er Jahre, um die immanente Literaturanalyse zu verteidigen: »Die Parodie existiert ohne das zu parodierende Material«50 – gegensätzlicher kann die Position Bachtin und Medvedev gegenüber nicht sein. Der Bachtin-Kreis reduziert in seiner Polemik die formalistische Literaturtheorie auf ihre synchrone, isolierende Literaturanalyse, die ohne Kontakt zu außerliterarischen Reihen auskomme, ohne Kontakt zur Gesellschaft, und Neues allein durch Rekombination bereits gegebener Elemente, die im historischen Prozess der literarischen Entwicklung keinen Veränderungen unterlagen, hervorbringe. Gasparov weist zu Recht darauf hin, dass der Bachtin-Kreis hier Argumente verwendet, die auch gegen die Genetiker, die Mendelisten ins Feld geführt werden, u. a. auch von Mičurin und später, stalinistisch zugespitzt, von Lysenko.51 Der biologistische, an die Mendelisten angelehnte Subtext, so Gasparov, finde sich jedoch nicht nur in den Polemiken des BachtinKreises, sondern wird von den Formalisten selbst auch verwendet. Allerdings ist der mendelistische Subtext bei Šklovskij erst Mitte bis Ende der 20er Jahre zu lesen, zu einem Zeitpunkt also, als die Angriffe gegen die formalistische Theorie ihren ersten Höhepunkt erreichten. Man könnte auch sagen, Šklovskij antwortet hier bereits im Vokabular seiner Gegner. Insbesondere in Hamburger Rechnung (Gamburgskij ščet, 1928) wird dies deutlich, dort wendet sich Šklovskij in einigen Texten direkt gegen die Vertreter vulgär-soziologischer Literaturbetrachtung – wie beispielsweise gegen Pereverzev und dessen Buch Die soziologische Methode und die Formalisten (Soziologičeskij metod i formalisty). Gasparovs These ist, dass Šklovskij auch implizit mit dem Bachtin-Kreis und Lysenko abrechnet. Bezeichnend ist, dass Šklovskij in diesem Zusammenhang auch über die Irrtümer und den Unsinn von Kreuzung als künstlerischem Verfahren insbesondere von Genres schreibt, indem er ein Beispiel aus der Biologie Ebd., S. 272. Šklovskij: »Gamburgskij ščet«, S.  308: »Пародия существует вне пародируемого ма­ териала«. 51 Gasparov schreibt, dass die »Parallelen zwischen der philologischen Diskussion und der Polemik in der Biologie« offensichtlich sind, wobei er beide als voneinander unabhängige Entwicklungen der Idee einer »schöpferischen Evolution der Kultur« betrachtet. Weiter heißt es, »sometimes it seems as if the polemics against the ›formal method‹ in literature and in biology stood as metaphorical paraphrases of each other. Indeed, if we substitute ›biological organism‹ (biologičeskij organism) for ›literary work‹ (literaturmoe proizvedenie), ›natural environment‹ (prirodnuju sredu) for ›social environment‹ (social’noe okruženie), ›genes‹ (geny) for ›devices‹ (priemy), ›evolution of species‹ (ėvoljuciju vidov) for ›literary evolution‹ (literaturnuju ėvoljuciju) (or vice versa), we arrive at two almost interchangeable paradigms of thought on the nature of ›organic‹ phenomena, the character of their formation, and the ways in which they evolve in time«. Gasparov: »Development or Rebuilding«, S. 138. 49 50



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heranzieht: »Ein schwarzes Kaninchen vermischt sich nicht mit einem weißen Kaninchen, so dass ein graues Kaninchen dabei rauskommt, sondern, der Reihe nach, bald ein weißes, bald ein schwarzes«.52 Ebenso verhalte es sich mit Genres, weder könnten beliebig viele Genres entstehen, noch lassen sich alle Genres miteinander kreuzen. Šklovskij argumentiert deutlich gegen die Kreuzung, weil auch er Kreuzung als Vermischung denkt, und plädiert für Konfrontation, für einen Zusammenprall der Elemente, der ihre Herkunft und die Eigenarten ihrer Abstammung sichtbar bleiben lässt. Im Grunde sind der Bachtin-Kreis und Šklovskij in ihrer Skepsis der Kreuzung gegenüber gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man aufgrund der Polemik annehmen könnte. Šklovskij lehnt Kreuzung ab, weil er damit Vermischung verbindet. Auch ein Autor, so heißt es bei Šklovskij, habe keine doppelte Seele (dvojnaja duša), sondern er gehöre »gleichzeitig mehreren literarischen Strömungen an«,53 deren Eigenarten Teil des literarischen Werkes sind. Selbiges gelte auch für Genres: Es gibt keine beliebige Anzahl von literarischen Genres. Ebenso wie die chemischen Elemente nicht jede Verbindung eingehen, sondern nur einfache und teilbare und so wie es keine unterschiedlichen Arten Roggen, sondern nur bekannte Verarbeitungsarten gibt, wobei je nach Behandlung eine bestimmte Sorte Roggen entsteht, und so wie es keine beliebige Menge von Öl gibt, sondern nur eine bestimmte Menge von Öl, so existiert auch eine bestimmte Anzahl an Genres, die mit einer bestimmten Kristallographie des Sujets zusammenhängen.54

Bachtin denkt Hybridisierung im ästhetischen Bereich ebenfalls nicht als Vermischung, sondern dialogisch und konfrontativ. Wie bei Šklovskij die Einzelteile sichtbar bleiben sollen, bleiben auch bei Bachtin die Einzelstimmen hörbar, sie vermischen sich nicht zu einer monologischen Stimme. Beide verfolgen, trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte im Hinblick auf die Hybridisierung, ein ähnliches Anliegen: Sie lehnen eine als Vermischung gedachte Hybridisierung kategorisch ab. Wenige Jahre später übrigens verwendet Šklovskij in einer erzwungenen Selbstkritik, die 1930 unter dem Titel »Denkmal eines wissenschaftlichen Fehlers« (Pamjatnik naučnoj ošibke) in der Literaturnaja gazeta erscheint, Šklovskij: »Gamburgskij ščet«, S. 349: »Черный кролик не смешивается с белым кроликом, не получается кролик серый, а в рядах получается то белый, то черный«. 53 Ebd.: »Я говорю, что у одного писателя не двойная душа, а он одновременно принадлежит к нескольким литературным линиям«. 54 Ebd., S. 349: »Не может быть любого количества литературных жанров. Как химические элементы не соединяются в любых соотношениях, а только в простых и кратных, как не существует, оказывается, любых сортов ржи, а существуют известные формулы ржи, в которых при подставках получается определенный вид, как не существует любого количества нефти, а может быть только определенное количество нефти, – так существует определенное количество жанров, связанных определенной сюжетной кристаллографией«. 52

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genau jenes Vokabular zur Selbstverteidigung, das gegen ihn und die Formalisten zu diesem Zeitpunkt ins Feld geführt wird. Er muss sich rechtfertigen dafür, dass er Literatur naiverweise als Summe von Verfahren betrachtet habe und sehe nun ein, dass sich Einzel-Teile nicht zu Literatur summieren ließen (summirujutsja), sondern nur miteinander in Wechselbeziehung treten können (sotnosjatsja).55 Eine isolierte und isolierende Betrachtung der Literatur sei ein Fehler gewesen. In seinen Memoiren wird er später schreiben: »Ich verfolgte eine völlig falsche Theorie der sich aus sich selbst heraus entwickelnden poetischen Gene«.56 Hybridisierung ist ein Schlüsselwort in der Diskussion um mechanische oder organische Sprachphilosophien und um formalistische oder schöpferische Vererbungslehren. Allerdings wird Hybridität je nach Intention unterschiedlich verwendet. Während sich die Formalisten, namentlich Šklovskij, gegen eine Vermischung unterschiedlicher Reihen (der literarischen und der außerliterarischen), unterschiedlicher Verfahren und Genres aussprechen, weil sie mit Kreuzung Vermischung assoziieren, ohne dabei jedoch einen ›reinen‹ Ursprung proklamieren zu wollen, unterscheidet Bachtin in Wort im Roman eine monologische und eine dialogische Hybridisierung. Nur die dialogische Hybridisierung, die nicht auf Vermischung beruht, lässt er dabei als Modell für eine künstlerische Hybridisierung von Genres und Worten gelten. Zwischen der Hybridskepsis Šklovskijs und der Hybridgewogenheit Bachtins ist der Unterschied also gar nicht so markant – beide richten sich gegen die Vermengung, Vermischung oder Ineinssetzung unterschiedlichen Wortmaterials. Die einen, die Formalisten, reihen die differenten Entitäten auf einer Kette auf, die anderen, Bachtin, untersuchen deren Wechselwirkung. So betrachtet haben Verfremdung und fremdes Wort jeweils etwas damit zu tun, das andere als anderes sichtbar zu machen oder es also solches – selbst in einer hybriden Verbindung – zu belassen. Anders verhält es sich mit Marrs und Stalins linguistischen, aber auch gesellschaftspolitisch deutbaren Thesen, beide streben geradezu eine Hybridisierung von Sprachen an  –  eine Gemeinschaftssprache, die alle Sprachen in sich vereint und die die kommunistische sein wird. Hybridisierung im Sinne von Vermischung ist dabei geradezu die Voraussetzung. In der Mičurinschen Biologie, deren Thesen von Trofim Lysenko in den 30er Jahren stromlinienförmig in den Stalinismus eingepasst werden, wird Hybridisierung ebenfalls positiv gedacht, wie Bachtin greift Mičurin auf Konzepte multidirektionaler, vitalistisch schöpferischer Evolution zurück. Šklovskij: »Pamjatnik«, o. S. Šklovskij: Žili-byli, S.  311: »У меня была неправильная теория саморазвивающихся поэтических ген«.

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In Bezug auf die Hybridrisierung als Kulturtechnik und Prozess gehen beide jedoch jeweils in eine andere Richtung. Während Bachtin der Hybridisierung eine neue Bedeutung verleiht, die in der Postmoderne wieder aufgegriffen wird und dort als Pfropfung lesbar wird, ist es Mičurins Anliegen, Pfropfung immer mehr in Richtung Hybridisierung zu verändern. Erst diese Überlegung schafft die Voraussetzung für die sowjetische Vererbungslehre. Literatur Adams, Marc B.: »Eugenics in Russia 1900−1940«, in: The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil and Russia, hg. v. dems., Oxford 1990, S. 152−216. Babič, V. V.: »Dialog poėtik. Andrej Belyj, Gustav G. Špet i Michail M. Bachtin«, in: Dialog. Karneval. Chronotop, 1 (1998), S. 5−54. Bacherew, A. N.: »Leben und Werk I. W. Mitschurins 1855−1935«, in: V. L. Mičurin. Ausgewählte Schriften, Berlin 1951, S. 27−78. Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a. M. u. a. 1985 [»Problemy tvorčestva Dostoevskogo, Problemy poėtiki Dostoveskogo« (1929, 1963), in: Sobranie sočinenij, 6 (2002), S. 5−300]. Bachtin, Michail: »Das Wort im Roman«, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel  /  Sabine Reese, Frankfurt a. M. 1979 [Bachtin, Michail M.: »Slovo v romane« (1934−35), in: ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, Moskva 1975, S. 72−233]. Belyj, Andrej  /  Ivanov-Razumnik: Perepiska, Sankt-Petersburg 1998. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London u. a. 1993]. Bulgakov, Michail: »Sobač’e serdce«, in: ders.: Bagrovyj ostrov. Rannjaja satiričeskaja proza, Moskva 1990, S. 321−412. Canclini, Néstor García: Hybrid Cultures: Strategies for Entering and Leaving Modernity, Minneapolis 1995. Derrida, Jacques: »Aufpfropfungen, Rückkehr zur überwendlichen Naht« (1972), in: ders.: Dissemination, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995, S. 402−414. Dovženko, Aleksandr: Mičurin, Spielfilm 1948. Gasparov, Boris: »Development or Rebuilding. Views of Academician T. D. Lysenko in the Context of the Late Avant-Garde«, in: Laboratory of Dreams. The Russian Avantgarde and Cultural Experiment, hg. v. John E. Bowlt  /  Olga Matich, Stanford 1996, S.  133−150. (»Razvitie ili restrukturirovanie: Vzgljady akademika T. D. Lysenko v kontekste poszdnego avangarda (konec 1920−1930-e gody)«, in: Logos, 11/12 (1999) Heft 21, S. 21−36.). Humboldt, Wilhelm von: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die Entwickelung des Menschengeschlechts, hg. v. August Friedrich Pott, Berlin 1876. Ivanov, Vjačeslav: Borozdy i meže. Opyty ėstetičeskie i kritičeskie, Moskau 1916. Kanaev, Ivan: »Sovremennyj vitalism«, in: Michail M. Bachtin pod maskoj, hg. I. V. Peškov, Moskva 2000, S. 46−65. Kapchan, Deborah A.  /  Pauline Turner Strong: »Theorizing the Hybrid«, in: The Journal of American Folklore, 11 (1999), S. 239−259. Kucharczyk, Kerstin: »Organisch  –  ›um den beliebten aber vildeutigen ausdruck zu gebrauchen‹. Zur Organismusmetaphorik in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts«, in: Sprachwissenschaft, 23 (1998), S. 85−111. Malikova, Marija: »NĖP kak opyt social’no-biologičeskoj gibridizacii«, in: Otečestvennye zapiski, 28 (2006), S. 175−192. Marr, Nikolaj J.: Po etapam jefetičeskoj teorii. Sbornik statej, Moskva 1926. Medvedev, Pavel N.: »Formalnyj metod v literaturovedenii«, in: Michail M. Bachtin pod maskoj, hg. von I. V. Peškov, Moskva 2000, S. 195−348. Mičurin [Mitschurin], Vladimir L.: Ausgewählte Schriften, Berlin 1951. Mičurin, Vladimir L.: Principy i metody raboty, Moskva u. a. 1939. Nancy, Jean-Luc: »Lob der Vermischung«, in: Lettre international, 5 (1993), S. 4−7.

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Anti-Greffologie. Schneiden und Kleben in der Avantgarde Juliane Vogel

Die Erfindung der Fotomontage gab Anlass zu konkurrierenden Ursprungserzählungen.1 Die Diskussion darüber, wer das Recht für sich beanspruchen dürfe, die erste Klebearbeit aus fotografischem Material angefertigt zu haben, wird über Jahrzehnte hinweg geführt. Die Frage, wann und durch wen die Form gefunden wurde, die eine solche begriffliche Festlegung rechtfertigte, veranlasste die Protagonisten der Schneide‑ und Klebeszene des Dadaismus zu immer wieder neu gewendeten Rückblicken. Unter ihnen war der Dadaist Raoul Hausmann der Produktivste und Ausdauerndste. Um den innovativen Charakter der eigenen Experimente mit dem fotografischen Material herauszustreichen, distanzierte er sich in mehreren Richtigstellungen von seinen Vorgängern. Die eigenen und als bahnbrechend empfundenen Arbeiten sollten von den Klebearbeiten der Kubisten abgegrenzt werden, die nachweislich vor ihm mit Schere und Klebstoff operiert hatten.2 In seiner 1970 verfassten Schrift Am Anfang war Dada rekurrierte er dabei auch auf Metaphern des Pfropfens. Um den Geltungsraum der eigenen Erfindung abzustecken, setzte er seine Montagen von einer landwirtschaftlichen Kultivierungstechnik ab, die fremde Reiser zu Veredelungszwecken in Stämme einfügte. Abgrenzende Bemerkungen zur Aufpfropfung dienten der Profilierung des eigenen Verfahrens, das für sich beanspruchte, anders und radikaler zu kleben als seine Vorläufer in den europäischen Avantgarden: »Wenn die Futuristen und die Kubisten Zeitungsausschnitte, buntes Papier, Gipsabgüsse und Schnurrbärte auf ihren Bildern verwendeten, so waren dies nur ›Greffagen‹ (Aufpfropfungen)«.3 Seiner Ansicht nach waren Aufpfropfungen äußerliche Anwendungen, bloße Ergänzungen oder Applikationen und hoben sich damit deutlich 3 1 2

Vgl. Doherty: »Dada Berlin«, S. 84−113. Vgl. Wolfram: History of Collage. Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 121.

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von den eigenen Assemblagen und Montagen ab, die, wie er betonte, zur Gänze aus Ausschnitten zusammengestellt waren, ohne sich dabei wie das Pfropfreis auf den grundständigen Körper eines Gastgebers zurückzubeziehen. Im Gegensatz zu den kubistischen Arbeiten mobilisierte das dadaistische Klebebild die zentrifugalen Kräfte der vorgefundenen Stoffe und verzichtete auf einen Bildstamm, dem fremde Materialien wie Pfropfreiser eingepflanzt wurden, um sie dort an der Zirkulation belebender und kräftigender Säfte teilhaben zu lassen. Dabei verrät gerade die von Hausmann erzählte Urszene, dass das auf die Desintegration vorgefundener Formen ausgerichtete, dadaistische Verfahren überhaupt erst in unmittelbarer Anschauung einer greffage konzipiert werden konnte, die durch eine einfache und äußerliche Hinzufügung zustande gekommen war. Den Gedanken, Klebebilder aus fotografischen Ausschnitten herzustellen, fasste Hausmann bei der Betrachtung einer in einem bäuerlichen Wohnzimmer vorgefundenen Militärlithographie, der man ein fotografisches Bildfragment in folgender Weise appliziert hatte: Aber bei Gelegenheit eines Ferienaufenthalts an der Ostsee, auf der Insel Usedom, in einem kleinen Fischerdorf, Heidebrink, erfand ich die Fotomontage. Es gab in jedem Haus Gedenkblätter vom Militärdienst der männlichen Mitglieder der Familie, die in der Mitte einer farbigen Lithographie die Kaserne, die Stadt, wo der Dienst stattfand, das Bildnis eines Soldaten  […]  darstellten. Der Kopf des Eigentümers dieses martialischen Bildes war eine Fotografie. Es war ein Blitz: man könnte  –  ich sah es augenblicklich  –  Bilder machen, ganz und gar aus zerschnittenen Fotos zusammengestellt.4

Erst beim Anblick dieser greffage, der man das fotografierte und ausgeschnittene Kopfbild eines männlichen Verwandten implantiert hatte, eröffnete sich die Möglichkeit einer anderen und radikaleren Bildkonzeption. Erst im Blick auf eine Lithografie, die zum Gegenstand einer Aufpfropfung geworden war, konnte ein dynamisches Klebebild konzipiert werden, das gänzlich aus auseinanderstrebenden Ausschnitten zusammengesetzt war und weder Verwurzelungen noch naturwüchsige Beziehungen zuließ. Hausmanns späte Schrift verweist in aller Kürze auf die Unvereinbarkeit dadaistischen Arbeitens mit solchen Kultivierungsformen, die auch dann, wenn sie heterogene Elemente zusammenfügten, ein organisches Weiterdenken der Natur bedeuteten und die natürlichen Prozesse des Wachsens und Zusammenwachsens auch auf ein artifizielles Pflanzengebilde übertrugen.

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Ebd., S. 45. Zu den Gründungsmythen der Fotomontage vgl. grundlegend Doherty: »Dada Berlin«, S.  90ff. Zu weiteren Aspekten der Begriffsbildung vgl. Möbius: Montage und Collage, S. 200. Möbius zeichnet ein differenziertes Bild der Entwicklung der Fotomontage seit 1915: »Die Monteure werden sich nicht mehr als Maler verstehen, die fragmentierten Fotografien in ihre Collage integrieren, sondern als Monteure: als Monteure der Fotografie«. Ebd., S. 206.



Anti-Greffologie

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Abb 1: Militär‑Fotomontage aus: Hanne Bergius: Montage und Metamechanik Dada Berlin. Artistik von Polaritäten, Berlin 2000.

Wie weit der Geltungsradius der späten Pfropfungsmetapher Hausmanns auch reichen mag, sie erweist sich dennoch als geeignet, um das dadaistische Montageverfahren auch historisch gegenüber solchen Kulturtechniken zu verorten, die sich an Metaphern der Naturwüchsigkeit orientierten. Über die sporadischen Grenzsicherungsmaßnahmen Hausmanns hinaus formieren sich Verfahren und Programm der Avantgarde zumindest in der Retrospektive als eine Anti-Greffologie. Die Montage schied sich aber in einem noch viel weitreichenderen Sinn von einer agrikulturellen Praxis, deren Erfolg seit Vergils Georgica den Frieden voraussetzte. Die der »langen Mühe« und der »emsigen Wartung«5 bedürftige Pfropfung bezweckte eine ungestörte Vereinigung von Stamm und Pfropfreis und konnte nur im großzügigen Zeitrahmen eines langjährigen Friedens wie der Pax augusta gelingen. Die Zusammenkünfte des Dada-Materials folgten dem gegenüber einer dezidiert kriegerischen 5



Vergil: Landleben, S. 94f.

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Logik. Sie wurde im Kontext des ersten Weltkriegs entwickelt, sie bezog aus ihm ihre zentrifugale Kraft, und sie trug ihn rückwirkend auch in die bäuerliche Militärgreffage aus dem 19. Jahrhundert hinein. Der Kultivierungssemantik der Pfropfung wurden nun Unterbrechungen, zufällige Kollisionen und mechanische Beschleunigungen entgegengesetzt, dem allmählichen Verwachsen der Pflanzen und Pflanzenteile im augusteischen Obstgarten die Diskontinuität und Plötzlichkeit eines industrialisierten Krieges. Hausmann ließ die Ausschnitte nicht organisch zusammenwachsen, er ließ sie kollidieren und explodieren. Dabei befanden sie sich nicht nur »fort und fort in Bewegung«,6 sie wurden gewaltsam aufeinander zu oder auseinander getrieben und realisierten, indem sie sich einer stabilen Bildkomposition entzogen, das, was Richard Huelsenbeck 1918 in seiner ersten Dada-Rede in Deutschland verkündet hatte: Wir waren gegen die Pazifisten, weil uns der Krieg die Möglichkeit gegeben hatte, überhaupt in unserer ganzen Glorie zu existieren. Wir waren für den Krieg, und noch heute ist Dada für den Krieg. Die Dinge müssen sich stoßen, es geht noch lange nicht grausam genug zu.7

Die auf dieser Linie entwickelte Form der Montage erweist sich entweder dabei als ein »Stoßverfahren«,8 wie es bei Hausmann heißt, oder als ein perpetuierter Unfall,9 sie kann sowohl als ein Zusammenstoß als auch als Explosion10 inszeniert werden, wobei sich weder die organisierte Flucht noch der gewaltsame Zusammenprall mobilisierter Materialien mit der Kultivierungssemantik des Pfropfens vereinbaren lassen. Natürliche Verbindungen und Übergänge werden in der Fotomontage durch deutliche Schnitte, harte Fügungen und monströse Klitterungen ersetzt. Aber auch noch aus einem anderen Grund scheint sich eine Merkmalsübertragung zwischen Montage und greffage zu verbieten. Der Zweck des Pfropfens war die Veredelung eines »Wildlings« durch das Reis einer fruchtbaren oder schönen Pflanze bzw. die »neue Schöpfung« eines künstlich gesteigerten Organismus. Die Montage wurde demgegenüber programmatisch auf dem Müll oder aus den Hinterlassenschaften der Zeitungsgesellschaft generiert. Dabei hielt sie die wenig organisierte Form des Haufens  –  des Müll‑ und Abfallhaufens  –  auch dann gegenwärtig, wenn sie die versammelten Abfälle auseinandertrieb. Indem die Montage mit entwerteten Dokumenten und vorzugsweise mit Altpapier arbeitete Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 86. Huelsenbeck: »Erste Dadarede in Deutschland«, S. 17. Vgl. auch Doherty: »Dada Berlin«, S. 87. 8 Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 105. 9 Vgl. Mülder-Bach: »Poetik des Unfalls«, S. 193−221. 10 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 232f. 6 7





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und ihr Material nur im Zustand des Abgegriffenseins heranzog, positionierte sie sich in aller Deutlichkeit gegen ein Ethos der Züchtung, das eine genetische Verbesserung des Pflanzenmaterials bezweckte.11 Abgesehen davon, dass es keinen Stamm mehr gab, der hätte veredelt werden können, waren Ausschnitt und Bruchstück weggeworfene Stücke und Abfall, die für den Einwuchs ungeeignet und von vornherein »mit dem Stempel der Ausschussware« (Herzmanovsky-Orlando) versehen waren. Die antigreffologische Position der Avantgarde lässt sich aber nicht nur an ihrer Skepsis gegenüber organologischen Produktionsmetaphern ablesen. An einem entscheidenden Punkt ihrer Materialrecherche und Materialbearbeitung setzten sich die Dadaisten kritisch auch mit einer Pfropfung auseinander, die in den Medienplantagen der Moderne zu einem bedeutenden Faktor geworden war. Bevorzugter Gegenstand ihrer Bearbeitung war das Zeitungsinserat. So ist es kein Zufall, dass die Annonce, die durch die Zeitung akquiriert und dem Zeitungstext hinzugefügt wurde, ihren Namen aus dem lateinischen Wort für das Pfropfen hat: inserere.12 Der Wunsch zu inserieren ist zumindest dem Wort nach ein Pfropfungswunsch – der Wunsch, in den Zeitungsorganismus einzudringen und diesem die eigenen Interessen zu inokulieren. Zumindest lässt sich nachweisen, dass im medienkritischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts über das Inserat organologische Zeugungs‑ und Invasionsmetaphern florieren und so die Zeitung als Schauplatz fragwürdiger Kopulations-, Kreuzungs‑ und Kolonisierungsvorgänge ausweisen. Dabei bot das Zeitungsinserat Gelegenheit für eine kritische Auseinandersetzung mit der Pfropfung. So konnte sie als Beispiel einer Kultivierung gelten, die sich unter dem Einfluss kapitalistischer Erwerbsinteressen in ihr Gegenteil verkehrt hatte. Die Dadaisten wie auch andere Medienkritiker nahmen in ihren Arbeiten darauf Bezug, dass das Pfropfreis des Inserats an einer sichtbaren Stelle des öffentlichen Lebens nicht als Veredlungsfaktor, sondern als Schädling und Eindringling wahrgenommen wurde, der sei11 12

Vgl. Wirth: Prolegomena zu einer Greffologie. Im Lateinischen gibt es zwei Verben, deren Präsensform aus dem Infinitiv ›inserere‹ gebildet wird, jedoch unterschiedliche Perfektstammformen aufweisen und im Deutschen einmal mit »einfügen, hineinstecken!« und zum anderen mit »einpflanzen, einpfropfen« übersetzt werden. Grundsätzlich ist das Wort ›Inserat‹ auf beide Verwendungen von ›serere‹ zurückzuführen. Eindeutig kann man das auch nicht sagen, schließlich gibt es bei keinem der beiden eine Stammform, die ›inseratus‹ hieße (zumindest nicht im klassischen Latein). Bei Verben, die exakt den gleichen Präsensstamm haben (so wie bei ›inserere‹ I und II) kann man davon ausgehen, dass die Unterscheidung in den Perfektstammformen sich erst später entwickelt hat. Ursprünglich wurden diese gleich verwendet und erst später unterschieden. Die erste Verwendung war aber vermutlich tatsächlich die von ›inserere, insevi, insitus – einsäen‹ – man sagt, Verben in unregelmäßiger Flexion seien immer älter. Vgl. Art. »insere«, in: Der kleine Stowasser, S. 238.

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nen Gastgeber zugleich finanziell kräftigte und korrumpierte. Das Inserat diente einerseits der Zufuhr ökonomischer Energien und unterlief mehr oder weniger offensichtlich die Unabhängigkeit des redaktionellen Teils zugunsten des Inserenten. Kraus blieb im Bild, als er von der »Corruption« sprach, die mit der Annonce »in den Zeitungsorganismus eindrang«.13 Aber auch andere Kritiker bemerkten, dass die Hausherrenrolle vom Gastgeber an das Inserat übergegangen war, das nun dem geschwächten Gastgeber seine Regeln vorschrieb und »zu Gefälligkeiten verpflichtete«, und gaben ihrer Beunruhigung über die »unnatürliche Verbindung« von Redaktion und Kapital im semantischen Feld der ungesunden Kreuzungen Ausdruck. Die Zeugungen dieser Ehe, – in diesem Zusammenhang ist von »ehelichen Verbindungen« und »gefährlichen Umarmungen«14 die Rede – führen somit nicht zur Veredelung, sondern zur Kontamination. Eine saubere Trennung von redaktionellen Interessen und Inserateninteressen war fortan nicht mehr möglich, und der Prozess der organischen Vereinigung, den Vergil in der Georgica mit dem Neologismus »inolescere«15 bezeichnet und begrüßt hatte, wurde nun als eine Verklebung wahrgenommen. Diese gaben den Anlass dafür, die moralische Verfassung einer Kultur an den Pranger zu stellen, in der Inserate und Zeitungsartikel weder greffologisch noch ökonomisch voneinander geschieden werden konnten. Karl Kraus verspottete die Zeitungsleser, die Inserate »bloß im Inseratenteil«16 vermuteten und dabei die Tatsache übersahen, dass diese längst den redaktionellen Teil unterwandert hatten. So liegt es auf der antigreffologischen Linie Dadas, diese korrupten Verbindungen zu unterbrechen und die kapitalistischen wie auch die bourgeoisen Ideologien von Wachstum und Vermehrung zu beenden. Im Zerschneiden von Zeitungs‑ und Illustriertenmaterial wurden die scheinbar naturwüchsigen Verbindungen getrennt und eine zur zweiten Natur gewordene Umgebung zerstört. Dabei erfuhren gerade auch die Inserate eine Bearbeitung durch die dadaistische Schere. Der Dichter Hans Arp schreibt in der Einleitung in seine Textsammlung Weltwunder: »Wörter, Schlagworte, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte«.17 Wiederum in der Rückschau positionierte er ein Verfahren, das sein aus den Inseraten gewonnenes Material neu und widersetzlich anordnete und die Lücken Die Fackel (15.8.1899), S. 22. Swierczewski: Wider Schmutz und Schwindel im Inseratenwesen, S. 5ff. 15 Vgl. außerdem den Kommentar in: Vergil: Georgica. Ich danke Wendelin Schmidt-Dengler für seine Hinweise. Zur Weiterentwicklung der poetologischen Metapher des Pfropfens und ihre Berufung auf Vergil vgl. Schmidt-Dengler: Laboraverimus. 16 Die Fackel (20.10.1899), S. 32. 17 Arp: Gesammelte Gedichte, S. 46. 13 14



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zwischen den Ausschnitten offenlegte. Für Hans Arp wurde die Zeitung zum »Ausschneidebogen«, der zerteilt und wieder schlecht zusammengefügt wurde: »Ich sitze hilflos vor vielen vielen schlecht zusammengefügten teilen eines ausschneidebogens  –  die bruchstellen sind erschreckend«.18 Aber auch Tristans Tzaras gleichzeitiger Appell »Nehmt Scheren«19 und sein in Verse gefasster Ausruf, einen Zeitungsartikel zu zerschneiden und die Schnipsel in einer Tüte durcheinander zu schütteln, wählte gleichfalls die Presse zum Gegenstand der Zerstückelung. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die Zeitung einer solchen Behandlung seit ihren Anfängen entgegengekommen war. Die polemische Haltung gegenüber der pervertierten Pfropfung und die Ansicht, dass die Annonce die Zeitung geschädigt habe, darf an keiner Stelle darüber hinwegtäuschen, dass diese niemals die organische Einheit besessen hatte, die in der Metapher des Inserats und in der Metapher des Zeitungsorganismus unterstellt wurde. Einem verlagerten Gesichtspunkt stellten sich gerade auch die Zeitungsartikel selbst als Einfügungen in ein Ganzes dar, das es noch nie gegeben hatte. Wie Anke te Heesen in ihren Studien zum Zeitungsausschnitt gezeigt hat, provozierte das Layout der Zeitungsseite von Anfang an eine sprunghafte, oder wie schon Lichtenberg geschrieben hatte, Crisscrosslektüre, die dem mixtum compositum des journalistischen Textcorpus zu entsprechen suchte und von daher keine organologischen Metaphorisierungen rechtfertigte.20 Nicht nur die Insertionen des Annoncenwesens, sondern auch die unzureichende Kohärenz der Zeitungsseite selbst bildete den Ausgangspunkt für ein assemblierendes Spiel mit Zeitungsausschnitten, die der Seite inseriert und wieder entnommen werden konnten. Zeitungsartikel waren schon ihren primären Anordnungen nach als transportable Dokumente ohne Wurzeln zu betrachten, die an eine nährende organische Dichte nicht mehr anschließbar waren und als privilegierte Wegwerfobjekte der Moderne keine Zucht begründen konnten. Ihre Mobilität wurde daher in den dynamischen Anordnungen der dadaistischen Klebebilder nicht verursacht, sondern nur offengelegt. Diese zogen nur die Konsequenzen daraus, dass die Druckerzeugnisse der Presse nicht in organologischen Begriffen beschrieben werden konnte. Vor diesem Hintergrund aber stellt sich vor allem die Frage nach dem Verfahren, das der Mobilität der Ausschnitte gerecht wurde und andererseits eine Sichtbarkeit gewährleistete, die nur im Stillstand gegeben war. Es musste die Aufgabe erfüllen, die Bewegung der Ausschnitte in einem Ebd., S. 48. Tzara: »Um ein dadaistisches Gedicht zu machen«. 20 Vgl. te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, S. 57−59. 18 19

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signifikanten Moment ihrer Flucht anzuhalten. Ihre Zusammenfügung war somit immer auf die Fuge zurückzubeziehen, die sie als Flüchtende durchliefen. Bewegung, Wirbel, Explosion, Zusammenstoß auf der einen Seite war mit einem Fixierungsgebot auf der anderen Seite zu vermitteln. Folgerichtig handelte es sich bei der Montage nicht so sehr um ein einziges Verfahren, sondern um eine Operationskette, die einen Vorgang der Trennung und einen der Verknüpfung zusammenschloss.21 Der Paarungstopos von Schere und Klebstoff, der im Kontext dadaistischer Klebearbeit immer wieder auftaucht, weist klar darauf hin, dass stets beide beteiligt waren, wenn das Material auf der Fläche angeordnet und seine Fliehkräfte gebunden werden sollten. Beide wirkten zusammen, wenn es darum ging, den Stillstand in der Bewegung und die Bewegung im Stillstand auf ein und derselben Fläche sichtbar zu machen. Die Konstatierung dieser Tateinheit von Schneiden und Kleben mag zunächst als eine Banalität erscheinen. Sie wirft aber nichtsdestoweniger die Frage nach der Priorität der bei der Herstellung des Klebebildes beteiligten Verfahren auf. Hier lässt sich zeigen, dass die Zerstörungsarbeit Dadas vor allem auf neue Zusammenfügungen hinauslief. Die zertrennende Arbeit der Schere, die die falschen Kontinuen zerschneiden sollte, wurde zugunsten des Klebstoffs in den Hintergrund gedrängt, die Unterbrechung zugunsten einer neuen Bindung beiseite gestellt. Dabei verdeutlichte schon der Begriff des Klebebildes die Rangordnung der an seinem Zustandekommen beteiligten Tätigkeiten. Der Schnitt wurde in der Regel gegenüber einer neuen Verbindung ausgeblendet und wie im Film zeigte sich auch an Bildern und Texten, dass die deutsche Avantgarde, wie Eisenstein einmal feststellte,22 die Schere vergaß, wenn sie montierte. In seinem ersten dadaistischen Manifest von 1918 benannte Hugo Ball die wichtigen Elemente der Verfahrenskette, wenn er schrieb: »Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bisschen unterbrochen wird«.23 Eine solche Haltung privilegierte das Kleben klar gegenüber dem Schneiden. Indem dieses alte Verbindungen zertrennte, bereitete und begründete es neue Verbindungen. Dieser Eindruck wird außerdem durch die Erinnerungen Hannah Höchs bestätigt, die die Anfänge der dadaistischen Arbeit mit dem scherenvergessenen Satz kommentierte: »Es wurde also wie wild geklebt«.24 Darüber hinaus kann die heraldische Bedeutung des Klebstoffs für die dadaistische Arbeit auch daran festgemacht werden, dass sich sogar Raoul Hausmann, der in seinen programmatischen Texten eine »Fort‑ und Fortbewegung« des Materials 23 24 21 22

Vgl. Didi-Hubermann: Ähnlichkeit und Berührung, S. 152. Eisenstein: »Béla vergisst die Schere«. Ball: »Dadaistisches Manifest (1916)«. Höch: »Karoline Hille«, S. 99.



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propagiert hatte, einen Künstlernamen zulegte, der ihn zum Werbeträger eines bekannten Klebstoffs machte: Noch ein Detail: während man in Frankreich diese Werke Collagen nannte, nannten wir sie in Berlin Klebebilder, und ich nahm neben meinen zahlreichen Pseudonymen und DaDa-Titeln (wie Dadasoph) auch den Beinamen Algernon Syndetikon an; Syndetikon war die Fabrikmarke des Klebstoffs, dessen ich mich bediente.25

Ein Name, der ihn auch als Scherenträger oder als lebende Reklame für eine der neuen Nirostascheren ausgewiesen hätte, fehlte in dieser Titelliste. Der Künstler stellte sich klar auf die Seite der Bindemittel und nicht der Trennungsmittel, er fand sein Attribut unter den Klebstoffen und betonte dabei die Nähe dadaistischer Selbstinszenierungen zu jenem Werbungs‑ und Inseratenwesen, das sie gleichzeitig bekämpften. Über die Assoziation des Klebstoffs Syndetikon mit dem Namen Algernon kann allerdings nur spekuliert werden. Er könnte als eine ironische Reverenz an Oscar Wilde gelesen werden, der in seinem Stück Bunbury or The Importance of Being Earnest einen prototypischen Dandy mit Namen Algernon auftreten ließ. Eine andere und verwandte Erklärung könnte aber auch in der Namensbedeutung liegen. ›Algernon‹ bedeutet Schnurrbartträger, und da der modebewusste Hausmann keinen Schnurbart trug, würde der Doppelnamen auf einen beliebten Klebevorgang der Avantgarden anspielen, in dem diese mit den Hinterlassenschaften des 19. Jahrhunderts spielten: Denn wie Hausmann selbst geschrieben hatte,26 waren Schnurrbärte bevorzugte Objekte kubistischer, futuristischer und, man könnte hinzufügen, surrealistischer Collagen oder greffagen. Sie waren nicht mehr auf Oberlippen gewachsen, sondern als lächerliche Embleme gestürzter Vaterfiguren zum ödipalen Spielmaterial imaginärer und realer Klebeexperimente geworden. In diesem Fall hätte sich Hausmann mit seinem Doppelnamen als Friseurkopf inszeniert, der als bevorzugter Gegenstand experimenteller Applikationen im Kontext der zeitgenössischen Kunst Furore machte. Anhand der von Syndetikon gestarteten zeitgenössischen Werbekampagne kann aber außerdem gezeigt werden, wie und unter welchen Voraussetzungen der Klebstoff bewegliche Dinge zum Stillstand brachte und welche Konnotationen er eröffnete, sobald er auf den Markt gekommen war. Die von Friedrich Kleukens gestaltete und äußerst erfolgreiche Reklameserie für die Firma Syndetikon aus den 20er Jahren lässt Rückschlüsse 25 26

Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 45. Ebd., S. 121: »Wenn die Futuristen und die Kubisten Zeitungsausschnitte, buntes Papier, Gipsabgüsse und Schnurrbärte auf ihren Bildern verwendeten, so waren dies nur ›Greffagen‹ (Aufpfropfungen)«.

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auf eine moderne Poetik des Klebens zu, die Assoziationen zum Pfropfen nicht gestattet.27 Klebstoff diente demnach nicht dazu, ein zerbrochenes Zusammengehöriges zusammenzufügen oder die erwünschte Vereinigung zweier heterogener Gewebe in Analogie zu organischen Einwachsung herbeizuführen. Eine hinter dem Klebevorgang wirksame und fügende Autorität kann in Kleukens Kampagne nicht ausgemacht werden. Syndetikon wurde als ein Klebestoff beworben, der zufällig vorübergehende Dinge festhielt. In Kleuckens Darstellung wurde er zur Falle, in die flanierende Tiere – Frösche, Mäuse, Elefanten und Katzen – ahnungslos hineintappten. (Abb. 2)

Abb 2: Syndetikon.

Unter der Überschrift Otto Rings Syndetikon leimt / klebt / kittet alles wurden exotische und heimische Tiere »auf den Leim geführt«. Flagrante und flüchtige Bewegungen fixierte Syndetikon so effizient, dass den Gefangenen keine Fluchtmöglichkeit mehr gegeben war. Syndetikon wartete, bis sich einer oder mehrere der tierischen Flaneure verfingen und veranschaulichte die Qualität des Klebstoffs an ihren vergeblichen Fluchtbewegungen. Klar signalisierte Kleukens Werbeserie, dass es nicht mehr darum ging, bestimmte Objekte an bestimmter oder rechter Stelle durch Klebstoff zu befestigen. Syndetikon meinte niemanden Bestimmten oder Vgl. Kleukens: Ausstellung Mathildenhöhe.

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nichts Bestimmtes. Er stellte vielmehr eine gleichgültige klebrige Unterlage zur Verfügung, auf der schnelle und bewegliche Objekte unversehens in Haft gerieten. Auf diese Weise lieferte es eine Art materialisierter Syntax für zufällige Objekt‑ oder Ausschnittskonstellationen, die es ermöglichte, auch die Papierobjekte der Moderne, wie Anke te Heesen sie genannt hat, in »strategischer Beliebigkeit«28 anzuordnen. Die Bilder Kleukens bewarben einen Klebstoff, der, auch wenn er das Wort ›leimen‹ in seinem Slogan mitführte, ein frisches und witziges Kleben verhieß. Dennoch handelte es sich um ein Produkt, das alter Leim in neuen Tuben war – ein Fischleim, der nach wie vor aus organischen Stoffen hergestellt und nach wie vor in alten Leimfabriken hergestellt wurde.29 Auch wenn sich die Werbekampagne erfolgreich in einer modernen Produktwelt positionierte, so wurden dennoch die alten Herstellungsverfahren beibehalten und alte Assoziationsketten wieder aufgenommen. Die Geltungsmacht des alten Klebemittels behauptete sich auch gegenüber der Schere und steigerte sich in dem Maße, in dem sich die Hoffnungen zerschlugen, dass mit der Weimarer Republik ein Schnitt gesetzt und ein politischer Anfang gelungen war.30 Der Leim wurde zur Metapher einer Paralyse, die sich aus dem Zusammenspiel der Beharrungskräfte des wilhelminischen Obrigkeitsstaates und der Ermächtigungsdrohung des aufkommenden Nationalsozialismus ergab. Sie unterstellte, dass eine konstituierende Unterbrechung, kraft derer eine neue politische und gesellschaftliche Struktur hätte begründet werden können, in Deutschland ausgeblieben war.31 In der allegorischen Ungestalt des Leims veranschaulichte sie die Gegenkräfte demokratischer Erneuerung, die das Leben in ihren Wirkungskreis und alle Bewegung in den Sog einer unentrinnbaren Viszeralität hineinzogen.32 In seinen 1955 erschienenen Erinnerungen Ein kleines Ja und ein großes Nein zumindest charakterisierte George Grosz die kulturelle Mentalität der 20er Jahre mit Hilfe einer totalisierenden Leimmetapher. Seiner Diagnose nach erlag die Republik dem Einfluss und Überfluss derselben süßen und klebrigen Stoffe, deren paralytischen Kräfte schon seine wilhelminische Kindheit bestimmt hatten. Aus dem Rückblick entwarf er das Soziogramm Te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, S. 179. Vgl. www.retro-bibliothek.de. Syndetikon ist der Markenname eines durch Otto Ring & Co. seit 1880 hergestellten dickflüssigen Klebstoffs auf Fischleim-Basis. Erst 1932 wird Klebstoff aus Kunstharz hergestellt. 30 Vgl. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 133. 31 Vgl. Koschorke: »Institutionentheorie«. 32 In ihrer umfassenden Darstellung historischer Schneide‑ und Klebetechniken in der europäischen Gelehrtenkultur erwähnt Anke te Heesen allerdings auch den wasserlöslichen Leim, der es ermöglichte, auch fixiertes Papier wieder zu lösen. Vgl. te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, S. 29ff. 28 29

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einer Gesellschaft, die ihren Nachkommen verschwenderischen Leimkonsum empfahl und die Vertrautheit mit dem aus Tierleichen gewonnenen Klebstoff Collagen zum leitenden Gesichtspunkt ihrer Pädagogik machte: »Keinen Leim sparen – keinen Leim sparen, Junge«33 lautete die ihm auf den Lebensweg mitgegebene Devise, die ihre Gültigkeit auch über das Datum 1918 hinaus bewahrte. Aus der Perspektive der Autobiografie signalisierte die Übermacht des Leims, dass das revolutionäre Trennungsszenarium von 1918 gescheitert war. Der »süße klebrige« oder »dicke gelbe«34 Saft seiner Kindheit breitete sich, seiner Darstellung zufolge, auch in Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik aus. Dabei wirkte das Bindemittel des Leims genauso bewegungshemmend wie Kleukens Syndetikon: »Es fühlt sich glitschig an unter den Füßen. Man rutscht ein bisschen. Ist es Leim? Vielleicht eine Leimfabrik und deren Abwässer. Es klebt ja sogar, man bekommt kaum die Füße hoch. […] Ich muß mich ja anstrengen, richtig mit Kraft ziehen«.35 Die Vergeblichkeit der Schere und ihres Schnitts war damit noch einmal von anderer Seite bestätigt. Nach Grosz waren die Deutschen in der Gewalt einer Substanz, die Einschnitte und die Organisation von Unterschieden nicht zuließ. Das Übermaß des Leims deutete auf einen Zustand der semiotischen Desorganisation und der Vermischung, dessen Gewaltpotential in Grosz’ Autobiografie erkannt und entfaltet wird. Die hier aufgerufenen Leimbilder visualisieren die Gefahren einer Ungeschiedenheit und eines Distanzverlustes,36 die bereits von den Zeitgenossen in Bilder des Ekels gefasst wurden. Nicht zufällig wird das Klebrige zum Teilgegenstand der 1929 von Aurel Koulnai verfassten Phänomenologie des Ekels, die sich mit Zuständen des »Klebrigen, Halbflüssigen, gleichsam zudringlich Anhaftenden« auseinandersetzte. Seine Studie Ekel. Hochmut. Haß erkennt im Klebrigen einen zentralen »Ekeltyp«, der sich durch »Distanzverneinung« auszeichnet und dabei Trennungs-, Begrenzungs‑ und Differenzierungsversuche hintertreibt.37 Aurel Koulnais Untersuchungsgegenstände korrelieren mit der diagnostischen Leimmetapher George Grosz’ und reflektieren wie diese die Aporien eines politischen Systems, das weder in der Lage war, 35 36

Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein, S. 48. Ebd., S. 76. Ebd., S. 213. Wie sehr die Mentalitäten der Zwischenkriegszeit durch die Angst vor Desorganisation und Distanzverlust geprägt waren, zeigt Helmut Lethen in seiner Studie Die Verhaltenslehre der Kälte. 37 Koulnai: Ekel. Hochmut. Haß, S. 31ff: »Der eben angedeutete Ekeltyp des Klebens, Anhaftens ›am unrechten Orte‹ usw. tritt auch allgemein, in weniger materiebehafteter Weise, in Erscheinung. Schon früher wurde bemerkt, dass an sich, rein intentional genommen, alles Ekelhafte irgendwie dem Subjekt ›anklebt‹, es mit seiner Nähe, seinem Dunstkreis umfängt«. 33 34



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die Vergangenheit von der Gegenwart noch die Lebenden von den Toten zu trennen.38 Wie sehr hier Kontinuitäten fortgeschrieben wurden und dass der Leim seine Klebekraft auch darin bewährte, dass er alle Neuanfänge destruierte, lässt sich im abschließenden Hinweis auf einen Text bestätigen, der bereits 1913 die allegorische Potential des Klebstoffs genutzt hatte. George Grosz in seiner Autobiografie und Aurel Kolnai in seiner Phänomenologie können ihre Beobachtungen auf einen Text stützen, den Robert Musils zunächst unter dem Titel Ein römischer Sommer veröffentlicht hatte.39 Dieser Text, der 1936 die Sammlung »Nachlaß zu Lebzeiten« und diesmal unter dem Titel »Das Fliegenpapier« eröffnen sollte, hatte schon 1913 und in Hinblick auf den kommenden Krieg die tödlichen Wirkungen beschrieben, die den Lebendigen von einem über die gesamte Lebenswelt ausgebreiteten Leimbelag drohte. Schon diese frühe Studie entfaltet das Szenarium einer alles erfassenden Viszeralität, in dem alle Versuche, Verbindungen zu unterbrechen, Bewegung freizusetzen und Unterscheidungen einzuführen, scheitern mussten. Bezeichnenderweise nimmt Musils Fliegenpapier die Grundidee von Kleuckens Werbeserie vorweg. Denn bereits dieses funktioniert als ein sogenanntes Tanglefoot, das ihm den Namen gibt, und schon hier werden ahnungslose Tiere auf einer mit Klebstoff bestrichenen Fläche festgehalten: Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederlässt – nicht besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon viele andere da sind, klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. Eine ganz leise befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich ein grauenhaft Menschliches hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit immer deutlicher werdenden Fingern festhält.40

Literatur Adorno, Theodor W.: »Ästhetische Theorie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 232−233. Arp, Hans: Gesammelte Gedichte. Gedichte 1903−1939, Zürich 1963. Ball, Hugo: »Dadaistisches Manifest (1916)«, in: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Hans Burkard Schlichting, Frankfurt a. M. 1984, S. 39−41. Der kleine Stowasser. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch, hg v. Josef M. Stowasser  /  Michael Petschenig  /  Franz Skutsch, München 1979, S. 238.

Vgl. Lethen: Verhaltenslehre der Kälte. Vgl. Honold: »Auf dem Fliegenpapier«. 40 Musil: »Nachlaß zu Lebzeiten«, S. 476. 38 39

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Stimmen  /  Gemurmel: Aufpfropfungen, Exzitationen, Szenen in Marthalers Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! Bettine Menke Gibt es Aufpfropfungen der Stimme(n)? Wenn dies die Frage ist, der ich im Rahmen der Themenstellung des vorliegenden Bandes nachzugehen habe, dann scheint mir – so schriftlich die Metaphorik von greffe, greffier auch wäre1 – darauf als Antwort nur möglich: ja, gewiss. Oder genauer und weiter reichend: nur solche Stimmen ›gibt‹ es. Es gibt keine Rede, die nicht sich aufgepfropft hätte, die nicht als zitierende erst vorkommt. Und eine Stimme mit Gesicht gibt es nur als die nachträgliche Figuration der zitierenden Rede, die durch eine fingierte persona spricht. Das setzt eine Auffassung von der Stimme voraus, die diese nicht als unmittelbare Verlautung des naturalen Körpers unterstellt,2 sondern durchs Konzept der Stimme den Körper jeweils modelliert oder figuriert weiß: als »geeinter Körper« oder aber das, was ihn »zu zertrennen, aufzulösen« drohe.3 – Man könnte versucht sein, eine Ana­lo­gie zwischen der Stimme als mer­k­würdige ›Mi­schung‹ von Natur und Kultur und der Pfropfung anzunehmen. Allerdings ist eine Pfropfung nicht beider Vermischung, sondern hat eine jeweils verschie

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»Écrire veut dire greffer. C’est le même mot«. Derrida: »La dissémination« (Kap. 10: »Les greffes, retour au surjet«, S. 431−435), S. 431; vgl. Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 339. Das tut gerade auch Roland Barthes nicht, auf dessen Rauheit der Stimme (Barthes: Was singt mir) sich solche unmittelbaren Anbindungen an den Körper mitunter beziehen (so etwa Krämer: »Die negative Semiologie der Stimme«, S.  78). Die Stimme wurde  –  im romantischen Gesang, so Barthes  –  konzipiert als die Verlaut­ba­rung eines Eigenen, das als ein Innerliches, im Innern Eingeschlossenes zu denken war. Es ist das Phantasma der Stimme, dass sie »als absolut reine Selbst-Affektion in einer Nähe zu sich selbst erlebt [werde], die nichts anderes ist als die absolute Reduktion des Raums selbst«. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 136. Romantischer Gesang ist, so Barthes: »phantasmatisch meinen geeinten Körper genießen«, er habe »seinen Ursprung in einem begrenzten, zusammengefaßten, zentrierten, intimen, familiären Ort, der der Körper des Sängers – und somit des Hörers – ist«. Zugleich setzt er dieser »reinen Stimme der Seele« die »schwarze[] Stimme« entgegen: »Stimme des Bösen oder des Todes, […] eine Stimme ohne Ort, eine Stimme ohne Ursprung«, »was in mir widerhallt, mir Angst macht, oder mein Begehren erweckt« für »etwas, das den Körper zu teilen, zu zertrennen, aufzulösen, zu zerstückeln droht«. Barthes: Was singt mir, S. 10−12.

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dene ge­re­gelte Bezogenheit von Kultur und Natur zu bewerk­stel­ligen: Kultur pfropft sich auf Natur, veredelt diese oder auferlegt sich dieser von außen. Anders als biologische oder garten­technische Erläuterungen der Pfropfung es gerne hätten, gilt aber für die zitationelle Pfropfung, greffe citationelle, dass das aus dem Kon­text Herausgetrennte, Übertragene, Versetzte im neuen Kontext keineswegs mit sich identisch geblieben ist, dass es vielmehr in eine Sinn und Funktion hervorbringende Inter­ak­tion mit dem neuen Kontext tritt und einen solchen erzeugt, ohne dass diese Produktivität kontrollierbar und der Kontext beschränkbar wären.4 »An der Rückwand« des Bühneraums für Murx den Europäer »hängt eine Uhr, deren Zeiger stehen geblieben sind, und daneben der Spruch: damit die Zeit nicht stehenbleibt«. Dieses »Bild […], das im Nachhinein wie eine seismographische Zustandsbeschreibung von Ost-Berlin wirkte« (so B. Masuch im Gespräch mit der Büh­nen­bilderin Viebrock), ist Ergebnis von vielfachen nicht hierarchisierbaren zitationellen Pfropfungen, wie A. Vie­brock erläutert: Die Uhr und der Spruch daneben stammen vom Flughafen Tempelhof […]. Natürlich spielt schon der Titel Murx den Europäer [eine Zitation von Paul Scheerbarts »In­dianerlied« unter Nicht-Ein­haltung des originalen Zeilenbruchs]5 – auf Marx an […]. Später hat man mir dann gesagt, daß der Raum wie Mi­tropa aussieht, aber ich hatte bis dahin noch nie eine gesehen. Letztlich ist der Raum zu Murx, die Öfen und die Täfelung und die Tische aus Elementen der Volksbühne entstanden. […] Der Spruch ist eigentlich eine Werbung für einen PharmazieKonzern. Das Bild der Uhr und daneben: ›damit die Zeit nicht ste­hen­bleibt‹ ist mir als Gedankenbild im Gedächtnis geblieben. Sicherlich auch, weil diese Uhr am Flughafen ste­hen geblieben war. Dass man eine Uhr hat, damit die Zeit nicht stehenbleibt, ist ein schönes ab­surdes Bild. Im Nachhinein haben viele den Widerspruch zwischen der Hoffnung, die in dem Satz zum Ausdruck kommt und der Uhr, die stehengeblieben ist, als Sinnbild für die DDR empfunden.6

Um die Zitation der Pfropfung als zitationelle, im Sinne einer Versetzung und Enteignung, d. i. mit Derridas Paläonym7 der Pfropfung der Pfropfung, 4



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So Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 335f., S. 339, S. 341−347. Was zitierend »aus der Verkettung, in der es gegeben oder eingefaßt ist«, herausgelöst wird, verliert dabei – als »wesentlich Iterierbares«  –  keineswegs »alle Mög­lich­keiten des Funktionierens«. »Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ket­ten einschreibt oder ihnen aufpfropft. Kein Kontext kann es einschließen«. Ebd., S. 335. Scheerbart: »Indianerlied / Murx den Europäer! / Murx ihn! / Murx ihn! Murx ihn! / Murx ihn ab!«, S. 19. Gespräch zwischen der Bühnenbildnerin Anna Viebrock und Bettina Masuch: »Damit die Zeit nicht stehenbleibt«, [ohne Seitenzahlen]. Als Paläonym oder (verschiebend, entstellend beibehaltener) ›alter Name‹ ist die Aufpfropfung Derridas nicht die »Metapher für das Zitieren« (vgl. aber Wirth: »Aufpfropfung als Figur des Wissens«, S. 114). Über den strukturellen Zusammenhang von Paläonymie und Pfropfung vgl. u. a. Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 350f.



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wird es im Folgenden gehen. Ent­schei­dend ist »die Kraft des Bruchs«, die die Zitation ermöglicht und die diese ihrerseits manifestiert.8 Die Stimme, die (als solche), Aufpfropfung ist, ist eine Me­ta-Realisierung dieser Nicht-Beschränkbarkeit des jeweiligen Kontextes, hier: der Schriftlichkeit von greffe. Die Phänomene, auf die ich mich für die Aufpfropfungen der Stimmen, der Stimme als Auf­pfropfung beziehen werde, sind keine solchen; sie gehören theatralen Szenen an, und zwar Chri­stoph Marthalers Inszenierung Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (Ein patriotischer Abend) an der Volks­bühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin aus der Spielzeit 1992/93. In­so ­ fern habe ich – scheint’s – schon vorausgesetzt, wovon ich sprechen möchte, indem ich mit den je schon zitieren­den Stimmen auf der Bühne argumentiere. Aber gerade darauf kommt es an; diese Zirkularität ist nicht hintergehbar. So stellt das Parasitäre der Wiederholung, insbesondere der ›unernsten‹ auf der Bühne, entgegen Austins aus­schlie­ßender Kennzeichnung als »a performative utterance will, for example, be in a peculiar way hollow or void if said by an actor on the stage«,9 den Wiederholungs‑ und szenischen Charakter aller performatives vor. Es handelt sich nicht um eine äußerliche (an einem Eigentlichen) parasitierende Hinzufügung, sondern die Möglichkeit dieses ›Befalls‹ (Austin spricht von ill) gehört den performatives als Incitationen selbst mit der »wesentlichen Iterierbarkeit« sprach­licher Syntagmen innen an, so Derrida im Anschluss an Austin.10 Derrida spricht von Pfropfung – greffe, ein Paläonym, als Teil

Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 335f., S. 339. »[As] utterances our performatives are also heir to certain other kinds of ill which infect all utterances«. – »[This kinds of ill] we are […] at present excluding«: »a performative utterance will, for example, be in a peculiar way hollow or void if said by an actor on the stage, or if introduced in a poem, or spoken in soliloqui. This applies in a similar manner to any and every utterance  –  a sea-change in special circumstances. Language in such circumstances is in special ways  –  intelligbly  –  used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use«. Austin: How to do things with words, S. 21f. Vgl. zum Funktionieren der poetischen Einspielungen bei Austin wie »sea-change« (nach Shakespeares »The Tempest«), Miller: Speech acts in literature. 10 Zur Unmöglichkeit dieser Exklusion: Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 340−347 (»Die Parasiten. Iter, über die Schrift: Daß sie vielleicht nicht existieren«), insb.: S. 344f. sowie S. 335−339. »Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Äußerung wiederholte, […] wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen […] nicht als einem interierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifizierbar wäre. Die Zitathaftigkeit ist hier nicht etwa von derselben Art wie in einem Theaterstück, einer philosophischen Verweisung oder dem Rezitieren eines Gedichts. Deshalb gibt es eine […] ›relative Reinheit‹ von performatives. Aber diese relative Reinheit erhebt sich nicht gegen die Zitathaftigkeit oder die Iterierbarkeit, sondern gegen andere Arten von Iteration innerhalb einer allgemeinen Iterierbarkeit, die in die angeblich strenge Reinheit eines jeden Redeereignisses oder eines jeden speech act einbricht«. Ebd., S. 346. 8 9



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seiner Theorie des Parasiten11 – als Bearbeitung von »the pro­ble­matic limit between an inside and an out­side that is always threatened by graft and by parasite«.12 Das legt es darauf an, dass es (entgegen der vermeintlich biologischen Grundlegung) sowenig eine grundsätzliche Unter-Scheidung zwischen Pfropfung und Parasit wie eine solche zwischen greffe und le »propre de la chose« gibt.13 Wenn rezitiert / gesprochen wird: »Zerdrück die Träne nicht in deinem Auge,  /  Du hast die Träne ja um mich geweint«,14 so kann damit vieles geschehen: Ist nicht (gerade) das Zitierte als ernsthafte Äußerung zu hören? Ist es das auch in Wiederholungen? »Wie macht die Träne dich so wunderschön,  /  ich könnt’ dich ewig, ewig weinen sehn«  –  kann auch ›beant­wor­tet‹ werden: »Ich wein’ doch gar nicht«.15 Und wer sagt, wer entscheidet, dass dies ein Mißverständnis ist? – »Ich mein’ ja bloß«. Dass die Stimme durch ein zitationelles Funktionieren zu bestimmen ist, das mit dem Paläonym der Pfropfung, greffe, konzipiert und praktiziert wird, meint u. a. die folgenden miteinander zusammenhängenden Aspekte: Zu­nächst einmal schlicht: 1.) Es gibt ein stimmlich zitationelles Operieren, Rede, die zitiert, Stimmen, in denen zitationelle Aufpfropfungen eines anderswo Herausgelösten auf eine andere Situation statthaben, dem ein neuer Kontext gegeben wird. Es geschieht, dass eine Stimme verlautet: »nur die Wurst hat zwei«;16 es handelt sich um ein offensichtliches Zitat, die Ellipse markiert das. Die ›Kraft des Bruchs‹ manifestiert sich – als die der Zitation – in der Stimme, die spricht. Darüber hinaus: 2.) ›Wir‹ sprechen im Modus der Zitation, das gilt nicht nur für jede Stimme auf der Bühne, die ›es nur gibt‹ als zitationelle Pfropfung. »Le dire de la chose est Derrida: »Die Signatur aushöhlen: Eine Theorie des Parasiten«, S. 31. Derrida: »This is not an oral footnote«, S.  196. Die Vorsilbe para changiere »zwischen der Bedeutung neben und mit«, enthalte »also bereits die Bivalenz zwischen Exteriorität und Partizipation«: »Ein Parasit ist also derjenige, der räumlich nebenan tafelt, aber auch derjenige, der sich mit von derselben Tafel verköstigt«. Derrida: »Die Signatur aushöhlen«, S. 32. Zur antithetischen Vorsilbe para vgl. Miller: »The Critic as Host«, parazitiert von Genette: Paratexte, S. 9. 13 »La greffe ne survient pas au propre de la chose. Il n’y a pas plus de chose que de texte original«. Derrida: »La dissémination«, S. 431. 14 In Murx den Europäer zuerst ca. Min. 26. Zitate aus der Aufführung werden im Folgenden in Minuten nach der Titelei der Aufnahme der Volksbühne Berlin der Aufführung am 13. Juni 1994 nachgewiesen. Die Zeilen sind aufzufinden als die eines sog. Küchenliedes, der Text kann aber auch einem Autor Karl Herloßsohn und einem Datum 1840 zugerechnet werden (in: Böhme: Volksthümliche Lieder der Deutschen). 15 So, wenn die Rezitation wiederholt wird, ca. 54. Min. 16 Das ist ca. in der 25. Min. von Murx den Europäer zu hören. »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei« gilt als »Deutsches Sprichwort«, »umgangssprachlich« oder »Idioms and Sayings in German« zugehörig; ver­bucht wird es im www als Refrain zu Lyrics von Ex-Trio-Sänger Stephan Remmler von 1987: »Alles hat ein Ende  /  nur die Wurst hat zwei. / Jawoll / mein Schatz / es ist vorbei«, offenbar ein Ohrwurm und Karnevalshit. 11 12



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rendu à son être-greffé«.17 Die Zitation macht überhaupt erst sprechen. Die vermeintlich eigene Stimme ist je als eigene auch schon eine andere, und mit sich / in sich selbst entzweit. Die ›Kraft des Bruchs‹ ist der Stimme eingetragen, insofern diese spricht, und zwar als Trennung in ihrem Anfang, als Spaltung in sich selbst. Im ›Innern‹ – der Stimme – ›geschieht‹ eine ›Öffnung‹. Daher ist 3.) die vollständige (Selbst-)Präsenz, d. i. das Phantasma der Stimme,18 »schon in der Stimme selbst durchbrochen«.19 Wo sie ›phänomenal‹ ist, ist sie nicht (mit sich selbst identisch) in sich selbst zurückgekehrt, sondern diese ›Rückkehr‹ ist vielmehr bereits im Verhältnis zwischen Sprechendem und Sich-›selbst‹-Sprechen-Hörendem die im In­ nen »geschehende Öffnung«;20 »indem sie sich endlos differenziert, teilt, aufschiebt«,21 ist ›im Innern der Stimme‹ eine Rede-Szene eröffnet. »Die Dis­kon­tinui­tät, der Aufschub, die Heterogenität, die Andersheit wirkten schon auf die Stimme ein, brachten sie von ihrem ersten Atemzug an als System von differentialen Spuren hervor«. Mit Derrida heißt dies: »Die phänomenale Rede ist ein Schauplatz«, frz. scène.22 Die sog. eigene Stimme tritt derart 4.) auf als bzw. ist die Exzitation aus vor­an­ge­henden Reden, den vorgängigen, den wiederholend ihren Ursprung aufschiebenden, vielen anonymen Stimmen. Dies ist, was auf der theatralen Szene Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! aufführt. Das Stück gibt der ›Herkunft‹ der vermeintlich eigenen Rede, einer Stimme, die einem Gesicht zugerechnet werden kann, eine Szene und stellt diese als Exzitation aus dem anonymen Gemurmel aller, dem Hintergrund aller Reden und Stimmen vor. Das Vorkommen einer persona für die Stimme geschieht auf der theatralen Szene, die jene Szene ›doppelt‹, die als solche bereits durch den Auftritt des Sprechenden (als solchen) eröffnet wird. Die theatrale Szene ist daher in sich gedoppelt entzweit als die der vermeintlich dargestellten Handlung und als die des theatralen Geschehens ›hier und jetzt‹  –  also: nicht-hier und nicht-jetzt im Text.23 Auf der theatralen Szene, die der Schauplatz von Murx den Europäer dem Geschehen, das dieses ist, und der Szene, Derrida: »La dissémination«, S. 431. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 136ff. »Die Stimme ist«, so Husserl (in Derridas Lektüre), der »Name« für ein »Medium«, »das die Präsenz und die Selbstpräsenz der es meinenden Akte nicht auslöscht«. Ebd., S. 132. 19 Derrida: »Qual Quelle«, S. 272. 20 Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 144. Selbst die »Selbst-Affektion [durch die Stimme] setzt als Operation der Stimme eine reine Differenz voraus, die die Selbstpräsenz zerbrechen läßt« in der »Bewegung des Aufschubs«, als »Spur«. Ebd., S. 139, S. 142. 21 Derrida: »Qual Quelle«, hier und das Folgende S. 275. 22 Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 144. 23 Auf der Tagung konnte ›hier‹ die Aufführung durch die Wiedergabe der genannten Aufnahme erinnert werden; das entfällt hier. 17 18

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die der Stimm-Auftritt als solcher ist, Raum gibt, wird in der Doppelung, die markiert sein will,24 Sprechen als Zitieren vorgeführt.  –  Und zwar nicht bloß deshalb, weil jedes Sprechen auf der Bühne eine Zitation ist, und schon gar nicht weil dieses eine ›bloße‹, entkräftete und entkräftende Ver­doppelung eines Geschehens außerhalb der Szene wäre. Die theatrale Szene führt vielmehr vor, was es heißt, mit ›eigener Stimme‹ zu sprechen, indem sie vorführt, dass niemand dies tut, oder genauer: Sie macht nicht nur an-, sondern zugleich einsichtig, dass (nur) Fiktionen es ermöglichen, eine Rede-Szene als Rede mit eigener Stimme aufzufassen. Rede wird so personal zugerechnet und deren persona fingiert. Auf die Frage ›Wer spricht?‹ ist in verschiedenen, ein­ander berüh­ren­den oder überlagernden Traditionen der Autorisierung versucht worden, mit einer geregelten Bezogenheit von eigener Stim­me und fremder persona zu antworten. Scheint nun gerade mit dem Schauspieler die präsentische Stabilität der Ver­kör­perung einer anderen Stimme, die aus der Person/Maske (ex persona) spreche, gegeben zu sein, so ist doch  –  und das zeigt sich auf der Bühne von Murx den Europäer – diese Verkörperung selbst eine in sich entzweite: zwi­schen einander widerstreitenden An-/Abwesenheiten oszillierend und nur verfehlt, in einer Verwechslung von Figuralität und Naturalität, und zwanghaft stillzustellen. Leitete die Frage ›Wer spricht?‹ das Verstehen dazu an, geregelt das Gehörte als Rede auf einen Sprecher zu ver­rech­nen,25 so sind wir durch die Szene des Stimmen-Auftritts, als die das Schauspiel Murx den Europäer einsetzt, zu der anderen Frage angehalten: Was spricht durch die Person, die spricht? Oder mit Blanchot: »Was spricht, wenn die Stimme spricht? Es befindet sich nirgendwo, weder in der Natur noch in der Kultur, sondern es äußert sich in einem Raum der Verdopplung, des Echos und der Resonanz«.26 Hier (wo? nicht-hier und nicht auf der Bühne) geschieht in einem Anfang, der entweder schon stattgefunden hat, wenn Zuschauer ihre Plätze einnehmen, denn immerhin ist die Bühne (immer?) schon voll besetzt, der stattfindet, während sie sich einrichten und spre­chend/mur­melnd auf den Beginn warten, oder der vielmehr gar nicht aufzufinden ist zwischen nichtssagendem StimmenGewirr vor der Bühne und unverortbar hörbar/unhörbar einsetzenden Die theatrale Doppelung und Entzweiung führt die der Stimme selbst angehörende auf. »Die Stimme führt sich auf und ist doch, wenn sie gehört wird, immer schon geteilt«, so Primavesi, der die Inszenierung der von den »Rahmenbedingungen theatraler Prozesse« bestimmten Stimme untersucht. Primavesi: »Geräusch, Apparat, Landschaft«, S. 144. 25 Diese Frage führt nochmals Michel Foucault (als nicht durch deren Verneinung schon erledigte) an. Foucault: »Was ist ein Autor?«. 26 Blanchot, zit. nach Weigel: Prospekt zur Tagung »Kulturgeschichte der Stimme«; dieser wurde veröffentlicht als: Kittler  /  Macho  /  Weigel: Medien‑ und Kulturgeschichte der Stimme. 24



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Stimmen, die auf der Bühne (vielleicht (n)irgendwo zwischen der 6. und der 10. Min.) in Spuren oder Resten ein gesungenes »b/glühe(nd) empor« vernehmen lassen.27 Wo wäre die Grenze zwischen vor und in dem Stück anzunehmen? Noch das angestrengteste Hinhorchen ins Geräusch-Gewirr vermag sie nicht zu lokalisieren und nicht zu sichern. Wenn der erste gesprochene Satz(teil) ca. in der 25. Min. von Murx den Europäer identifizierbar ist, dann ein einsames »nur die Wurst hat zwei« – im Anfang eine Evokation des Endes, das ungesagt bleibt, das im zitierten Satzteil entfiel, weil dieser elliptisch als ›Addition‹ eine (andere) Redensart kommentiert und in die ›Antithese‹ verschiebt,28 mit dem Ende den Anfang aus-setzend – in den Ort und Zeitraum ›vor‹ dem unlokalisierbaren Beginn. Wenn (dann oder denn) Personen auf dieser Bühne spre­chen werden, so handelt es sich um Verkörperungen für Exzitationen aus jenem »Raum der Ver­dop­pe­lung, des Echos und der Resonanz«, aus dem Gemurmel, die hier und jetzt ex-zitiert die ›Ge­gen­wart‹ eines Auftritts erhalten. Ich beziehe mich mit dem Wort und der Sache der Exzitation auf Quintilians Bestimmung der Prosopopoiie: excitare, das ist das, was Quin­tilian – kraft der ›Lungenkraft‹ der Sprache – der rhetorischen Figur Prosopopoiie zutraut.29 Es handelt sich, wenn »durch« die Prosopopoiie »zumal die Gedanken unserer Gegner [vor Gericht] so zum Vor­schein [gebracht werden], als ob sie mit sich selbst sprächen«, um ein Mittel agonaler Rhetorik, das in der (einen und) eigenen Stimme einen Schauplatz, eine Szene der Rede eröffnet.30 Des Redners Stimme vor Gericht ist nicht-mit »Flamme empor! Flamme empor! Steige mit loderndem Scheine / Von den Gebirgen am Rheine  /  Glühend empor, Glühend empor« ist nachgewiesen im Programmheftchen zur Aufführung von Joh. H. Christian Nonne, 1814 zum Oktoberfeuer am Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig; übernommen wurde die Musik Karl Ludwig Traugott Gläsers von 1791, ›ursprünglich dem Liede »Feinde ringsum« zuge­hö­rig‹ (von C. G. Cramer ?−1817). Das vollständige Lied wird dann entstehend aus dem anschwellend »glüh-end« »glüh-end« (81. – ca. 84. Min.) in zunehmender chorischer Versammlung gesungen. 28 »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei« gilt als »Deutsches Sprichwort«, genannt wird es als ein Fall von Sprachwitz durch syntaktische Ergänzung zum Sprichwort »Alles hat (einmal) ein Ende« mit offenkundig semantischem, parodischem Effekt (vgl. »Beispiele parodierter Parömien«, www.staff.uni-marburg.de/-naeser/paroem.htm). DW Forum All­tags­sprache Deutsch weiß: »Eine Wurst hat zwei Enden. Somit ist es völlig gleich, von welcher Seite man sie anschneidet«. Es generiert seinerseits Parodien: »Alles hat ein Ende, nur der Durst hat keins« oder »Alles hat ein Ende, nur dieser Film hat zwei« usw. (vgl. unten Fn. 76). 29 Quintilian: Institutionis Oratoriae, IX 2, S. 29−31: »Ja, sogar Götter vom Himmel herab‑ und aus der Unterwelt heraufzurufen [excitare], ist bei dieser Ausdrucksform statthaft. Auch Städte und Völker erhalten Sprache [vocem accipiunt]«. 30 Ebd. Reguliert wird, »jedoch sollten sie so an Überzeugungskraft nichts einbüßen, wenn wir ihnen nur solche Worte in den Mund legen, von denen es nicht ungereimt erscheint, daß sie sie gedacht haben – und führen sodann in glaublicher Form auch Gespräche ein, die wir mit anderen und die anderen untereinander geführt haben; schließlich können wir 27

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sich-identisch: sie ist verliehen worden, spricht für einen an­­de­ren,31 und ist als solche in-sich-gespalten: szenisch. Obwohl doch, Quintilian zufolge, der Auftritt des Redners »sorgfältig« unterschieden werden müsse von dem eines Schau­spie­lers, schließt er die Ge­richts­rede, wo er die pronuntiatio oder actio der Rede verhandelt, doch an die Fälle von Schau­spiel, De­klamation an, »denn [auch] da sprechen wir ja nicht immer als Anwälte, sondern sehr oft als strei­tende Parteien«. »Wir verwenden näm­lich angenommene Rollen [fictione personarum], sprechen gleichsam mit der Spra­che eines anderen [ore alieno], und dabei müssen wir den Personen, de­nen wir unsere Sprache [vocem] leihen, die ihnen eigene Wesensart ge­ben«.32 Die Produktivität der actio oder performance der Rede ist als Ex-Zitation der fiktiv Sprechenden ausweisbar: als die Fiktion spre­chen­der Gesichter, durch die andere spre­chen. Es handelt sich um den Ruf, die citatio auf die Rede-Szene,33 die eine persona der Rede fingiert, durch die gesprochen werde, so dass »sogar Götter vom Himmel« »herab‑ und […] heraufgerufen« (excitare) wer­den.34 Ein anderer, der nicht (hier und jetzt) anwesend ist, wird  –  indem ihm eine Stimme verliehen wird, wenn der Redner mit einem ›fremden Mund‹ spreche – zum Auftritt be­wegt: erregt35 und heraufgerufen. Personare war die geläufige ›falsche‹ Etymologie, die in Berufung der Theater-Masken die persona als das, wohindurch es schalle, erläuterte.36 Die Person der Rede ist deren metaleptischer, nachträglicher Effekt – davon spricht Fontanier in Traité général des figures (in der englisch über­set­zenden Zitation Riffaterres) in

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so Ratschläge, Scheltworte, Klagen, Lob und Jammern geeigneten Personen in den Mund legen«. Vgl. Campe: »Affizieren und Selbstaffizieren«. Quintilian: Institutionis Oratoriae, XI 1, S. 38f. Die Zitation war historisch zuerst die vor das Gericht, vgl. Compagnon: La seconde main ou le travail de la citation, S. 282. »Im Lateinischen gehört dies semantische Feld [Excitatio, cire] in erster Linie der Rechtssprache an: man zitiert jemanden vor das Gericht. Man veranlaßt den Zitierten, aus der Dunkelheit seiner Privatsphäre herauszutreten, man läßt ihn ins Licht des Rechts treten«. Lyotard: »Emma«, S. 671. Dies traut Qunitilian der Prosopoiie zu: Institutionis Oratoriae, IX 2, S. 29−31. »Excitatio, von citare, dem Frequentativ von ciere oder cire: in Bewegung setzen, erregen; und von ex-: heraus«. Lyotard: »Emma«, S. 671. Im Englischen ist der Zusammenhang von excitare zu to excite präsent: »to put into motion or activity, to arouse, call forth« (Webster’s New World Dictionary of the American Language). Da eine »solche Erregung [excitatio]« voraussetzt, dass es das erregte Objekt als erregbares ›gab‹, »tritt« – so Lyotard – »nachträglich« »eine Vorbedingung ans Licht«. Lyotard: »Emma«, S. 671f. Vgl. Nédoncelle: »Prosôpon et Persona dans l’Antiquité Classique«, S. 285f.; diese falsche Etymologie führt Benjamin als solche anlässlich des zitierend vortragenden Karl Kraus’ an, um vom »dämonischen Personenreichtum« der zitierenden Stimme zu sprechen. Benjamin: »Karl Kraus«, S. 347. Kennzeichnet er Kraus als »Silbenstecher, der zwischen die Silben sticht« und »Larven, die da nisten, zu Klumpen« herausholt, so legt er es an auf die Ambiguität der homonymen Larven/»Larven der Käuflichkeit und der Geschwätzigkeit […]«.



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spezifischer Weise: »Prosopopeia […] consists in staging as it were, absent, dead, supernatural or even inanimate beings«.37 Durch fictio persona treten Stumme, Abwesende oder Tote auf der Szene der Rede auf, indem sie fiktiv sprechend gemacht werden und ihnen dafür ein Gesicht als Maske (der Rede) gegeben worden ist (d. i. Prosopon-poiein).38 Wenn eine Rede erfunden wird, dann wird mit dieser zugleich deren Gesicht fingiert: her­vor­ gebracht für das, was vorübergehend (hier und jetzt) oder endgültig stumm oder abwesend, ohne gegenwärtiges Gesicht ist. Quintilian besteht darauf: »[G]ewiß kann man doch kein Gespräch erfinden, ohne zugleich auch eine spre­chende Person zu erfinden«, und kassiert damit die Unterscheidung von »erdichteten Ge­sprä­chen« ›natürlicher Personen‹ und der fictio personae für Stumme und Gesichts­lose (Konkreta, Ab­strak­ta, Kollektiva).39 Denn das ›Gesicht der Rede‹ ist in jedem Falle ein ›fingiertes‹, ein künstliches Gesicht,40 auch dann wenn es sich um die Rede ehemals lebender oder wo­an­ders anwesender Sprecher handelt. Das ›spre­chen­de Gesicht‹ ist ein Effekt, eine Fiktion der Rede. Die persona einer Rede ist kein menschliches Gesicht, wie es dem Sprecher ›von Natur aus‹ zu­zu­kom­men scheint, sondern eine Maske41 der und für die Rede, ein Produkt der Sprache, so kunstfertig wie – für ein, zumindest hier und jetzt, Abwesendes, Stummes, Gesichtsloses – notwendig erst her­vor­ge­bracht, also eine Katachrese.42 Es heißt, dass die Formel ›aus der Maske sprechen‹ »ursprünglich« »vom Theater« stamme, »er­halten« aber ist diese »ausschließlich« als Terminus »der Exegese«,43 und zwar als die sog. Zita­tions­formel: ›ex persona alicuius loqui, aus dieser Person spricht ein anderer‹. Mit Fontanier: Traité général des figures du discours, S. 404ff., zit. nach: Riffaterre: »Prosopopeia«, S. 107. 38 De Man: The Rhetoric of Romanticism, S. 76. 39 Diese Unterscheidung, die Quintilian für unhaltbar hält (Institutio oratoriae, IX, 2, S. 31ff.), in: Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, § 820, § 826. 40 Prosopon war neben dem »Gesicht, wie es von Natur einem Wesen eigen ist«, »das künstliche Gesicht, das der Mensch durch Aufsetzen einer Maske sich selber verleiht«. Bis man in der hellenistischen Zeit es für nötig hielt, neben das damals mehrdeutige prosopon eine davon abgeleitete Neubildung, prosopeion [also das hevorgebrachte: prosopon-poein] als eigent­li­ches Wort für Maske zu setzen«. Hirzel: Die Person. Begriff und Name derselben im Altertum, S. 40f.; vgl. Nédoncelle: »Prosôpon«, S. 278f. 41 Hobbes zufolge: »The word Person is Latin, instead whereof the Greeks have prosopon, which signifies the face, as persona in Latin signifies the disguise or outward appearance of a man, counterfeited on the stage, and sometimes more particularely that part of it which disguiseth the face (as a mask or vizard); and from the stage hath been translated to any representer of speech and action, as well in tribunals as theatres«. Hobbes: Leviathan, Kap. XVI, S. 101. 42 Vgl. de Man:­­­»Hypogram and Inscription«, S. 44. Katachrese ist die übertragene Verwendung eines Wortes an anderer Stelle, an der diese (mißbrauchende) Verwendung notwendig werde, weil eine Bezeichnung fehle. 43 Drobner: Person-Exegese und Christologie bei Augustinus, S. 69. 37

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dieser wird in der antiken Tradition der Textauslegung der paganen Klassiker, dann auch der Bibel, die Frage ›Wer spricht?‹ beantwortet, die die Bedeutung­s­kon­sti­tu­tion anleitete. Sie sollte die Bedeu­tung unter der Figur des sprechenden Gesichts gerade dort sichern, wo ein Text unklar oder in sich wi­der­sprüchlich gefunden wurde, indem ihm – angeleitet von der Frage Quis dicit? – verschiedene Gesichter, durch die dieser gesprochen sei, zugeschrieben und derart die Un­stim­mig­kei­ten in einer gere­gel­ten Mehr­stimmigkeit aufgefangen wurden.44 Die deutende Zu­schreibung unterlag dem Kriterium, »zu welcher Person der Satz in­ haltlich paßt (cui aptum)«.45 Die Zita­tions­formel ex persona alicuius loqui hält fest, dass durch die verschiedenen fiktiven Gesichter, die dem Text deutend verliehen werden, ein anderer logos (oder Autor) ›ei­gent­­ lich‹ spreche,46 wie umgekehrt vorausgesetzt wird, dass ein Autor (seine) Rede an fiktive Personen kontrolliert zu verleihen vermag.47 In den Schulrhetoriken wurde die fictio personae beschränkt durch das Kriterium der ›Ge­eig­net­heit‹ jener Personen, denen ›passende‹ Reden (d. i. aptum) in den Mund zu legen seien,48 denn umgekehrt sollen diese sich selbst durch die Reden charakterisieren. Das Gesprochene sei meta­ pho­risch lesbar als eine Charakterisierung seines Sprechers, so dass die Personen-Erfindung die Rede poetisch zu verlebendigen tauge. Die Stimme ist »eine Metapher« des Textes, so de Man; diese leite an, den Text metaphorisch zu verstehen, indem »aus den Struk­turen des Prä­di­kats ein Analogieschluß auf die Absicht des Subjekts«  –  das vor dem Gesagten zu fin­den sei – gezogen wird.49 Das tun wir gewöhnlich, so dass sowohl das was als auch die Art wie gesprochen wird, auf den vorausge­setzten Sprecher, ihn ›charakterisierend‹, gedeutet wird. Die klassischen Beispiele der Deutung durch einen bedeutungssichernden Personenwechsel stammen aus den Ho­mer‑ und Horazscholien, vgl.  Andresen: »Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Perso­nen­begriffs«, S. 16f.; Drobner: Person-Exegese, S. 52. 45 Ebd., S. 16f. 46 Justin, der erste christliche Schriftsteller, der die Zitationsformel verwendet habe, sagt: Wenn in einem Text »Propheten Sätze sprechen, als wenn eine Person [prosopon] redet, dann wähnt nicht, daß sie von den geisterfüllten (sc. Propheten) unmittelbar gesprochen werden, sondern von dem sie bewegenden Logos«. Dieser spreche »unter Personen«, »wie man es ja auch bei euren [paganen] Schriftstellern beobachten kann, bei denen man unterscheiden muß: einen, der der Verfasser des ganzen Werkes ist, der aber (mehrere) sich unterredende Personen auftreten läßt«. Zit. nach: Andresen: »Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Personenbegriffs«, S. 12. 47 So kennzeichnet Hobbes das Verhältnis von autor und actor: der Autor repräsentiere ›sein Eigenes‹ in den feigned persons nur, und behalte die souveräne Verfügung über die eigene Rede und die Zitation, für die actors agieren. Hobbes: Leviathan, Kap. XVI, S. 101. 48 Vgl. Quintilian: Institutio Oratoriae, IX 2, S. 29−31 (vgl. Fn. 30). 49 De Man: »Semiologie und Rhetorik«, S.  49. Das ›spre­chen­de Gesicht‹, das der Rede vor(aus)gesetzt wird, ist eine Fiktion, in der die grammatische Funktion des ›ich‹, das spricht, rhetorisch figuriert wird. 44



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Dazu setzen auch die Zuschauer von Murx den Europäer stets wieder an, wenn sie eine Rede identifizieren, wenn sie etwa (ca. in der 19. Min.) von den auf der Bühne unbewegt Sitzenden chorisch gesungen hören »In einem kühlen Grunde, […] Ich möcht’ als Spielmann reisen«, oder wenn jemand »Zerdrück die Träne nicht in deinem Auge« (ca. in der 26. Min.) aufsagt (wiederholt in der 54. Min.), oder eine, die vortritt, singt: »Noch ist die schöne, die blühende Zeit, noch sind die Tage der Rosen! Noch sind die Tage der Rosen!« (Min. 97), dann kann eine jeweils charak­terisie­rende metaphorische Auffassung nicht verhindert werden. Nur daher können diese Zeilen so komisch sein, wie sie es offenbar sind. Das zitierte Lied ist eine so authentische Äußerung, wie nur je eine zu haben wäre:50 »Ich lass’ mir meinen Körper schwarz bepinseln, schwarz bepinseln, und fahre nach den Fidschi-Inseln. Dort ist noch alles paradiesisch neu! Ach wie ich mich freu, ach wie ich mich freu!« (Min. 56). Die Metapher der Stim­me funktioniert, insofern sie »als rheto­ri­schen Effekt eine vor­aus­lie­gende Ursache [pro­duziert], als deren Wirkung sie sich darstellt«, also metalep­tisch ist.51 Als »effect of belated metalepsis« ist – so Butler, nach Nietzsche wie de Man – der Täter, das Subjekt des Sprech­akts gegeben, als stets nach­träg­li­cher Effekt der Auf­fas­sung eines Geschehens als Tat oder performative: durch »metalepsis by which the subject who ›cites‹ the performative is temporarily pro­du­ced as the be­la­ted and fictive origin of the per­for­mative itself«.52 Wenn und indem eine Rede als Stim­me auf­ge­fasst wird, wird die Instanz vorausge­setzt, eingesetzt und als persona fingiert, die sie verantworte, wird auf das ge­schlos­sen, was nachträglich als ›Ab­sicht‹ vor der Rede angesiedelt und als Instanz ihr vor­aus­ge­setzt sein wird. Es gibt die Tendenz, die Fiktionen der Bedeutungsbildung als Per­sonen vor dem Text, realistisch verwechselnd, zu konsolidieren.53 Das ›Gesicht der Rede‹ ist ein Effekt des Sprechakts, eine Fiktion für die diesem voraus­ge­setz­te Instanz, in jedem Falle – auch dann, wenn es sich Vergleichbar ist Alain Resnais’ Film On connaît la chanson / Das Leben ist ein Chanson (1997), der es seinen Protagonisten ermöglicht, mit der in den Mund gelegten fremden (und als fremde merklichen) Stimme, Zeilen aus Chansons und Popsongs exzitierend, das ›eigene‹ Innere (sich) äußern, wiederholend, iterativ erfinden zu lassen. Es handelt sich in Murx den Europäer aber, anders als in On connaît la chanson, oftmals um chorischen Gesang. 51 Vinken: »Der Stoff, aus dem die Körper sind«, S.  18. Die Metalepse wird rhetorisch bestimmt als Umkehrung der metonymischen Relation von Grund und Folge, von Person und Sache: Autoren für ihre Werke, Gottheiten für ihren Funktionsbereich oder der Täter für die Tat. 52 Butler: Excitable Speech, S. 155. 53 Dazu tendierte auch die pro­sopo­gra­phische Exegese der christ­li­chen Spätantike: Die Figurationen des Textes begründeten den christlichen trinitarischen Personenbegriff, die drei Personen des einen Gottes. Vgl. Andresen: »Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Personenbegriffs«, S. 10f., S. 22f. 50

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um ehemals lebende oder wo­an­ders, nicht hier anwesende Sprecher handle. Denn keine Rede kann verstanden werden, ohne dass schon eine persona vorausgesetzt und (als fictio der Rede) hervorgebracht worden wäre, durch die diese gesprochen werde. Eine Rede als Stimme mit Gesicht und sie als ­­­Stim­me eines Sprechers zu hören, dem die Worte und Handlungen zuzueignen sind, der sie ver­ant­wor­te und zu verstehen gegeben ha­be, ist die Fik­tion für die Voraus-Setzung im ›Ursprung‹ der Re­de. Das fik­­ti­ve, künstliche ›Gesicht der Rede‹ wird angesichtig menschen­ähnlich fingiert: anstelle eines Faktums der Sprache, eines sprachlichen Ereignisses, eines rhetorisches Erzeugnisses kraft der Sprache. Zitieren und zitierend Sprechen ist weder bloß wiederholende Wiedergabe eines ehemals Gemeinten noch schlicht die Re-Präsentation eines jetzt Gemeinten, sondern ist excitatio  –  und insofern performativ.54 Es fingiert personae, durch die Abwesende ›erregt‹, heraufgerufen, sprechen, und lässt diese derart auftreten. Als Exzitation ist die zitierende Rede selbst ein Ereignis, ein Vorkommnis. Lyotard expliziert die Etymologie des Zitierens: »[Man] zitiert jemanden vor das Gericht. Man veranlaßt den Zitierten, aus der Dunkelheit […] herauszutreten, man läßt ihn ins Licht […] treten«. »Hier stößt man offenbar auf die reine Tautologie des Ereignisses: es kommt vor«.55 Es handelt sich hier um das Ereignis, das das Vor-Kommen als solches ist. Der Vor-Tritt des Spre­chers, der aus dem Chor heraustretend als einzelner auftritt und sich in körperlicher Präsenz exponiert,56 eröffnete die Szene des Thea­ters der griechischen Antike. Es handelt sich um die ›Losreißung‹, die die Szene des Auf­tritts selbst eröffnete. Den Auftritt als Vor-Kommnis gibt es allerdings nicht ›als solchen‹, nicht als leeres ›reines Vorkommnis‹: immer tritt etwas auf; es erhält ein Gesicht, die persona für die excitatio, die Figur für den Riss. Die Zitation setzt eine Redeinstanz und gibt ihr ein Gesicht, das als Aufrittsform für die Gegenwart der Redeszene nachträglich ›gegeben‹ /  verliehen ist. Eine solche Instituierung von personae für Sprecher-Instanzen findet in Murx den Europäer, so viel in diesem Stück auch zitiert wird und damit die Zitation, die jede Aufführung eines Textes auf der Thea­ ter­bühne als solche ist, wiederholend gedoppelt wird, nicht statt. Oder vielmehr: Diese wird gerade dadurch vorgeführt, dass sie sich vollzieht, Vgl. Menke: »Die Performanz der Zitation« sowie: »Zitierfähigkeit: Zitieren als Exzitation«. Ein »ritueller Vollzug« »repräsentiert nicht nur […] in sinnlichen Symbolen«, »zugleich exzitiert er« jenes »Leben«, das in diesen »erscheint«, das erklärt ihn als performative. Scholem: Zur Kabbalah und ihrer Symbolik, S. 168. 55 Lyotard: »Emma«, S.  671. Zugleich »kommt eine Vorbedingung ans Licht«: »Es wird voraus­ge­setzt, daß das erregte Objekt erregbar ist«. Ebd., S. 671f. 56 Vgl. Lehmann: Theater und Mythos, S.  50−55 (»Drama und Szene«), S.  58, S.  62, S. 102. 54



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ohne sich resultathaft zu vollenden und personal zu verfestigen. Da der Auftritt, den es nicht als reinen gibt, von einer nicht auflösbaren Spannung zwischen Ereignis und Figuration durchzogen wird, setzt sich das oder der theatral Auftretende je in ein Verhältnis zum Auftritt als solchem und zu dieser Spannung. Ist einerseits die Zitation, die als solche eine Exzitation oder citatio auf die Redeszene ist, als ›staging‹ zu kennzeichnen (mit Fon­tanier nach Riffaterre), als das Auftretenlassen von personae anderer Stimmen, so durch­quert sie doch andererseits den Auf‑ und Eintritt eines ›menschlichen‹ Gesichts für die fremde Rede. Denn es handelt sich bei dem ›Gesicht der Rede‹ um die Fiktion einer persona der fremden Rede – auch dann, wenn die Rede aus einem (vermeintlich) natürlichen Mund kommt. Und, wenn sie aus dem vermeintlich naturalen Mund eines natürlichen Schauspielerkörpers kommt, so handelt es sich bei diesem doch zugleich um Mund und ›Gesicht‹ eines abwesenden anderen Sprechers, der dem Konzept des Dramas zufolge ›dargestellt‹ würde, der sich in die ›eigene‹ Stimme, die ›hier‹ und ›jetzt‹ spricht, diese aufspaltend, teilt. Im Auf­tritt, der die zitierte Rede je ist, wird die ›eigene‹ Stimme von den ›anderen‹ tangiert, die sie iterierend spalten und je schon zur scéne, zum Schauplatz anderer ›Stimmen‹ gemacht haben.57 So tritt auf der theatralen Szene der Schau­spie­lerkörper jeweils in ein Verhältnis zu der persona, die für die Rede, die durch diese spreche, fingiert wird, zu dem Gesicht der Rede, das die Figur des meta­leptischen, nachträglichen Effekts ihres (voraus)gesetzten Ur­sprungs ist. Auf der Theater-Bühne, die die Szene, die jede Rede als solche eröffnet, doppelt, scheint zwar einerseits das eingesetzte Ge­sicht, das für die einem anderen verliehene Rede fingiert wird, im ›natürlichen‹ Gesicht des Schau­­spie­ler­ körpers so selbst­ver­ständ­lich natural wie menschenähnlich gegeben. Aber andererseits tritt im theatralen Vorkommen eines Sprechers der in jeder Zi­ta­tio­n aufgeführte Abstand in der Stimme, die Spur des Nicht-Eigenen in der eigenen Stimme szenisch gedoppelt, diese durchquerend auf.58 Dies Vorkommen (selbst) wird zum theatralen Vorkommnis. Vgl. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S.  144. Eine Theaterszene, die dies verdoppelt und die eigene Rede-Szene in sich selbst doppelt, bietet der Variant zu Kleists ›Lust­spiel‹ Der zerbrochene Krug (V. 1975). Darin eröffnet die zitierend Sprechende Eve eine Rede-Szene, eine Ge­richts­szene, die nicht die gegenwärtige auf der Szene ist, sondern eine andere, woanders: auf der Szene der Rede Eves spielende. Sie zitiert die anderen und sie »konstituiert« sich als Sprechende »in Abwendungen« der Rede von der gegenwärtigen Szene »bis in die Negation des Anwesenden«, das sind auch alle auf der Bühne ›im Vordergrund‹ anwesenden Figuren, die ›sich selbst‹ durch Eves Mund sprechend zuhören. Meister: »Eves beschämte Rede«, S. 55. 58 Dies stellte die Maske (persona, prosopon) vor: »sie streicht das Gesicht, den Ort und Signifikanten des Geistes gleichsam durch«. Lehmann: Theater und Mythos, S. 102. 57

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Dadurch, dass die Sprecher auf der Szene von Murx den Europäer nicht abschließend konsolidiert, personae einer dramatischen Handlung geworden sind, ist das theatrale Vorkommen selbst und die Relation, Spannung und Bruch zwischen den auftretenden Körpern, den deutend sich bildenden personae und den anderswo herkommenden Reden (von anderen) beobachtbar. Was geschieht ist, dass gesprochen wird, eine Szene personal zurechenbarer Stimmen sich momentan in der Wechselrede herstellt – »›Du hast den Hund vergiftet.‹ ›Ich habe den Hund nicht vergiftet.‹ […] ›Wenn du den Hund nicht vergiftet hättest, dann hätten wir jetzt wenigstens noch einen Hund‹« (Min. 26:30) – und sich je schon wieder verliert: Handelt es sich denn um Antworten? War es ein ›Gespräch‹?59 Und um was handelt es sich, wenn es sich (in Bruch­stücken) an anderer Stelle wiederholt (Min. 31)? Was geschieht, geht hervor aus einem Murmeln und verliert sich wieder ans Gemurmel. Es begegnet zuerst als das der anonymen Zuschauer (aber als solches nicht den Zuschauern als Zuschauern des theatralen Geschehens), als das im theatralen Dispositiv der Relation und Trennung zwischen Bühne und Zuschauern vollständig Nichts-sagende, Sinnlose allenfalls Störende. Murx den Europäer ›bezieht‹ das excitierende Sprechen auf einen ›anderen‹  –  hier und jetzt  –  nicht präsenten ›Raum‹ des Sprechens anderer. Hier sind es nicht (noch) abwesende ›Götter‹, die ex-zitiert werden, die eine persona, Maske, durch die gesprochen werde, verliehen bekommen und dadurch heraufgerufen, zum Auftritt erregt: hervorgebracht worden sind, was Qunitilian als die Kraft der Rede zur excitatio bezeugte. Lyotard spricht davon, dass mit der excitatio, der Erregung zum Auftritt, »nachträglich« »eine Vorbedingung«, die Erregbarkeit des ›Erregten‹, »ans Licht« trete.60 Umgekehrt wird ein ›Gespräch‹ gehört, wenn auf »Ich schenk mein Herz … nur einem Mann« (Min. 43) aus der Operette »Die Dubarry« (1879, Text: Paul Kneipler, Komp.: Karl Millöcker, s. u. Fn. 75) »Jede Frau hat eine Schürze« (Min. 43:30) ›respondiert‹ [s. u. Fn. 76]. Oder wenn »Ans Vaterland ans teure schließ’ Dich an«. (Min. 65:30; zit. ist Attinghaus aus Schillers Wilhelm Tell, II.1) ›beantwortet‹ wird durch den chorischen Gesang: »Hoch im Blauen fliegen Fahnen … Blaue Fahnen nach Berlin« (Min. 65:30) (von Johannes R. Becher; Musik: Hans Eisler) und dann: »Sichres Deutschland, schläfst Du noch? Ach wie nah ist dir dein Joch, das dich hart wird drücken, und dein Antlitz dürr und bleich jämmerlich ersticken. […] Reich!« (Min. 68 u. ö., vollständig im Programmheftchen; der Text stammt von Johann Rist 1647, die Musik von Michael Jacobi 1650). Als dies (Min. 45) das erste Mal zu hören war, folgte es auf: »Möchtest Du nicht versuchen, ein Schläfchen zu halten?« (Min. 45; wiederholt in Min. 87), während auf die wiederholten Refrain-Zeilen »Wach auf, du Deutsches Reich! Wach auf, du Deutsches Reich!« (Min. 45:30) eine ›schallende Ohrfeige‹ respondiert. Usw. 60 Vgl. Lyotard: »Emma«, S. 671f. »Es wird voraus­ge­setzt, daß das erregte Objekt erregbar ist«. Diese »Bedingung seines Vor-Kommens« ist Voraussetzung, die als solche gewaltsam ist. Ebd. 59



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Die Vorkommnisse von Murx den Europäer setzen nicht nachträglich die Ursache (einer Wirkung) voraus und stabilisieren sie als die (dramatis) persona der exzitierten Rede. Vielmehr wird durch Excitationen ein anderer Raum der Erregbarkeiten nicht kalkulierbarer Erregungen ab-seh-/-hörbar. Es begegnet als das anonyme Gemurmel, das jeder Rede, die etwas sagt und personal zugerechnet werden kann, voraus­ge­ht, und an das alle, sich multiplizierend einander überlagernd, sich verlieren müssen. Momentan faltet sich dieser Hintergrund auch ins theatrale Geschehen ›jetzt‹ und ›hier‹ auf der Szene von Murx den Europäer, und kehrt wieder als erregtes Stimmen-Gewirr (Min. 26−28:30), ohne dramatische Handlung zu werden, als ein Gewirr der sich überla­gern­den, zitierenden, wiederholenden und wie­derholten ›Stimmen‹ aller (auf der Bühne Anwesenden), das die Reden von etwas und die identifizierbaren Stimmen einholt.61 – In der theatralen ›Doppelung‹ wird zum Vorkommnis, was wir in keiner ›eigenen Rede‹ haben, das Gemurmel im Hintergrund der zitierend exzitierenden ›eigenen Rede‹. Die eigene Rede setzt ein, erst und schon im Rückbezug auf das vielzählige Sprechen, das jeder Rede vorausgeht, ein Gewirr von Stimmen, das Gemurmel der anonymen Reden aller. Sie kommt schon auf das – vorgängige – Sprechen der anderen zurück – und von diesem her, jeder eigenen Rede vor­gän­gig, erst zu.62 Die eigene Rede ist im Moment ihres Einsatzes an das verwiesen, was ihr vorgängig und fremd ist, die Heterogenität der Sprache, die voran­ge­gangenen, ihren Ursprung ent­ziehenden anderen Reden. Diese ›Herkunft‹ manifestiert sich als Spur in der Rede, auch der, die auktorial auto­ri­siert zu sein scheint. Die ›eigene‹ Rede ist anfänglich zitiert von anderen zitierbar, woanders und zu einer anderen Zeit wiederholbar, ›preis­ge­geben‹ an das viel­zün­gi­ge Sprechen der anderen, in dem sie sich als an ein unverfügbar anderes je schon wieder verliert. Von den Über­tra­gungen der »Zungen und tönend[er] Münder so viel und lauschend[er] Ohren«, so spricht Vergil vom Gerücht, dem HörenSagen, der Fama, die dadurch monströs, nicht-menschen­ähn­lich63 nicht nur Wiederholt ist das in Überlagerungen von Gesängen (ca. Min. 80). In diesem StimmenGewirr bleibt identifizierbar: »Und weil der Mensch ein Mensch ist … Vorwärts und nicht vergessen, die Solidarität, die Solidarität« / »nicht vergessen: die Solidarität« – das insistiert, sowie sich identifizierbar lösend: »glühend empor, Flamme empor …«. (ab Min. 81), das dann als vollständiger Text (bis Min. 84, s. o. Fn. 27) zum ›Chor‹ versammelnd gesungen wird. Nebenbei aber lässt sich hören: »gar lustig ist die Jägerei«, und zwei weitere Personen sprechen unhörbar, aber beobachtbar anderes. 62 Das stellt die Rede dem Echo vor; vgl.  Menke zu Echo und Gerücht in: »Rhetorik der Echo. Echo-Trope, Figur des Nachlebens«. 63 Vergil: Aeneis IV, S. 145 (»tot lingua, totidem ora sonant, tot subrigit auris«, S. 144, Z. 183). »Dies verbreitet im Munde der Menschen die scheußliche Göttin«, S.  145 (»haec passim dea foeda virum diffundit in ora«, S. 144, Z. 195). 61

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die fremde Rede (einer anderen Stimme), sondern eine radikal fremde nichtgesichtige Rede vorstellt. Das Gerücht, pheme, fama, »ist die Botschaft und das Medium«, so Neubauer in seiner Fama-Mono­gra­phie,64 die jeweils aktuelle Nachricht wie deren Medium, das so vielohrige wie vielzüngige Hören-sagen, das sie zuträgt. So sehr im zitierenden Wiederholen und Übertragen »memo­rierbare Formen«65 sich aus­bil­den, so sehr ist das Medium der Überlieferung doch flüchtig verflüchtigend, sind die zitierenden Wie­­der­ ho­lungen wie Medium der Konstitution und Tradierung, zugleich das des Sich-Ver­lie­rens. Denn was oft genug wie­derholt, zitiert wird, beruft keine Autorität und keine Autor­schaft mehr, sondern plaudert die ano­ny­me Wie­ derholtheit, die es zum Gemeinplatz macht, und dessen Wie­der­holbarkeit durch alle und jede aus.66 Topoi sind durch die Wie­der­ho­lungen, die sie zum Gemeinplatz erst machen, schon ›autorlos geworden‹. Dies gilt für fast alles in Murx den Europäer auf die Szene Zitierte, handelt es sich um Zeilen aus Ein Jäger aus Kurpfalz,67 Kauf’ dir einen bunten Luftballon,68

Neubauer: Fama, S. 61, vgl. S. 32, S. 38. Die Griechen vernehmen das Gerücht (pheme) »als eine Macht, die mit den Göttern im Bunde ist: als Botin der Unsterblichkeit und als göttliche Stimme«, »das Hörensagen [als] die Botin des Zeus« (ebd., S.  28) und als »eine selbständig wirkende Macht« (Ebd., S.  29). Zugleich ist es aber gebunden an die Menschenstimme als ihren »Träger« (Ebd., S.  33, S.  35f.). Die doppelte Bestimmtheit behält die lat. Fama, sie ist »[sowohl] der gute Leumund wie der schlechte Ruf«. Ebd., S. 56f. »Anreiz der Tugend« wie – nach der Beschreibung Vergils – die »unsichere, nicht überprüfbare Rede des Hörensagens, auf das man ebenso angewiesen war, wie man es fürchtete«. Ebd., S. 82. Gerücht, Ruhm, Ruf, Kunde akzentuieren verschiedene Aspekte des »Hörensagens, sei es das kaum hörbare Geraune, sei es die Botschaft, die von einem Ort zum anderen dringt, sei es der Ruf, der eine Person umgibt, oder der Ruhm, der sich in die Zeiten erstreckt« (ebd., S. 32), die »räumliche Seite« von »Nachricht, Gerede und Kunde« und in »zeitlicher« Hinsicht als »Ruhm« und »Nachruhm«. Ebd., S. 58. 65 Vgl. Neubauer: Fama, S. 38, S. 34f., S. 40 u. ö. 66 Man vergleiche das (in Min. 121) Zitierte: »Wie muß ich meinem Schöpfer danken, daß ich nicht eine Kröte ward,  /  Die ohne sittlichen Gedanken,  /  Im Kothe nur sich wälzt und scharrt, / Ich bin ein Mensch, vor Gott zu wandeln, […]«, das als Ludwig Eichrodts »Menschenbewußtsein« identifiziert werden kann. Es steht in Biedermaiers Auserlesene Gedichte (in: ders.: Lyrische Karikaturen, S.  95−96). Der Neologismus »Biedermaier« (zuerst für »Das Buch Biedermaier«, gehört zu den von Eichrodt zusammen mit dem Arzt Adolf Kußmaul veröffentlichten »Gedichte in allerlei Humoren«, 1853) gibt einer ganzen Epoche den Namen. Die letzten Zeilen von »Menschenbewußtsein« sind: »Der Seraph aber muß uns neiden, / denn er entbehrt Familienfreuden«. 67 Von »Ein Jäger aus Kurpfalz« stellt Wikipedia fest: »Verfasser des Textes als auch Komponist der Melodie sind unbekannt, der Text und die Spielweise wurden wohl mündlich überliefert. Martinus Klein gilt zwar als Urheber von beidem, allerdings geht man davon aus, daß das Lied schon älter ist«. »Gar lustig ist die Jägerei« ist zu hören, nebenbei, während auf der Bühne in zunehmender chorischer Geschlossenheit erneut »glühend empor« »Flamme empor« (Min. 81−84) gesungen wird. 68 Auch »Kauf dir einen bunten Luftballon, / […] Stell dir vor, er fliegt mit dir davon / In ein fernes Märchenland« hat sich längst gelöst von seinem ›Ursprung‹: der Revuefilm »Der weiße Traum« von 1943, Remake unter dem Titel Kauf dir einen bunten Luftballon (1960), Regie beider Filme Géza von Cziffra. 64



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»Ich laß’ mir meinen Körper schwarz bepinseln«,69 oder auch um solche, als deren Herkunftsort etwa Schillers Wilhelm Tell wiedererkannt werden mag:70 »Der Starke ist am mächtigsten allein«, sagt jemand (in Min. 135).71 Das geflügelte Wort mag zwar als memorierbares im Zitaten-Lexikon die An­bindung an die ur­sprüngliche Quelle erhalten,72 es ist jedoch um ­so geflügelter, je weniger es diese Anbindung noch hat, – so geflügelt wie die Fama oder das Gerücht: »Gerücht jemehr es fleucht  /  jemehr bekömmt es Flügel«.73 ›In al­ler Munde‹ sind die zi­tier­ten Worte Allgemeingut, 74 das keiner auktorialen Verantwortung und Verfügung untersteht. Wer spricht »Jede Frau trägt eine Schürze« (Min. 43)? Respondiert dies nicht unvermeidlich (wie auch immer) auf: »Ich schenk mein Herz […] nur einem Mann, […]« (dem es folgt)?75 Der Satz läßt sich nach­wei­sen und mit einem Namen ver­se­hen; es handelt sich dann um eine der »Banalitäten aus dem Chinesischen« von Kurt Schwitters (1922), und findet sich neben: »Fliegen haben kurze Beine. / Eile ist des Witzes Weile.«, »Würze ist des Witzes Kürze.« usw.76 Schwitters, so heißt es, »[demonstriere] die enge Af »Ich lass’ mir meinen Körper schwarz bepinseln, schwarz bepinseln und fahre nach den Fidschi-Inseln« kennt das www nur als Lyrics von Max Raabe. Es handelt sich um den Refrain des Filmschlagers »Ach wie herrlich ist es in Paris …«. Friedrich Hollaender (Musik) und Robert Liebmann (Text) für den Film »Einbrecher« (1930); beide mussten nur ein paar Jahre später emigrieren. 70 »Ans Vaterland ans teure schließ’ Dich an«, sagt jemand in Min. 65:30 (im Zitat des Attinghaus in Schillers Wilhelm Tell, II.1); dann folgt: »Hoch im Blauen fliegen Fahnen … Blaue Fahnen nach Berlin« (Min. 65:30); danach wird wiederholt: »Sichres Deutschland, schläfst Du noch, dürr und bleich …Wach auf, du Deutsches Reich! Wach auf, du Deutsches Reich!« (Min. 68, zuvor Min. 45:30 und erneut Min. 136:30  –  vollständig nachgewiesen im Programmheftchen der Inszenierung). 71 Das war in Schillers Wilhelm Tell Tells Antwort auf Stauffacher: »Verbunden werden auch die Schwachen mächtig« (Wilhelm Tell, I.3); in Murx den Europäer sang es zuvor aus dem Heizkessel  /  Feuerofen: »Brüder zur Sonne zur Freiheit« (Min. 123). 72 Darauf bestand Büchmann für die von ihm versammelten Geflügelten Worte, vgl. Benninghoff-Lühl: Figuren des Zitats, S. 142, S. 141−143 (dort auch weitere Literaturangaben). 73 Klaj: Friedensdichtungen, S. 15; vgl. Harsdörffer  /  Birken  /  Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht, I, S. 22; Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim= und Dicht=Kunst, mythologisch-allegorischer Anhang, S.  106. Das ist wohl selbst ein Fall von Zitat im Modus des Hörensagens – der Fama des Vergil (Aeneis IV, Z. 173ff.). 74 Das gilt auch ur­he­ber­recht­lich: Vgl. Sciaroni: Das Zitatrecht, S. 67f.; Benninghoff-Lühl: Figuren des Zitats, S. 63. 75 Eine singt (Min. 43): »Ich schenk mein Herz nur dem allein;  /  Dem ich das Höchste könnte sein, / Der mich gewinnt, der mich erringt, / Der mir zu Füßen liebend sinkt! / Ich schenk mein Herz nur einem Mann, / Dem ich in Liebe gut sein kann, / Den ich ersehn, den ich begehr, / Ob er nun Knecht oder König wär«. Das ist Zitation aus der Operette »Die Dubarry« (5. Akt, Musik: Karl Millöcker, 1879; Text: Paul Kneipler); der Film von Ernst Lubitsch 1919 machte Pola Negri in der Titelrolle international bekannt. 76 Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 170. Darin mag Scheerbarts Zweizeiler »Gemeinplatz« anklingen: »Ich lobe mir die Freiheit auf den Gassen, / Jedoch das Weib soll man zu Hause lassen« (Scheerbart: Katerpoesie, S.  34), wie es mit dem (nicht zitierten) Vers »Banalität ist jeden Bürgers Zier« in Kontakt tritt zum »Menschenbewußtsein« des neologischen »Herrn Biedermaier« [s. o. Fn. 66]. Auch ein anderes Diktum, das wohl jedes 69

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finität von tiefschürfenden Le­bens­wahr­heiten und absoluter Banalität«.77 Auch das jeweils Nicht-Aktualisierte, das vielleicht nicht einmal gemeint ist, tritt in andere Re­la­tio­nen, wie etwa »Das Ende ist der Anfang jeden Endes. / Der Anfang ist das Ende jeden Anfangs. / […] / Jede Frau hat eine Schürze. / Jeder Anfang hat sein Ende« mit der »Wurst«, die »zwei« hat,78 ›im Hintergrund‹, der niemandem zu­ge­rechnet werden kann, der von niemandem verantwortet wird. Das Gerücht ist insofern selbst­referentiell, als es über seinen jeweiligen Sprecher, der es jetzt sprechend trägt, ohne dass es ›seine‹ ›eigene‹ Rede würde, hinaus auf das Medium verweist, das es ist. Im »Hin­ter­grund« der jeweiligen Rede »gibt es eine irgendwo begonnene und sich im Irgendwo verlierende Kette von anonymen Sprechern«, ein »[virtuelles] Geflecht«,79 auf das die jeweilige Nachricht als Medium seiner Bildung und Übertragung angewiesen ist. »Im Gerücht«, so Neubauer, »spricht die ab­we­sende Menge; sichtbar wird sie nur in der Allego­rie«. »Gerade auf der räumlichen Nichtpräsenz der anderen beruht ja das Hörensagen, das Medium des Gerüchts. Es zitiert immer die, die momentan nicht da sind«. »Nie war jemand dabei«,80 nie­mand ist der Autor des Gerüchts, das als Fama personifiziert wird, vielmehr drängt das Sprechen ›von Hörensagen‹ als »Zitation mit einer Lücke«, der Lücke des entzogenen Ursprungs, wie­der­ ho­lend die Quelle der Rede, die diese verantworten könnte und müsste, stets weiter zurück. Es ist die »Paradoxie des Gerüchts«,81 dass es sich in der einzelnen Nachricht und im Munde des je­wei­li­gen Sprechers realisiert, ohne dass dieser der des vielzüngigen Hörensagens sein könnte; »immer, wenn sie [fama] dingfest gemacht ist, ist sie schon verstummt«.82 Wo das Hörensagen, ein »[vir­tuelles] Geflecht«, an allen Orten und ortlos,83 das

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Kind kennt: »Pfui! / Hat gelogen / Hat betrogen / Hat die Kuh am Schwanz gezogen«, das in Murx den Europäer (Min. 100) rezitiert wird, ist als Zitat aus Schwitters Merzprosa, den »Märchen von Hähnchen, Scheuchen und anderen Paradiesvögeln« in Die Märchen vom Paradies nachzuweisen (S. 16f.). So der Lyrik Kalender vom 1.1.2008 im Deutschland-Funk. Diese stellt ein Exempel für Parodien von Parömien durch Addition [s. o. Fn. 28], während Schwitters vor allem substitutiv vorgeht. Auch die erste dieser Banalitäten, »Fliegen haben kurze Beine«, steht im Hintergrund in Verbindung mit dem (Min. 64:30) rezitierten »Fliege, fliege, kleine Fliege! / Fliege, fliege in die Wiege! / Siege! Siege!«, auffindbar als »Fliegenlied« von Paul Scheerbart. Scheerbart: Katerpoesie, S. 30. Dies »gibt dem Gerücht seine merkwürdige Autorität«. Neubauer: Fama, S. 36. »Gerücht« ist »das, von dem man sagt, daß es alle sagen«. Ebd., S. 13. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 62. Ebd., S. 43. Ebd., S. 36. »Mit ihren ungezählten Sätzen, Wörtern und Lauten breitet sie [die griech. pheme] sich gesichtslos über ›Hör‑ und Wiederholungskanäle im ganzen sozialen Körper‹ aus. So entsteht ein immer wieder erneuertes und sich selbst erneuerndes System von Wiederholungen«. Ebd., S. 40.



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anonyme Ge­mur­mel an/ab-wesender Sprecher jetzt und hier im Munde eines jeweiligen Sprecher aktualisiert ist, ist es als das Medium des geflügelten sich selbst beflügelnden Gerüchts je schon figurierend verstellt. Die Vorführung des exzitierenden Charakters der Rede in Murx den Europäer macht mit-›hör‹bar, was keine Stimme mit Gesicht ver­ge­gen­ wärtigen kann, sondern figurierend je verstellt wäre, das Gemurmel, das jeder Rede voraus­ge­ht, und an das alle Reden ›von etwas‹ und alle identifizierbaren Stimmen sich multiplizierend überlagernd sich verlieren müssen. Ovids Metamorphosen gibt mit dem »Haus der Fama« eine nicht-personale Figuration des Gerüchts und damit jenes anderen Raumes anderer Zeiten, aus dem die zitierend-exzitierende Rede in Murx den Europäer jeweils zukommt: »tausend Zugänge gab sie dem Haus und unzählige Luken, / keine der Schwellen schloß sie mit Türen; bei Nacht und bei Tage / steht es offen, ist ganz aus klingendem Erz, und das Ganze  /  tönt, gibt wieder die Stim­men und, was es hört, wiederholt es. / Nirgends ist Ruhe darin und nirgends Schweigen im Hause. / Aber es ist kein Geschrei, nur leiser Stimmen Gemurmel [murmura], / wie von den Wogen des Meeres, wenn einer sie hört aus der Ferne,  /  oder so wie der Ton, den der letzte Grollen des Donners  /  gibt, wenn Jupiter schwar­zes Gewölk hat lassen erdröhnen.  /  Scharen erfüllen die Halle; da kommen und gehn, ein leichtes Volk, und schwirren und schweifen, mit Wahrem vermengt des Gerüchtes / tausend Erfindungen und verbreiten ihr wirres Gerede. / Manche tragen dem Nächsten es weiter, das Maß der Erdichtung / wächst, und es fügt ein Jeder hinzu dem Gehörten«.84

Dieser »Ort des anonymen Geredes«, ein »Resonanz­raum von amorpher Gestalt«85, ist, so Ovid, »kein Ort der Menschen«. Es ist ein Schall-Raum, in dem Hall und Widerhall sich multiplizieren und sich überlagern, in dem die Reden, auch wenn sie durch Menschen-Münder gehen, eingeholt werden vom Ge­mur­mel, murmura, wie ein letztes Grollen von Gewölk oder Wellen, vom Geräusch, das die Rand-Zone jedes Etwas-Sagens bildet und jedes begleitet  –  ›in seinem Innern‹ sich wölkend. Das Mehr an Hinzufügungen, »das Maß der Erdichtung  /  wächst, und es fügt ein Jeder hinzu dem Gehörten« (Ovid), das ist Weniger an autorisierter oder autorisierbarer Botschaft, ist Meer. Mit dessen Brandung, der der mur­ mu­ra an den Bühnenrand, setzt das theatrale Geschehen von Murx den Europäer ein, ohne einen An­fang zu setzen und (etwas und sei es sich selbst) einzusetzen. Die ehrwürdige Frage ›Wer spricht?‹ entzieht Blanchots bereits eingangs zitiertes Diktum jener Stimm‑ und Sinn-sichernden Beantwortbarkeit, die 84 85

Ovid: Metamorphosen, Liber XII, V. 39−59. Neubauer: Fama, S. 69.

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sie anzuweisen pflegte: »Was spricht, wenn die Stimme spricht? Es befindet sich nirgendwo, weder in der Natur noch in der Kultur, sondern es äußert sich in einem Raum der Verdopplung, des Echos und der Resonanz«.86 Es ist was jede jeweilige ›eigene Rede‹ ermöglicht, auch wenn diese, in diesem Raum der Sprache als dem aller nach-und wi(e)derhallenden Reden, die eigene nicht bleibt, sondern der unbeherrschbaren Möglichkeit eines unverfügbar anderen ausgesetzt ist. Das Gemurmel virtuell aller / aller potentiellen Reden, das ›im Hintergrund‹ jeder ›unserer‹ vermeintlich ›eigenen Rede‹ abwesend  /  anwesend mitmurmelt, ist eine Fülle, die von keinem Selbst kontrolliert wird, aus der ›unsere‹ ›eigene‹ Rede jeweils erregt (ex)-zitiert worden ist, und an die diese sich je schon und wieder verliert. Es ist jeder Stimme mit Gesicht radikal fremd: nicht-gesichtig. Dass aus diesem nie gegenwärtig gegebenen ›Raum‹ des Gemurmels die Reden, die Menschenmünder sprechen, also zitieren mögen, davon gibt Murx den Europäer eine Vorstellung. Jedes jeweilige Redeereignis, das ›etwas‹ sagt und ein ›ich‹, das spreche, installiert, macht seinen Hinter-Grund des anonymen Gemurmels, eines ›virtuellen Geflechts‹ des Gesprochenen, Wiederholten und Weitergesprochenen, das ihm als Raum der Möglichkeiten vorausgeht und das es begleiten wird, je vergessen. Die ›Stimme‹ ist excitiert aus dem StimmenGewirr, aus dem anonymen Gemurmel des Bereits-woanders-von-abwesenden-anderen-Gesagten, Wie­der­hol­ten und Weitergesagten, das jedem Sprechen vorausgeht, aus dem dieses stammt. Sie ist nachträglicher Effekt der Figur für die Produktivität der Sprache, kraft deren sie möglich ist. Jede jeweilige Ex-Zitation und deren Figuration spielt sich ab an der – und als Bearbeitung der Grenze zwischen intentionaler Erfülltheit und leerer Rede, Gerücht, Gemurmel, Geräusch, an der Grenze, von der Agamben spricht als der zwischen der Potentialität aller Reden und dem jeweiligen Redeereignis, das diese jeweils aktualisierend gelöscht und verstellt haben wird.87 Auf diese Grenze, die die Un / Möglichkeit intentionaler Rede bezeichnet, beziehen sich die greffes, die Zitationen als Pfropfungen, wie und als Parasiten, und bearbeiten diese ›problematische Grenze‹ zwischen einem Innern und einem Äußeren.88 Sie fügen sich hinzu, aber bleiben nicht Blanchot, zit. nach: Weigel: Prospekt zur Tagung »Kulturgeschichte der Stimme«. Agamben bestimmt »the already-said« »as the system of relations between the unsaid and the said in every act of speech, between the enunciative function and the discourse in which it exerts itself, between the outside and the inside of language«, »between language and its taking place, between pure possibility of speaking and its existence as such«, »between a potentiality of speech and its existence«. Agamben: Remnants of Auschwitz, S. 140ff. u. 144f. 88 Derrida: »This is not an oral footnote«, S.  196; Derrida: »Die Signatur aushöhlen«, S. 31. 86 87



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äußerlich an der konstitutiven Grenze des Inneren und Eigenen, lassen diese nicht unangetastet, sondern greifen in den vermeintlichen Innenraum der Stimme  /  der intentionalen Rede über, ziehen als Spur ›innen‹ ein, und werden von diesem Innern doch nie regiert. Was als Stimme spricht, tritt auf durch Excitation aus dem StimmenGewirr, aus dem Gewirr des irgendwo und nirgendwo un-verortbar Ge­ sprochenen und Weitergesprochenen, aus dem anonymen Gemurmel des ›already-said‹ (Agamben), das jedem jeweiligen Spre­chen vorausgeht. Dass und wie sie exzitiert nachträglich als Ursache einer Wirkung installiert wird, damit es sie gibt, führt auf der theatralen Szene der Stimmen Murx den Europäer ebenso vor, wie die den exzitierten Stim­men (so verkörpert sie auch scheinen) angehörende Instabilität. Murx den Europäer lässt auf der theatralen Szene der Stimmen und ihrer Verkörperungen vorkommen, was sich an der Grenze zwischen der eigenen Stimme und ihrem ausgeschlossenen Hintergrund ereignet: die Herkunft der vermeintlich eigenen Rede, der angesichtigen Stimme aus dem anonymen Gemurmel ›aller‹, aus dem ab- / anwesenden Hintergrund aller Reden und Stimmen.89 Dieser Ursprung, Riss und Ereignis, und dessen Figuration teilt sich mit als Instabilität, die der eigenen Stimme  /  Rede als fi­gu­ra­tive Unterstellung und als deren Fiktion eignet, im Verzögern der Installation von personae der Rede. Wie die Rede ›als Stimme‹ exzitiert: Anderswoher heraufgerufen, aufgepfropft und die persona dieses Einsatzes hervorgebracht wird, so ist sie doch anfänglich von dem begleitet, was ›Stimme‹ und ›Gesicht‹ vergessen gemacht haben, und was umgekehrt die ›eigene‹ Rede durchquert, die Stimme uneinholbar teilt, ihren vermeintlichen Ursprung ins Jenseits jeder Un  / Autorisierbarkeit entzieht, d. i. das Gewirr der vielen an/abwesenden Stimmen, Wiederholungen und Zitationen, das Gemurmel in ihren Hintergrund. Literatur Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive, New York 1999. Andresen, Carl: »Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Perso­nen­begriffs«, in: Zeitschrift für neutestamentliche Studien, 52 (1961), S. 1−39. Austin, John L.: How to do things with words: the William James lectures delivered at Harvard University in 1955, hg. v. James O. Urmson, Oxford u. a. 1992 (1962). Barthes, Roland: Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied, Berlin 1979. Benjamin, Walter: »Karl Kraus«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tie­de­mann  /  Herrmann Schwep­ pen­häuser, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1972−1986, S. 334−367. Benninghoff-Lühl, Sibylle: Figuren des Zitats. Eine Untersuchung zur Funktionsweise übertragender Rede, Stuttgart 1998. Böhme, Franz Magnus: Volksthümliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1895. Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York u. a. 1997.

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Vgl. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 30f.; Deleuze: Foucault, S. 16−17.

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»Eine Letter aus einer anderen Schriftart« Zur Poetik zeitgenössischer Transplantationsfiktionen am Beispiel von Ulrike Draesners Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)« und Sabine Grubers Roman Über Nacht Irmela Marei Krüger-Fürhoff

Welche poetischen Verfahren verwenden literarische Fiktionen, die die Entnahme und Verpflanzung menschlicher Organe nicht lediglich auf der inhaltlichen Ebene verhandeln, sondern nach ästhetischen Entsprechungen des Dargestellten suchen? Am Beispiel zweier zeitgenössischer deutschsprachiger Texte, die eine Herz‑ bzw. Nierenübertragung thematisieren, möchte ich untersuchen, wie Lyrik und Prosa in literarischer, also ›uneigentlichfigurativer‹ Rede die ›eigentliche‹, also ›materiell-fleischliche‹ Tatsache der Transplantation gestalten. Sowohl das Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)« der 1962 in München geborenen Ulrike Draesner als auch der Roman Über Nacht der 1963 in Meran geborenen Sabine Gruber1 arbeiten gezielt mit der Metaphorizität der Sprache und setzen auf mehreren Ebenen Verfahren der Übertragung und Verpflanzung ein. Wie im Folgenden deutlich werden soll, ist für Draesners Gedicht das Konzept der Pfropfung von zentraler Bedeutung, und zwar nicht nur im Rekurs auf Gartenbau und Chirurgie, sondern durch die Entwicklung literarischer Strategien der Pfropfung auf der Ebene von Worten, Satzzeichen und lyrischen Strukturen. Grubers Roman konzentriert sich dagegen auf Verfahren der Doppelung, Unterbrechung und Überbrückung, um die prekäre Erfahrung der Transplantation darzustellen; sie finden sich in einzelnen Begriffen und Figurenkonstellationen ebenso wie in der Gesamtstruktur des Romans und speisen sich aus so unterschiedlichen Feldern des Wissens wie Medizintechnik, Buchdruck und Mythologie. All diese Techniken gehören zwar zum vertrauten Arsenal moderner Literatur, erhalten aber in den beiden 1



Sowohl die deutsche als auch die österreichische Autorin sind Literaturwissenschaftlerinnen und wurden für ihre Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays bzw. Hörspiele mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

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literarischen Texten einen besonderen Stellenwert, weil sie das Thema der Organverpflanzung stilistisch umsetzen und auf diese Weise eine spezifische Poetik der Transplantation entwickeln.

I. »verpflanzungsgebiet«. Ulrike Draesners Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)« Ulrike Draesners literarisches Début, die 1995 veröffentlichte Lyrik­samm­ lung gedächtnisschleifen, enthält im »verpflanzungsgebiet« genannten Teil die Gedichte »autopilot« I-IV, die sich der Transplantationsmedizin widmen.2 Thematisiert werden die Stationen Verkehrsunfall, Notfallmedizin, Hirntod, Organentnahme, Organverpflanzung und Leben nach einer Transplantation, wobei die vier Gedichte diese Aspekte nicht streng chronologisch verhandeln und zudem aus unterschiedlichen Perspektiven gestalten, so dass neben eine distanziert beobachtende ›Erzähler‹-Position das lyrische Ich eines medizinisch bzw. pflegerisch Tätigen sowie eines Transplantationspatienten tritt. Ich beschränke mich im Folgenden auf das letzte Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)«, das als einziges neben der Nummerierung einen gesonderten Titel besitzt und in einer Anthologie ohne die anderen drei Gedichte veröffentlicht wurde;3 zum besseren Verständnis der Argumentation soll es vorab zitiert und mit Zeilenzählung versehen werden:

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pflanzstätte (autopilot IV)

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zitternder körper, verpflanzungsgebiet – im zitternden körper, meinem, schlägt dieses herz, fremdgänger, als ich am grab stehe (auslöser), zitternd über dem toten, über den erdpflanzen (angegangen), ein losgelöstes augenflattern, so heftig flimmern diese herzwände erkennen den ort wieder (ein segen die moderne medizin), unten das bodyasyl, armenhaus, erkennen sie wieder, davon hat keiner gesprochen, von diesen verkettungen, diesem herzreden, nadelspitzer elektrosturm, in meiner brust (pflanzstätte) angegangen ein toter, die grablege reicht was hinüber ein klammern reicht aus dem grab ein restleben (rhythmuserinnerung), nichts meßbares, diese plötzliche geschwindigkeitsneigung, meine,

Draesner: gedächtnisschleifen. In der überarbeiteten Neuausgabe befinden sich die Gedichte »autopilot I«, »autopilot II«, »autopilot III« und »pflanzstätte (autopilot IV)« auf S. 89−92; alle im Text verwendeten Zitate stammen von S. 92. Vgl. Deppert u. a. (Hg.): Die Worte zurechtgekämmt, S. 30.



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mir einflüsternder dämon, dolmetsch eines anderen lebens, haltlos, kammernzuckend, als ich weine an diesem grab da werde ich (herzmade) zum langsam zernagten, von innen, wirt eines toten.

Ohne den Begriff der Transplantation explizit zu verwenden, wird »pflanzstätte (autopilot IV)« unter anderem durch seine Position innerhalb der Gedichtreihe als Gang eines lyrischen Ichs zum Grab seines Herzspenders lesbar; es gestaltet eine imaginäre Zwiesprache zwischen drei Beteiligten, nämlich dem toten Spender, dem überlebendem Empfänger und dem weiterlebenden Herzen in dessen Brust. Die Tatsache, dass eine solche Begegnung im Rahmen einer deutschen Organverpflanzung kaum realisiert werden dürfte, weil die Organlieferanten anonymisiert werden, das Überleben der Transplantierten also nicht ohne weiteres auf einen individualisierten Tod zurückführbar ist, verleiht »pflanzstätte (autopilot IV)« den Charakter eines Gedankenexperiments,4 das im Modus der Fiktion Phantasien zu Wort kommen lässt, die im schulmedizinischen Diskurs keinen Ort haben. Zugleich erhält die entworfene ›Dreiecksbeziehung‹ etwas Allgemeingültiges, da das Gedicht eine geschlechtliche Zuordnung unterlässt und weder der Spender‑ noch der Empfängerseite eine spezifische Geschichte durch Hinweise auf Alter, ethnische Herkunft, soziale Einbettung oder persönlichen Charakter verleiht. Bereits der Titel »pflanzstätte« führt die Metaphorik des Verpflanzens ein, die in den ersten fünf Gedichtzeilen durch die Worte »körper«, »grab« und »erdpflanzen« mit zwei Bereichen verbunden wird, in denen Verfahren des Ein-, Aus‑ und Umpflanzens eine Rolle spielen: Das transplantierte Herz, das in den als »verpflanzungsgebiet« bezeichneten Empfängerkörper gewachsen ist, wird mit den »erdpflanzen« assoziiert, die im Boden des Grabs Wurzeln geschlagen haben (»angegangen«). Diese doppelt codierte Rede verknüpft nicht nur Leben (Grabbepflanzung  /  Überleben durch Organverpflanzung) mit Tod (Friedhof  /  Tod des Organspenders), sondern verleiht dem Gang auf den Friedhof eine kulturgeschichtliche Dimension, denn die Begriffe ›Transplantieren‹ und ›Verpflanzen‹ stammen aus Gartenbau und Pflanzenzucht und wurden von dort auf die Chirurgie übertragen, also ihrerseits in ein anderes Terrain, einen anderen Diskurs ›verpflanzt‹. Im hortikulturellen Kontext werden die beiden Begriffe bis heute gelegentlich für das Versetzen einer ganzen Pflanze in eine andere Umgebung verwen

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Vgl. Weigel: »Das Gedankenexperiment« sowie Wunschel  /  Macho: »Mentale Versuchsanordnungen«.

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det5 – also für die Tätigkeit, auf die Draesners Grabbepflanzung anspielt –, meist jedoch für die trennende und zusammenfügende Arbeit an einzelnen Pflanzenteilen im Sinne des ›Pfropfens‹.6 Dieses Verfahren, bei dem einer Zier‑ oder Nutzpflanze gezielt eine Verletzung zugefügt wird, um an dieser Stelle einen mit Knospen besetzten Teil einer anderen Pflanze einfügen zu können, bildet historisch gesehen das Modell für die Übertragung von lebenden Geweben oder Organen bei Tieren und Menschen; in beiden Fällen lässt sich der Erfolg funktional ermitteln durch die Produktion von Blüten und Früchten bzw. die Arbeitsleistung des verpflanzten Organs. Während in der Gartentechnik Strategien der Veredelung und Ertragssteigerung im Vordergrund stehen, geht es der Chirurgie um die operative Behebung eines lebensbedrohlichen Mangels durch ein Verfahren der Ersetzung.7 In allen Fällen bleibt die Gewaltanwendung der erzwungenen Integration fremden ›Biomaterials‹ durch vernarbte Oberflächen sichtbar; bei der Organverpflanzung kommen Probleme der chronischen Immunabwehr und ihrer pharmakologischen Eindämmung hinzu, so dass die Inkorporation nie vollständig gelingt. Vor diesem Hintergrund kann Draesners figurative Rede als Kritik medizinischer Praktiken verstanden werden, und zwar nicht nur – wie Anne-Rose Meyer argumentiert –, weil in ihnen der menschliche Körper »auf einen fleischlichen Nährboden« reduziert wird, »in den sich Organe mühelos wie Blumen einpflanzen lassen«,8 sondern weil der auf den ersten Blick so harmlos erscheinende Rückgriff auf den Gartenbau die Agrartechnik des Pfropfens evoziert und damit auch an Verletzungen erinnert. Draesners Engführung von gärtnerischer Grabpflege und humanmedizinischer Operationstechnik zielt also nicht auf eine Naturalisierung chirurgischer Verfahren, sondern stellt diese in den größeren Kontext einer auf Fragmentierung basierenden Züchtung und Zurichtung von Pflanze, Tier und Mensch, in dem kultureller Fortschritt und individuelles Überleben ohne Gewalt und Schmerz nicht denkbar sind. Die Wendung »in meiner brust (pflanzstätte) angegangen / ein toter« verweist zudem darauf, dass durch die Transplantationsmedizin Tod und Leben miteinander verquickt

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Die Encyclopédie erwähnt die Versetzung von Bäumen in andere Regionen aus ästhetischen Gründen (Lemma »Transplantation d’arbres (Agricult.)«) oder zum Zwecke ihrer Einführung in klimatisch benachteiligte Gegenden (Lemma »Transplantation (hist. nat. Bot. Jard.)«). Vgl. D’Alembert  /  Diderot: Encyclopédie, Bd. 16, S. 560 und Suppl.-Bd. 4, S. 966−976. Botanische Lehrbücher verhandeln das Pfropfen unter der Überschrift »Physiologie der Regeneration und Transplantation«. Vgl. Schopfer  /  Brennicke: Pflanzenphysiologie, S. 503ff. Auf den Aspekt der Ersetzung sowie der Depotenzierung des Subjekts durch technische Hilfsmittel (z. B. der Intensivmedizin) verweist das Titelwort »autopilot«. Meyer: »Physiologie und Poesie«, S. 114.



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werden; auf die unheimlichen und bedrohlichen Aspekte dieser Verbindung werde ich noch eingehen. Im Vordergrund der ersten Zeilen steht das physische Erleben des lyrischen Ichs – drei Mal ist von ›Zittern‹ die Rede, später unter Anspielung auf kardiologische Fachtermini von ›Flimmern‹  –, doch verweisen diese Sensationen nicht auf die Einheit eines fühlenden und sprechenden Subjekts, sondern markieren vielmehr dessen innere Zerrissenheit, weil sich der »[zitternde] körper« ebenso auf das transplantierte Ich wie auf das in ihm schlagende fremde Herz beziehen könnte (»zitternder körper […] im zitternden körper«). Der Eindruck der Heterogenität eines Wirtskörpers, der einen lebenswichtigen Fremdkörper beherbergt, wird durch die Apostrophierung des Transplantats als »fremdgänger« verstärkt, also durch einen Neologismus, dessen Bedeutung zwischen sexueller Untreue (›fremdgehen‹) und bedrohlicher Zeitbombe (›Blindgänger‹) angesiedelt ist und Assoziationen von mangelnder Loyalität und unkalkulierbarer Gefahr ins Spiel bringt. Die Wortschöpfung »fremdgänger« ist insofern kein Einzelfall, also sie strukturell anderen Komposita des Gedichts wie »herzreden«, »elektrosturm« und »geschwindigkeitsneigung« ähnelt. Draesners Strategie, die innere Verunsicherung des lyrischen Ichs durch ungewöhnliche Verbindungen vertrauter Begriffe darzustellen, die dadurch neue und in sich changierende Semantiken erhalten, lässt sich als ›Wort-Pfropfung‹ deuten. Damit aber bezieht sich das in der ersten Gedichtzeile genannte »verpflanzungsgebiet« nicht allein auf den transplantierten Körper und das neu bepflanzte Grab, sondern in einer autoreflexiven Wendung auch auf das Gedicht selber, in dem eine Poetik der ›gepfropften Rede‹ entworfen wird, die mit Strukturanalogien zwischen sujet und Sprachmaterial arbeitet. In der sechsten Gedichtzeile verlagert sich die Perspektive vom fühlenden Ich (»als ich am grab stehe«) zum eingepflanzten Herzen, das eine gewisse Unabhängigkeit von seinem Träger erlangt (»so heftig flimmern diese herzwände / erkennen den ort wieder«): Das Herz wird mit eigener Erinnerungsfähigkeit ausgestattet und erkennt  –  in einer phantastischen Wendung – das Grab und seinen verstorbenen Herkunftskörper. »pflanzstätte (autopilot IV)« spielt mit der Vorstellung, der Körper, ja jedes seiner Teile besitze ein eigenes Gedächtnis und zudem die Fähigkeit zur eigenständigen Kommunikation. Das »herzreden«, das unter einem EEG als »nadelspitzer elektrosturm« erkennbar wäre, kann sich an den Toten wie auch das überlebende Ich richten und ebnet den Weg für eine erneute Verschiebung der Perspektive in den Zeilen 12−15, in denen der  –  im wörtlichen und übertragenen Sinne – herzlose Leichnam sich auf doppelte Weise manifestiert: Er ist pars pro toto in Form des Herzens als ganzer im Empfängerkörper anwesend (»in meiner brust (pflanzstätte) ange-

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gangen / ein toter«) und scheint in einer unheimlichen, an Wiedergänger und Gespenster erinnernden Geste das Grab zu verlassen und den neuen Herzträger zu bedrohen (»die grablege reicht was / hinüber ein klammern reicht aus dem grab  /  ein restleben (rhythmuserinnerung)«). Natürlich sind alle diese Vorgänge »nichts messbares«, also der modernen Medizin nicht zugänglich (»davon hat keiner gesprochen, von diesen verkettungen«), doch verdeutlichen sie eine Art Nach-Leben des toten Spenders im Herzen und damit im Zentrum des transplantierten Subjekts. Die Figur des Nach-Lebens besitzt im Kontext der Transplantationsmedizin verschiedene Aspekte: Sie umfasst die Ungleichzeitigkeit zwischen Hirntod und Restkörpertod auf Seiten des Organspenders, sie umschreibt die Tatsache, dass Transplantierte das Versagen einzelner Körperbestandteile über-leben und damit im gewissen Sinne ihren eigenen Tod, sie benennt die von Angehörigen häufig als Trost empfundene Hoffnung, mit dem gespendeten Organ lebten Teile des Verstorbenen weiter, und sie umreißt die vor allem in der Populärkultur verbreitete Auffassung, verpflanzte Organe oder Extremitäten besäßen ein Eigen-Leben, das zu Persönlichkeitsveränderungen des Empfängers führen kann.9 Durch die Transplantationsmedizin wird die zuvor meist als ungebrochen entworfene Chronologie des Empfängerlebens aufgesprengt, da das verpflanzte Organ ein anderes Alter ›besitzt‹ als der aufnehmende Körper. Zwar hat aus medizinischer Sicht jedes Organ ein eigenes biologisches Alter, so dass die Vorstellung eines altershomogenen Körpers auch unabhängig von Transplantationen obsolet ist, doch führen  –  mit Roberto Esposito gesprochen – die Vorstellung einer Suspendierung des Körpers im Hinblick auf seine eigene Dauer10 und die transplantationschirurgischen Momente der Unterbrechung, Verdoppelung und inneren Aufspaltung kulturell zu Verunsicherungen, denen die Literatur Ausdruck verleiht. Die letzten Zeilen des Gedichts konzentrieren sich ähnlich wie die Eingangszeilen auf die Position des lyrischen Ichs (»als ich weine an diesem grab«), allerdings ist dieses Ich grundsätzlich verändert, weil es von innerer Fremdheit gekennzeichnet ist. Während die Wortwahl »dolmetsch / eines anderen lebens« noch die Möglichkeit eröffnet, dass das eingepflanzte Herz zwischen zwei Trägern und deren Lebensentwürfen vermittelt bzw. ›übersetzt‹, betont die Wendung »mir einflüsternder dämon« eher den Aspekt der Fremdsteuerung. Der Gang zum Grab des Spenders wird zum »auslöser« für die Erfahrung, dass das sprechende Ich durch die – aus medizinischer Sicht vermutlich erfolgreiche – Herztransplantation nicht nur einem Verstorbenen

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Vgl. Krüger-Fürhoff: »Geraubt, verschenkt, gespendet«. Vgl. Esposito: Immunitas, S. 208.



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zu Dankbarkeit verpflichtet ist, sondern – in einer beunruhigenden Form unfreiwilliger Inkorporation – »zum langsam / zernagten […] wirt eines toten« wird. Die Auffassung, Tote hätten durch Erinnerung oder religiöses Gedenken ein Gastrecht (»wirt«) unter den Lebenden, wird in Draesners Gedicht also auf die körperliche Ebene übertragen; dies schließt insofern an die Metaphorik des Pfropfens an, als der mit einem Pfropf versehene Pflanzenteil im Gartenbau (wiederum metaphorisch) als Gastgeber bezeichnet wird. Allerdings vermittelt die Wendung »zernagten« in Verbindung mit der Wortschöpfung »herzmade« die beängstigende Vorstellung einer ›am Herzen nagenden Made‹, also eines durch Parasiten verursachten Verrottens von Innen heraus. Damit erinnert »pflanzstätte (autopilot IV)« nicht lediglich an die eigene Sterblichkeit, sondern gestaltet die konkrete Erfahrung der Anwesenheit des Todes im eigenen, lebendigen Inneren. Die semantische Doppeldeutigkeit, die zwischen dem deutschen Substantiv ›Made‹ und dem Partizip des englischen Verbs ›to make‹ entsteht – »herzmade« kann sich laut Bettina von Jagow und Florian Steger nicht nur auf ein Organ beziehen, das dem tödlichen Verfall preisgegeben ist, sondern auch auf einen Menschen, der durch ein transplantiertes Herz neu gemacht wurde11 – lässt sich als weiterer Bestandteil einer Poetik der Pfropfung verstehen, die (ähnlich wie im Neologismus »bodyasyl«, Zeile 8) über Sprachgrenzen hinweg operiert und durch changierende Bedeutungen auf die veränderte Identität von Transplantierten verweist. Auf stilistischer Ebene vollziehen verschiedene Verfahren die physische und psychische Spaltung und Vervielfältigung des Subjekts,12 aber auch die ins Schwanken geratene Abgrenzung zwischen Spender und Empfänger nach. Dazu gehören die zahlreichen in Parenthesen gesetzten Worte, die sich nicht vollständig in den Sprachfluss integrieren, sondern typographisch als Einfügung sichtbar bleiben; zugleich könnten sie auf jene Klammern verweisen, die während der Operation den Brustkorb von Spender‑ und Empfängerkörper offen halten. Die meisten eingeklammerten Worte sind als poetische Begriffe für medizinische Vorgänge lesbar  –  »(auslöser)«, »(angegangen)«, »(pflanzstätte)«, »(rhythmuserinnerungen)«, »(herzmade)«  –, doch gibt es auch eine Passage  –  »(ein segen die  /  moderne medizin)«  –, die als allgemeines statement in die subjektive Perspektive des Gedichts transplantiert wurde; diese »hybride Konstruktion«, in der sich im Sinne Michail Bachtins »zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen«,13 kann als ironischer Kommentar der Hochleistungsmedizin Vgl. Jagow, von  /  Steger: »Bilder des Menschen«, S. 56. Vgl. Magenau: »Der Körper als Schnittfläche«, S.  16 und Braun: »Ulrike Draesner«, S. 4. 13 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 195. 11 12

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verstanden werden. Ähnlich wie die bereits erwähnten Begriffe, die aus verschiedenen Worten (bzw. Sprachen) zusammengepfropft sind, zeichnen sich auch die in Klammern gesetzten Worte durch Ambivalenzen aus, die einer vereindeutigenden Lektüre Widerstand leisten und statt dessen ihre ›mangelnde Passung‹ ausstellen. Dieses Verfahren ist zwar für moderne und zeitgenössische Lyrik nicht ungewöhnlich, erweist sich aber mit Blick auf das Thema der Transplantation als besonders ›passend‹. Eine weitere Strategie in »pflanzstätte (autopilot IV)« ist das wiederholte Übergreifen des Sinnzusammenhangs über das Ende einzelner Verszeilen hinaus. Dieses poetische Verfahren wird im Deutschen als ›Zeilensprung‹ oder ›Versbrechung‹ bezeichnet, im Französischen dagegen als ›Enjambement‹, also als Überschreitung, Überspannung oder Überbrückung. Ich weise deshalb auf die doppelte und in zwei entgegengesetzte Richtungen zielende Benennung des selben poetischen Verfahrens hin, weil mir die doppelte Bedeutung dem Inhalt des Gedichtes genau zu entsprechen scheint: Bei Draesner geht es ja gerade darum, dass das lyrische Ich die eigene Körperlichkeit nach der Transplantation als zerbrochen empfindet und zugleich auf unheimliche Weise als über die Zäsur des Todes hinaus mit einem fremden Leben verbunden. Die abschließenden Gedichtzeilen scheinen mit der Perspektive der Identitätsauflösung zu brechen, weil das sprechende »ich« die einzige Instanz ist, die sowohl die eigene Perspektive als auch das »herzreden« des Transplantats und das »klammern« des explantierten Leichnams zur Sprache bringen kann. Da sich das lyrische Ich jedoch in der Schlusszeile als »wirt eines toten« begreift, also als überlebender und todgeweihter ›Behälter‹ eines bereits Verstorbenen, kann von einer sicheren Sprecherposition weniger die Rede sein als von einer prekären Dynamik zwischen Destabilisierung und Selbstbehauptung. Draesners Gedicht »pflanzstätte (autopilot IV)« reflektiert also die Erschütterung, aber auch das Überleben des sprechenden Subjekts durch eine spannungsreiche Poetik der Unterbrechung, Pfropfung und Überbrückung.

II. »Buchstabentransplantation«. Sabine Grubers Roman Über Nacht Sabine Gruber entwickelt in Über Nacht14 sowohl auf der Makro‑ als auch der Mikroebene unterschiedliche poetische Verfahren, um das Thema der Transplantation zu gestalten.15 Der 2007 erschienene Roman schildert in 24 14 15

Gruber: Über Nacht. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text. Die österreichischen Medien weisen darauf hin, dass Gruber seit mehreren Jahren mit einer von ihrer Mutter gespendeten Niere lebt. Vgl.  z. B. http://kaernten.orf.at/magazin/ panorma/musik/stories/199315 (9.1.2008).



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alternierenden Kapiteln einige Monate aus dem Leben der freischaffenden Journalistin Irma in Wien und der Altenpflegerin Mira in Rom; erst am Ende des Romans werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt. Die allein erziehende Irma, die seit der Geburt ihres mittlerweile dreijährigen Sohnes Florian unter Nierenversagen leidet und auf Dialyse angewiesen ist, erhält eine Spenderniere; wenig später geht sie eine Liebesbeziehung ein und begibt sich im mehrfachen Sinne auf die Suche: nach ihrer neuen Identität als Transplantierte, nach der Herkunft ihres Organs und  –  unterstützt vom Lebensgefährten ihres homosexuellen Bruders – nach dem Vater ihres Sohnes, der in einer einzigen Liebesnacht in Rom gezeugt worden war und dem sie zumindest ein Foto seines ihm unbekannten Vaters geben möchte. Auch die kinderlose Mira, die mit großem Engagement auf der Männerstation eines römischen Pflegeheims arbeitet, ist auf der Suche: Sie leidet unter dem zunehmenden sexuellen Desinteresse ihres Ehemanns Vittorio und vermutet eine Geliebte; als sie erkennen muss, dass Vittorio seit längerer Zeit eine homosexuelle Affäre hat und  –  unter dem Vorwand, Kunden seines Geschäfts für gebrauchte Designermöbel zu treffen  –  regelmäßig in Schwulenkneipen verkehrt, schläft sie mit dem Neffen eines Patienten, der ihr auf aggressive Weise den Hof gemacht hatte, und kommt  –  wie das abrupte Ende dieses Erzählstranges suggeriert16 – bei einem durch ihre Unachtsamkeit verursachten Autounfall ums Leben. Beide Geschichten werden auf unterschiedliche Weise erzählt, die IrmaKapitel personal, die Mira-Kapitel in Ich-Form; da eine übergeordnete Instanz fehlt, bleibt es dem Lesepublikum überlassen, Bezüge zwischen den Erzählsträngen herzustellen. Wiederkehrende Motive  –  die Hinfälligkeit kranker bzw. alternder Körper, der homosexuelle Bruder bzw. Ehemann  –  und Personen, die in beiden Geschichten auftauchen  –  der Frauenheld Rino als Florians Erzeuger und Miras Liebhaber, Irmas Besuch in Vittorios Geschäft während ihres Romaufenthalts, der Pflegefall Lucchi, der Irma über Rinos zahlreiche Vaterschaften aufklärt und Mira die Augen dafür öffnet, dass ein verheirateter Mann auch einen Geliebten haben kann – erleichtern dies. Auch die Vornamen der beiden Hauptfiguren sind miteinander verbunden, denn sie sind Anagramme. Werden ›Irma‹ und ›Mira‹ als Bestandteile von ›Marianne‹ verstanden, so verweisen sie zudem auf Irmas Freundin Marianne, die weiterhin auf eine Spenderniere wartet; zugleich erinnern sie an die gleichnamige Heldin aus Grubers 2003 erschienenem Roman Die Zumutung, die ebenfalls auf Dialyse angewiesen war. Die Künstlichkeit der aufeinander bezogenen Namen stellt also zahlreiche intra‑ und intertextuelle Bezüge her. Die wichtigste, weil 16

»Ich erschrak, war zu weit links. Riß am Lenkrad. Ein Quietschen, ein Knall –.« (230)

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existentielle und bis ins Körperliche gehende Verbindung zwischen Irma und Mira bleibt unausgesprochen; es ist die in der Romanstruktur begründete Annahme, dass der Tod der einen und das neue Leben der anderen kausal miteinander verknüpft sind, Irma also Miras Niere erhalten hat. Das an sich nicht unübliche Verfahren, zwei Geschichten zu erzählen, die schließlich miteinander verknüpft werden, erhält durch die verpflanzte Niere also eine ungewohnte Materialität. Während die anfangs disparat erscheinenden Erzählstränge im Verlauf des Romans zunehmend als miteinander verbunden erscheinen, so dass der Eindruck von erzählerischer Kontinuität und innerer Stimmigkeit entsteht, dominieren innerhalb der beiden Einzelerzählungen Erfahrungen physischer und psychischer Zerrissenheit, ja diese nehmen in der MiraGeschichte sogar zu. Die Italienerin erlebt die erotische Missachtung ihres Mannes als Zweiteilung ihres Körpers: »Ich höre für Vittorio an den Schultern auf«. (205) Wenn Mira überlegt, »Mit mir teilte er den Tisch. Der von vornherein alles zweiteilt: Unterleib, Beine und Füße sind dem Blick entzogen. Und das Bett. In dem wir uns der Schwerkraft ergeben, damit uns die Liebe nicht überfällt« (207), dann greift sie auf die gegenläufigen Bedeutungen des Verbs ›teilen‹ zurück, das in der (indirekt evozierten) Redewendung ›Tisch und Bett teilen‹ körperliche Gemeinschaft und Teilhabe meint, im Falle der ›Zweiteilung‹ jedoch Aufteilung und Trennung. Die Reflexionen der Ich-Erzählerin zielen auf ihr zerbrechendes Liebes‑ und Eheleben, sie können aber auch als indirekte Vorwegnahme der Zerteilung durch Unfalltod und Organentnahme sowie der anschließenden ›geteilten‹ Körperlichkeit zwischen verpflanztem Organ und Empfängerkörper gelesen werden. Aus dieser Perspektive lässt sich die Verwendung des Verbs ›teilen‹ aufgrund seiner doppelten, einander widersprechenden Bedeutungen von körperlicher Vereinigung und Aufspaltung als literarischer Kommentar zu den verschiedenen Aspekten der Transplantation verstehen. In der Irma-Geschichte werden verschiedene Bildfelder miteinander verknüpft, um Entnahme, Übertragung und Integration eines Körperteils in einen neuen Organismus sprachlich nachzuvollziehen; der Roman Über Nacht verdeutlicht also die chirurgische Praxis der Übertragung, indem er mit rhetorischen Figuren der Übertragung arbeitet17 und den gezielten Einsatz von Metaphern durch den häufigen Wechsel der aufgerufenen Bildfelder herausstellt. So wird das transplantierte Organ als mechanisches Ersatzteil beschrieben (»Sie [die Niere] ist angesprungen« (35)), zwischen Eigentum und Liebesobjekt angesiedelt (»Du mein bestes Stück« (107)) oder über die Figur des Besitzwechsels (›aus zweiter Hand haben‹) mit 17

Vgl. Krüger-Fürhoff: »Vernetzte Körper«, S. 125.



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gebrauchter Kleidung assoziiert. (75) Immer wieder umkreist der Text den Begriff des Bruchs, der nicht nur die Fragilität des (als handwerklichtechnisch oder künstlerisch hergestellt entworfenen) Körpers betont, sondern auch die Unmöglichkeit, jemals zu einer (realen oder vermeintlichen) früheren Ganzheit zurückzukehren. »In Irmas Leben reichten die kleinsten Erschütterungen, und die reparierten Bruchstellen würden erneut auseinanderklaffen« (234), heißt es, und die Transplantierte erklärt: »Ich bin gebrochen. Nichts ist aus einem Guß. Wir umgearbeiteten Wesen« (230), wobei offen bleibt, ob sich das »Wir« auf die Gruppe aller Transplantierten bezieht, auf die innere Spaltung und Vervielfältigung von Irmas Körper mit der fremden Niere oder auf eine Gemeinschaft zwischen Spender‑ und Empfängerkörper. Die Erkenntnis der Leibgebundenheit der eigenen Existenz (»Wohin ich auch gehe, ich komme über meinen Körper nicht hinaus« (42)) führt dazu, dass auch andere Erfahrungen der Unterbrechung, Störung oder Deplatzierung mit Metaphern des Körpers beschrieben werden, beispielsweise wenn Irma die »Klingeltöne« des Telefons, die sie in die Phase des Wartens auf den erlösenden Anruf der Transplantationsklinik zurückversetzen, als »akustische Narben« (96) wahrnimmt. Ein weiteres Metaphernfeld wird durch Bezüge zwischen Diktat und Dialyse sowie Druckerkunst und Transplantation eröffnet. Wenn die Kulturjournalistin ihr Diktaphon für berufliche und zunehmend auch für private Aufzeichnungen nutzt, erinnert sie sich dabei an die Dialyse (z. B. 20, 163); diese Assoziation verdeutlicht, dass Irma in doppelter Weise auf technische Geräte angewiesen ist (bzw. war), die Körperfunktionen – nämlich das Memorieren von Worten im Gehirn und das Entgiften von Blut durch die Niere – externalisieren und ersetzen. Worte und Blut werden als gleichermaßen lebenswichtig entworfen; in beiden Fällen geht es um das Fließen, das Durchlaufen eines technisches Hilfsmittels und die Rückkehr zum eigenen Körper, sei es in Form des gesprochenen Wortes, das erneut gehört (und verschriftlicht) werden kann, sei es in Gestalt des Blutes, das gereinigt in den Kreislauf zurückkehrt. Neben der gesprochenen Sprache wird auch das gedruckte Wort mit medizinisch-technischen Verfahren der Ersetzung  von Körperfunktionen verknüpft: Für ihr Buch über aussterbende Handwerksberufe interviewt die Transplantierte unter anderem den  früheren Setzer Alois Zeder; dessen Bericht über sich wandelnde Gepflogenheiten der Druckkunst assoziiert Irma mit chirurgischen Eingriffen: Sie hatte Mühe, Zeders Ausführungen über Lettern und Typen, Zwiebelfische und Jungfrauen zu folgen. »Waren Buchstaben versehentlich in den falschen Setzkasten zurückgelegt worden, gelangte schon mal eine Letter aus einer anderen Schriftart in den neuen Satz«, sagte Zeder. »Heutzutage sind die Texte voll

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von Zwiebelfischen. Die in einer Schriftart nicht vorkommenden Sonderzeichen werden durch Sonderzeichen aus einer anderen Schriftart ersetzt.« Irma fiel das Wort Buchstabentransplantation ein. (80)

Der technisch mittlerweile überholte Bleisatz mit beweglichen Lettern, bei dem einzelne Buchstaben, Satz‑ und Leerzeichen aus einem Setzkasten geholt und zu Worten zusammengefügt werden, besitzt eine größere Materialität als der heute übliche digitale Satz; aufgrund der (durch die traditionelle Technik aufgerufenen) Körperlichkeit und der Logik der Ersetzung kann die versehentliche oder absichtsvolle Verwendung ›fremder‹ Lettern an Stelle derjenigen aus der ›eigentlichen‹ Schriftart als Metapher für die Verpflanzung von Organen fungieren. Dabei fällt auf, dass der interviewte Schriftsetzer nicht den Verfall der Buchdruckerkunst beklagt, sondern eher beiläufig den gegenwärtigen Pragmatismus einer ›liberalen Mischung‹ von Schriftarten schildert. Genau dies könnte der Ausgangspunkt für Irmas Assoziationen sein, denn der ›Zwiebelfisch‹ mag zwar ästhetisch irritieren, seine Lesbarkeit ist jedoch nicht eingeschränkt. Mit Blick auf medizinische Verfahren der Transplantation lässt sich Irmas Wortschöpfung somit als Ausdruck der Hoffnung verstehen, ein fremdes Organ möge den Körper so wenig verändern wie ein falscher Buchstabe die Lesbarkeit eines Wortes. Organverpflanzungen  –  so die Suggestion des Neologismus – sind vielleicht eines Tages keine existentiellen Eingriffe mehr, sondern zwar sichtbare, aber alltägliche Ersetzungstechniken, die die gegenwärtige Medizin ebenso ablösen wie der digitale Satz die Arbeit mit beweglichen Lettern. Angesichts von Irmas wiederkehrenden Phantasien, vom Organ des unbekannten Spenders in ihrer Identität verändert, beeinflusst, ja fremdgesteuert zu werden (z. B. 53, 58, 125, 145), erscheint die Wendung »Buchstabentransplantation« mithin als (an die Schriftkultur gebundene) Bewältigungsstrategie. Die metaphorische Verknüpfung von Wort‑ und Körper-Bestandteilen lässt sich auf Irmas Tätigkeit, aber auch auf den gesamten Roman übertragen. Die Journalistin schreibt nicht nur über ins historische Abseits geratene Berufe, sondern interessiert sich dabei besonders für biographische Brüche, eine Schreibhaltung, die bei ihrem Auftraggeber – der Arbeiterkammer – auf wenig Verständnis stößt: »Alle verbeißen sich in diese Normen von Einheit und Kontinuum, in diese pseudohafte Lückenlosigkeit, dachte Irma«. (123) Ihr Interesse am nicht Passenden, am nicht mehr oder noch nicht Integrierbaren kann auf die Schwierigkeit der Transplantierten bezogen werden, ihre eigene, durch das fremde Organ veränderte Identität als einheitlich zu erleben:



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Sie dachte daran, wie schwer es für sie war, ihr bisheriges Leben an das neue Überleben anzupassen. Vielleicht sollte sie sich nicht länger mit dieser unbekannten Vergangenheit beschäftigen, die ständig zu Kollisionen mit der Realität führte. Das Transplantat einer fremden Biographie paßte nicht in den realen Raum ihres Lebens, es hatte dessen Chronologie durchbrochen; wie beim Filmen, wo in den seltensten Fällen auf die Zeitenfolge des Drehbuchs Rücksicht genommen wird, weil die Terminpläne der Stars oder gewisse Drehorte dies nicht zulassen, so fühlte sich auch Irma wie aus der Linearität gefallen, als Flickwerk des Zufalls. (86)

Die Rede vom Durchbrechen der Chronologie und vom Fall aus der Linearität wird mit einem Verfahren der Filmproduktion analogisiert. Dass dabei Sachzwänge am Set erwähnt werden, die zu Filmmaterial mit ›falscher‹ Reihenfolge führen, ist allerdings überraschend, denn gerade diese Brüche werden ja durch Schnitt und Montage, also Verfahren der kopulierenden Aufpfropfung18 getilgt und nachträglich in eine ›ursprüngliche‹ Chronologie überführt. Weil die Zeitungs-Recherchen nach ihrem potentiellen Spender unter Unfallopfern ins Leere laufen, beschließt die Journalistin, das fremde Leben der Verstorbenen – Irma denkt sie inzwischen als Frau – in ihr eigenes zu integrieren, indem sie die Herkunft des Organs erfindet: »Vielleicht mußte sie es ausdenken, zu Ende denken, um den eigenen, zweiten Anfang zu finden«. (237) Über Nacht ist also auch ein Roman über die Entstehung eines Romans, und dieser erweist sich als Teil des Romans Über Nacht. Denn Irma gibt der imaginierten Spenderin, deren Biographie sie am Ende zu schreiben beginnt, in den letzten beiden Zeilen des Romans den Namen Mira, und der erste Absatz des zukünftigen Romans, den sie in ihr Notizheft schreibt, deckt sich mit den Eingangssätzen von Über Nacht. Dieser kluge Zirkelschluss wirft nachträglich ein neues Licht auf die zweisträngige Erzählkonstruktion.19 Zum einen sind beide Geschichten strukturell nun nicht mehr auf der gleichen Ebene angesiedelt, sondern die Mira-Handlung erscheint als Teil der Irma-Handlung und damit als Fiktion zweiten Grades. Irma verleiht der imaginierten Mira zwar eine eigene Geschichte, integriert deren Leben aber in die eigene Biographie, so dass die Mira-Handlung in einer Geste der Selbstermächtigung zum »›Organ‹ der Irma-Geschichte«20 wird. Die Lesbarkeit des Romans als ›einheitlicher‹ Text könnte also für die erfolgreiche Integration der ›fremden‹ Niere stehen. Zum zweiten kor Zu Filmschnitt und Montage als Verfahren der Pfropfung vgl. Wirth: »Original und Kopie«, S. 28f. 19 Alle Rezensionen loben die Raffinesse dieser Romanstruktur; vgl. z. B. Jandl: »Lebensmacht Todesmacht«, Kilb: »Die eine spinnt den Lebensfaden«, Person: »In welchem Organ steckt das ›Ich‹?«. 20 Winkels: »Körperschau«, S. 10. 18

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rigiert das Ende von Über Nacht den bisher vorherrschenden Leseeindruck von Gleichzeitigkeit, weil Miras Leben zwar parallel zu Irmas erzählt wird, in der ›Realität‹ jedoch unmittelbar vor Beginn der Irma-Geschichte beendet sein muss. Dazu passt, dass die Wiener Journalistin, als sie im römischen Pflegeheim mit Rinos Onkel spricht, im Schwesternzimmer ein Frauenbild sieht, das sie an das »schwarzgerahmte Photo einer jungen Frau« (181) im Geschäft für gebrauchte Designermöbel erinnert, dessen Besitzer durch »einen zweiten Ehering an seinem kleinen Finger« (ebd.) als Witwer kenntlich wird. Die verschobene Chronologie und die Integration des einen Lebens in das andere vermitteln dem Lesepublikum eine Erfahrung, die sich derjenigen von Transplantierten annähert: das Aufbrechen vermeintlich sicherer Kausalitäten und die Notwendigkeit, eine vertraut gewordene Lebensgeschichte neu zu ordnen. Entscheidend ist meines Erachtens, dass die Neukonstruktion von Sinn in erster Linie zwischen den beiden Handlungssträngen stattfindet, also – typographisch gesprochen – an den durch Leerzeilen und neue Kapitelnummerierungen gekennzeichneten Übergängen. Dieses Verfahren lässt sich als eine Poetik der Übertragung und des Dazwischen charakterisieren, die das Thema der Organtransplantation überzeugend auf eine formale Ebene überführt. Dass der Name der imaginierten Spenderin ein Anagramm ihres eigenen Vornamens ist, reflektiert Irma nicht. Der Text gibt eine andere Begründung für die Namenswahl, denn die Journalistin nähert sich dem Leben der Unbekannten über den Mythos der Schicksalsgöttinnen, also der (griechischen) Moiren bzw. (römischen) Parzen: »Moira, Mara, Maria, versuchte sie es. […] So könnte es gehen, dachte Irma. Ich werde mir meine Tote erfinden. Ich muß ihr das Leben zurückgeben. […] Mira, dachte Irma; sie tastete nach dem Transplantat. Ich nenne sie Mira«. (237f.) Irma verleiht ihrer Figur einen Namen, der von den Schicksalsgöttinnen abgeleitetet ist, obgleich sie selbst es ist, die als Erzählerin die Fäden in der Hand hält. Das spannungsreiche Spiel mit mythologischen Vorlagen ist damit jedoch nicht beendet, denn die Transplantierte interessiert sich vor allem für die dritten Parze, die üblicherweise den Lebensfaden abschneidet,21 weist ihr jedoch eine andere Funktion zu: »Atropos flickt«. (236) Diese freie Weiterführung des Mythos im Zeitalter der Hochleistungsmedizin besitzt jedoch interne Ambivalenzen, denn Irmas Atropos verknotet nicht zwei Lebensfäden miteinander, sondern fügt einen »Knopf im Lebensfaden« (237) ein. Zwar sind Knopf und Knoten etymologisch miteinander verwandt,22 doch bleibt das dadurch entstehende Metaphernfeld in sich uneins: Zum (gerissenen Roscher: Lexikon der Mythologie, Bd. 2.2, Sp. 3084−3103. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 505.

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bzw. neu verknüpften) Faden tritt das (geflickte) Gewebe, zum dauerhaft geschürzten Knoten der Knopf, der zwar verbindet, diese Verbindung aber auch lösen kann. Auf diese Weise wird die Haltbarkeit des ›geflickten Lebens‹ zwar behauptet, zugleich aber auch als vorläufig bzw. gefährdet ausgestellt. Ähnlich wie in Draesners Poetik gepfropfter Rede werden auch in Grubers Poetik der Übertragung und des Dazwischen die Momente des Nicht-Passenden nicht getilgt, sondern vielmehr sichtbar gemacht. Literatur Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979. Braun, Michael: »Ulrike Draesner«, in: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur 78. Nlg., 10 (2004), S. 4. D’Alembert, Jean Le Rond  /  Denis Diderot: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 16, Paris 1751−1780. Deppert, Fritz  /  Christian Döring  /  Hanne F. Juritz u. a. (Hg.): Die Worte zurechtgekämmt. Literarischer März 9. Leonce-und-Lena-Preis 1995, Frankfurt a. M. 1995. Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen, München 2000. Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004. Gruber, Sabine: Die Zumutung, München 2003. Gruber, Sabine: Über Nacht, München 2007. Jagow, Bettina von  /  Florian Steger: »Bilder des Menschen zwischen Selbstbestimmung und Fremdsteuerung: Ulrike Draesners autopilot-Gedichte«, in: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, hg. v. dens., Heidelberg 2004, S. 51−65. Jandl, Paul: »Lebensmacht Todesmacht. Sabine Grubers unsentimentaler Roman ›Über Nacht‹«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.3.2007, S. 27. Kilb, Andreas: »Die eine spinnt den Lebensfaden, die andere schneidet ihn ab. Das Ich und sein Double: In ihrem dritten Roman ›Über Nacht‹ spiegelt die österreichische Autorin Sabine Gruber zwei Frauenleben ineinander«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.2007, S. 7. Kluge, Friedrich  /  Elmar Seebold: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u. a. 2002. Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: »Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation«, in: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, hg.  v. Jürgen Barkhoff  /  Hartmut Böhme  /  Jeanne Riou, Köln 2004, S. 107−126. Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: »Geraubt, verschenkt, gespendet. Feindliche Übernahme und geheimnisvolle Verschwisterung in populärliterarischen Konstruktionen der Herztransplantation«, in: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, hg. v. Bettina von Jagow  /  Florian Steger, Heidelberg 2004, S. 99−113. Magenau, Jörg: »Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der neuesten ›Neuen Innerlichkeit‹«: Texte von Reto Hänny, Ulrike Kolb, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Thomas Hettche, Marcel Beyer und Michael Kleeberg«, in: wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder, 102 (1996), S. 12−20. Meyer, Anne-Rose: »Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling«, in: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch  /  A German Studies Yearbook, 1 (2002), S. 107−133. Person, Jutta: »In welchem Organ steckt das ›Ich‹? Sabine Gruber erzählt in ihrem Roman ›Über Nacht‹ von einer Nierentransplantation«, in: Süddeutsche Zeitung, 7.8.2007, S. 14. Roscher, W. H. (Hg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1894−1897. Schopfer, Peter  /  Axel Brennicke: Pflanzenphysiologie, Berlin u. a. 1999. Weigel, Sigrid: »Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur«, in: Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, hg. v. Thomas Macho  /  Annette Wunschel, Frankfurt a. M. 2004, S. 183−205. Winkels, Hubert: »Körperschau. Sabine Gruber hat einen so sinnlichen wie klugen Roman geschrieben: ›Über Nacht‹«, in: Die Zeit, 22.3.2007, S. 10.

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Wirth, Uwe: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung«, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg.  v. Gisela Fehrmann  /  Erika Linz  /  Eckhard Schumacher u. a., Köln 2004, S. 18−33. Wunschel, Annette  /  Thomas Macho: »Mentale Versuchsanordnungen«, in: Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, hg.  v. dens., Frankfurt  a. M. 2004, S. 9−14.

»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs Eckhard Schumacher

»›Be Here Now‹ – das kann ja alles heißen!« sagt der namenlose Erzähler auf der letzten Seite von Benjamin v. Stuckrad-Barres 1998 erschienenem Roman Soloalbum.1 Die Vermutung, »das kann ja alles heißen!« heiße hier nicht zuletzt ›das heißt ja gar nichts!‹, liegt nahe, drängt sich aber nur kurzzeitig auf. Der folgende Satz bestätigt das Gesagte nicht nur, indem er es wiederholt, in der Wiederholung öffnet er es zugleich auch für eine etwas andere Lesart. Auf »›Be Here Now‹  –  das kann ja alles heißen!« folgt die präzisierende Modifikation: »›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«.2 Am Ende des Romans steht damit die Kommentierung einer Formel, die, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, in mehrfacher Hinsicht als ein Pop-Signal zu lesen ist.3 Der Imperativ »Be Here Now« erscheint als ein Marker, der auf eine Form von Gegenwartsfixierung verweist, die für die Popmusik wie auch für ein umfassenderes Konzept von Pop gerade insofern charakteristisch ist, als sie divergierende Lesarten auf ambivalente Weise ineinander verschränkt. Dabei fungiert »Be Here Now« als ein Appell, der eine bestimmte Fokussierung zu verlangen scheint, in seiner Bestimmtheit dabei merkwürdig unbestimmt bleibt und sich doch nicht in Beliebigkeit auflöst, sondern eine bemerkenswerte, im Kontext von Pop häufig anzutreffende Form der Signifikation in Gang setzt. Sie produziert nicht zuletzt das, was Roland Barthes in einem anderen Zusammenhang Signifikanz nennt,4 und das 3 1 2



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Stuckrad-Barre: Soloalbum, S. 245. Ebd. Dieses Pop-Signal sollte nicht mit der Zuschreibung ›Popliteratur‹ verwechselt werden, die das Buch schon in den ersten Besprechungen auf sich gezogen hat. Im Folgenden geht es weder um die Frage, was ›Popliteratur‹ heißen könnte, noch darum, ob Stuckrad-Barres Roman als solche zu identifizieren wäre, sondern um ein Pop-Signal, das in Stuckrad-Barres Roman zitiert, reproduziert und reflektiert wird. In Die Lust am Text beschreibt Barthes Signifikanz als sinnliche Hervorbringung von Sinn, als Spiel zwischen signifiance, dem Prozess der Signifikation, der Zuweisung und

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hier, am Ende von Stuckrad-Barres Roman, im Blick auf Pop und mit einer in diesem Zusammenhang nicht untypischen Apodiktik reformuliert und reflektiert wird: »›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«.5 Schon diese vorläufigen Überlegungen, die sich an die Zitation und Kommentierung des Imperativs »Be Here Now« durch den Erzähler in Stuckrad-Barres Soloalbum anschließen, legen nahe, dass das ›Now‹ hier mehr ist als ein einfaches, einmaliges, auf einen spezifischen Moment bezogenes ›Now‹. Offensichtlich geht es nicht um einen singulären Augenblick, sondern um ein ›Jetzt‹, das sich – als sprachliches Zeichen, als imperativer Appell, als Adressierung6  –  verschieben, versetzen und vervielfältigen lässt. Mit der Aufforderung »Be Here Now« steht auch das »Now« in Anführungszeichen, wird auch das »Now« als ein Zitat, als ein zitiertes und rezitierbares ›Jetzt‹ angeführt. »Be Here Now« erscheint in dieser Hinsicht als eine Variable, die in dem Maß auf Verfahren des De‑ und Rekontextualisierens aufbaut, in dem sie diesen selbst ausgesetzt ist. Das »Now« wird durch Verfahren des Zitierens und Appropriierens aufgerufen und setzt dabei genau jene Prinzipien der Aufpfropfung und der Transplantation fort, auf denen es selbst aufbaut. Durch die Wiederaufnahme eines vorliegenden Musters, das in einen anderen Kontext versetzt und auch dadurch aktualisiert wird, lenkt »Be Here Now« die Aufmerksamkeit einerseits auf das, was sich in einem jeweiligen Kontext als ›Hier und Jetzt‹ präsentiert  –  und sei es dadurch, dass es als solches benannt und in seiner Vergänglichkeit ausgestellt wird. Andererseits verweist die Formel im Moment der Vergegenwärtigung auf etwas Vergangenes, auf eine Vergangenheit, die sie herbeizitiert und sich dadurch, durch Verfahren des Kontextwechsels, der Verschiebung und Überlagerung, des Zitierens und Parasitierens, zugleich von ihr entfernt. Wenn der Imperativ »Be Here Now« in diesem Sinn  –  als Marker für den Modus der Vergegenwärtigung, als performative Wendung, als Zitat – im Folgenden in verschiedenen Kontexten aufgesucht und in verschiedene Zusammenhänge versetzt wird, geht es weniger um die Frage,



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Produktion von Bedeutung, und der Erzeugung von jouissance, die er mit dem Modus der Vergegenwärtigung koppelt; vgl. Barthes: Die Lust am Text, S. 32, 90 u. 94ff. Barthes geht jedoch davon aus, dass »in einer Massenkultur« keine Signifikanz entstehen kann, vgl. ebd., S. 58f. Zur Signifikanz von Pop vgl. auch Westbam: Mix, Cuts & Scratches, S. 59: »Aber PopMusik muß auf jeden Fall eines sein: nämlich unglaublich signifikant«. Als Adressierung, die den Adressaten insofern buchstäblich zum Subjekt macht, als sie diesem mit der imperativen Anrede zugleich auch einen Ort zuweist: »Be Here Now«; vgl. dazu im Rückgriff auf Überlegungen von Althusser  /  Carpenter: Dotzler  /  Schüttpelz  /  Stanitzek: Die Adresse des Mediums, S. 11f.



»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs

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was genau »Be Here Now« jeweils heißen kann oder heißen will. Gezeigt werden soll vielmehr, wie mit dem Zitat und den mit ihm verbundenen Verfahren der Vergegenwärtigung neue Kontexte generiert und alte neu konfiguriert werden. Die kommentierte Zitation der Formel »Be Here Now« am Ende von Stuckrad-Barres Soloalbum bildet dabei nur einen Ausgangspunkt, der selbst eine Reihe von anderen Kontexten aufruft, sie herbeizitiert, sich aber auch in Zusammenhänge verwickeln lässt, die mit der Perspektive des namenlosen Erzählers zunächst nichts zu tun zu haben scheinen, die andere Zeithorizonte eröffnen als die, die mit der Formel »Be Here Now« im gegebenen Zusammenhang indiziert werden, und zugleich immer wieder auf jene Referenzhölle verweisen, die sich mit dem Schlagwort Pop verbindet. In den frühen 1970er Jahren wäre die Antwort auf die Frage, was »Be Here Now« heißen kann, vermutlich nicht grundlegend anders ausgefallen als in den 1990er oder 2000er Jahren. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte man die Formel auf das gleichnamige Buch, eines der einflussreichsten Bücher über Spiritualität, bezogen: Be Here Now ist der Titel eines 1971 veröffentlichten weltweiten Beststellers von Ram Dass,7 zuvor bekannt als Dr. Richard Alpert, Psychologieprofessor an der Harvard University, der Anfang der 1960er Jahre mit einem Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit Dr. Timothy Leary für Aufsehen gesorgt hat, in dem sie die Effekte von Psylocibin und LSD in Theorie und Praxis untersucht haben  –  mit dem Neben­effekt, dass sie nach diesem Projekt nicht mehr an der Universität forschen und lehren durften, aber zu einflussreichen Figuren der amerikanischen counterculture wurden.8 Das schon kurz nach der Veröffentlichung äußerst populäre Buch Be Here Now galt vielen – unter ihnen Elvis Presley9 – als praktischer Ratgeber auf dem Weg zum hipster mysticism, als das Handbuch für den Übergang zum yogi lifestyle, einen Übergang, oder, wie es im Buch

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Ram Dass: Be Here Now; die zur Zeit erhältliche Fassung des Buchs besteht aus vier aneinandergefügten, nicht durchgehend paginierten Teilen. Vgl. dazu die Ausführungen in ebd., Teil 1, sowie die Selbstdarstellung des ›Department of Psychology‹ der Harvard University: »Discredited by their lack of scientific rigor and failure to observe established research guidelines, Timothy Leary and Richard Alpert were both banished from academia, but that was far from the end of their public lives: both men went on to become icons of the psychedelic drug, counterculture, and human potential movement. Leary became famous for the slogan ›Tune in, Turn On, Drop Out‹: Alpert, under the name Baba Ram Dass, wrote a popular book called Be Here Now, described as a ›modern spiritual classic‹«. The Department of Psychology: »About the Department«. Das berichtet u. a. Barbara Leigh, die 1970−1972 eine Affäre mit Elvis Presley hatte und diese rückblickend mit dem Verweis auf die Formel »Be Here Now« erläutert: »When we were together I tried living in the now. The 70’s philosophy of ›Be Here Now‹ by Ram Dass which was a book that Elvis liked and so did I. It was a popular mantra of the day that professed to live only in the now«. Elvis News: »E-mail interview with Barbara Leigh«.

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heißt, eine »TRANSFORMATION«,10 die Richard Alpert gerade vollzogen hatte und im Buch unter seinem neuen Namen Baba Ram Dass schriftlich dokumentiert. Der Legende nach hat Ram Dass’ spiritueller Lehrer, der Yogi Bhagavan Das, auf ausnahmslos alle Fragen von Ram Dass mit »Be Here Now« geantwortet.11 Das Buch Be Here Now nutzt die Phrase durchaus auch in diesem Sinn, verwendet sie aber vor allem als eine Formel, durch die das »ETERNAL PRESENT«, auf die sie Ram Dass zufolge verweist, in der wiederholten Anwendung, etwa im Sinne des dem Buch beigefügten »COOKBOOK FOR A SACRED LIFE«,12 performativ produziert werden kann. Das Buch propagiert die Vorstellung, dass diejenigen, die ihr Leben auf die Vergangenheit oder die Zukunft ausrichten, nicht in der Gegenwart und damit genau genommen überhaupt nicht leben, da das aus der YogiPerspektive einzig wirklich zu nennende Leben nur in einer andauernden, aus der Ordnung der Zeit ausscherenden ›ewigen Gegenwart‹ stattfinden kann. Illustriert wird dieser Zustand des »ETERNAL PRESENT« durch eine zeigerlose Uhr, die ebenso wie die wiederholte Verwendung der Formel »BE HERE NOW« und auf ihr aufbauende Verhaltensmaximen vor Augen führen soll, dass das, was Ram Dass als »ETERNAL PRESENT« beschreibt, erreicht werden kann, wenn man realisiert, dass die Frage »WHAT TIME IS IT« wie die Zeiger einer Uhr zwar nahelegen, dass die Zeit fortschreitet, man selbst sich aber immer nur im Hier und Jetzt befinde: »HERE / RIGHT NOW / ALWAYS« (vgl. Abb. 1).13 1973, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs von Ram Dass, nimmt George Harrison, nach dem Ende der Beatles als Solokünstler aktiv, die Formel »Be Here Now« auf und verwendet sie im Rahmen seiner LP Living in the Material World für einen Song mit dem Titel »Be Here Now«.14 Dass er sich damit in jenen Kontext einzuschreiben versucht, den auch Ram Dass aufruft, legen schon die sphärische Stimme und die Gitarren‑ und Sitarklänge nahe, die genau jene Register ziehen, mit denen üblicherweise die Atmosphäre eines spirituell aufgeladenen ›Hier und Jetzt‹ aufgerufen wird.15 Der Songtext unterstreicht diese Lesart, indem er nicht nur atmosphärisch auf Ram Dass’ Be Here Now verweist, sondern es auch unübersehbar zitiert: »Remember, now, be here now / As it’s not like it was before. / The past, was, be here now / As it’s not like it was before«.16 12 13 14 15

Ram Dass: Be Here Now, Teil 1. Vgl. dazu auch ebd. Vgl. ebd., Teil 3. Ebd., Teil 2, S. 80. Harrison: »Be Here Now«. In diesem Fall mit der Hilfe von »LORD SRI KRSNA’S GRACE«, wie man im Kleingedruckten der Platte nachlesen kann, vgl. Harrison: Living in the Material World. 16 Harrison: »Be Here Now«. 10 11



»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs

Abb. 1: Ram Dass

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Abb. 2: George Harrison – Innencover

Das Foto auf dem Innencover der LP (Abb. 2) nimmt die Vorstellung eines »cookbook for a sacred life« noch auf andere Weise beim Wort. Zu sehen ist ein Bankett, drapiert vor einem Landhaus mit Bäumen, Autos und Kinderwagen, inszeniert als eine psychedelisch aktualisierte Version des letzten Abendmahls, die auch in dieser Hinsicht dem Appell »Be Here Now« eine nochmals andere Wendung gibt. Es ist aber ebenso möglich, Harrisons Song als eine Art melancholischen Nachtrag zum Ende der Beatles zu hören: »Now, Is, Here Now / And it’s not what it was before«.17 Diese Lesart drängt sich vor allem dann auf, wenn man bedenkt, dass die Phrase »Be Here Now« schon einige Jahre zuvor, 1969, im Rahmen eines Bed-Ins von John Lennon benutzt wurde. Und noch in einem seiner letzten Interviews teilt Lennon rückblickend mit: »the whole Beatles message was, as Baba Rama Ding-dong says, Be here now«.18 Es ist auch John Lennons wiederholter Verwendung der Formel zu verdanken, dass »Be Here Now« Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre nicht nur auf die Suche nach Spiritualität und den Zustand einer ewigen Gegenwart verwies, sondern schnell zu einem Synonym für das mit dem 17 18

Ebd. Lennon zit. nach Sheff: The Playboy Interviews, S. 70.



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Schlagwort Pop assoziierte Lebensgefühl wurde, zu einem Pop-Imperativ, dessen performative Kraft sich über ungezählte Pop Songs mit dem Titel »Be Here Now« auch ins 21. Jahrhundert übertragen hat. Dabei kann »Be Here Now« als Zeichen und als Generator für den auf Gegenwart, Mode und Vergänglichkeit setzenden Pop Appeal der sechziger Jahre fungieren, für das zeitlos-spirituelle Hier und Jetzt der Hippies, aber auch für die gegenwartsfixierte Diesseitigkeit des Punk Rock, die Abstraktionen des Acid Jazz oder die referenzenbeladene Materialität von postmodernem Rock’n’Roll. Die Folk-Rocker NRBQ haben ebenso einen Song mit dem Titel »Be Here Now« aufgenommen wie das japanische Jazz-Trio United Future Organization, der britische Breakbeat-Act Big Buddah oder die kanadische Sängerin Suzanne Little. Die bekannteste Verwendung der Formel »Be Here Now« im Kontext der Popmusik ist aber die der britischen Band Oasis, die 1997 eine LP  /  CD mit dem Titel Be Here Now veröffentlicht haben, auf dem sich auch ein Song mit dem Titel »Be Here Now« befindet.19 Im vorliegenden Zusammenhang ist der Titel von Oasis nicht zuletzt insofern relevant, als sich der Protagonist von Stuckrad-Barres Soloalbum explizit auf ihn bezieht, wenn er über die Bedeutung der Phrase »Be Here Now« reflektiert. Und nicht nur Stuckrad-Barres Erzähler, der sich als ein Oasis-Fan präsentiert und ausgiebig über die Band räsoniert, bezieht sich permanent auf Oasis. Der Roman verweist auch auf struktureller Ebene, in der Gliederung seiner Kapitel, durchgehend auf die Band. Die Titel der Buch-Kapitel zitieren, ohne dass dies hervorgehoben wird, Titel von Oasis-Songs, und das Inhaltsverzeichnis des Romans, das die Kapitel auflistet und den zwei Seiten einer Schallplatte zuweist, besteht entsprechend ausschließlich aus Oasis-Songtiteln.20 Darunter findet sich, zugeordnet zu Seite A, als Kapitel 11 auch »Be Here Now«. Das Kapitel beginnt mit dem Wort »Jetzt«: »Jetzt bin ich wieder zu Hause …«,21 wie in allen anderen Kapiteln geht es darüber hinaus jedoch nicht explizit um den als Kapitelüberschrift genutzten Songtitel. Im Text taucht der Titel der ein Jahr vor der Publikation des Romans veröffentlichten Oasis-CD Be Here Now erst im letzten, bereits angeführten 28. Kapitel »Rock’n’Roll Star« auf, aber auch hier geht es nicht, zumindest nicht nur um den gleichnamigen Song bzw. das Album: »›Be Here Now‹  –  das kann ja alles heißen! ›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«.22 Oasis: »Be Here Now«; im Folgenden werden Verweise, Zitate und Abbildungen mit der CD-Version von Be Here Now belegt. 20 Stuckrad-Barre: Soloalbum, S. 8f. 21 Ebd., S. 98. 22 Ebd., S. 245. 19

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Für eine Lektüre dieser Sätze lohnt es, sich zunächst weiterhin von ihnen zu entfernen und einige der Kontexte zu skizzieren, die die Band Oasis mit dem Titel, dem Cover und dem Artwork von Be Here Now wie auch mit den begleitenden Werbekampagnen und Promotionartikeln aufruft. Was zunächst wie ein Umweg erscheinen mag, wird weitere Bezüge zu Stuckrad-Barres Roman ermöglichen und auch darüber hinaus die zitierten Überlegungen zur Formel »Be Here Now« weiter perspektivieren.

Abb. 3: Oasis – Be Here Now

Das Cover von Be Here Now (Abb. 3) legt die Annahme nahe, dass »Be Here Now« auch in diesem Fall keineswegs nur auf ein unmittelbar gegebenes ›Hier und Jetzt‹ verweist, sondern zugleich frühere Verwendungen der Formel aufnimmt und fortsetzt. Der Verweis auf George Harrisons Be Here Now-Photographie durch die Inszenierung einer ländlichen Atmosphäre mit Landhaus, Bäumen und Auto ist dabei nur einer von vielen Aspekten, die das Cover in Szene setzt. Dass dabei auch vermeintlich nebensächliche Details eine Rolle spielen, zeigt sich etwa an der Uhr ohne Zeiger, die auf dem Oasis-Cover und in anderer, vergrößerter Form, als Detailaufnahme (Abb. 4), auch im Booklet der CD zu sehen ist. Sie erscheint nicht zuletzt als Reinszenierung jenes »ETERNAL PRESENT«, das Ram Dass Anfang der 1970er Jahre propagiert und durch eine Uhr ohne Zeiger bildlich dargestellt hat (Abb. 5).



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  Abb. 4: Oasis – Be Here Now Clock     Abb. 5: Ram Dass Clock

Neben der zeigerlosen Uhr findet sich auf dem Cover der Oasis-CD noch ein weiterer Hinweis auf ein ›Now‹, das mit dem Titel »Be Here Now« aufgerufen wird. Der Kalender, als Detailaufnahme nochmals im Beiheft der CD als Hintergrund für die Auflistung der Songs verwendet (Abb. 6), verweist auf ein ›Jetzt‹, das sich von der Vorstellung eines »ETERNAL PRESENT« auf signifikante Weise unterscheidet, auf ein spezifisches, eindeutig datiertes ›Jetzt‹. Das Datum, auf das der Kalender auf dem Cover von Be Here Now eingestellt ist, Donnerstag, der 21. August 1997, war das Datum der Veröffentlichung der Platte (vgl. Abb. 3). Genauer: Es war das Veröffentlichungsdatum in Europa. In den USA ist die Platte einige Tage später veröffentlicht worden, am 26. August 1997, mit einem entsprechend modifizierten Kalender auf dem Cover. »Be Here Now« kann entsprechend als Markierung der aktuellen Gegenwart und mithin der Aktualität der Veröffentlichung verstanden werden, als Verweis auf ein spezifisch datiertes, aber nur beiläufig als bedeutend herausgestelltes ›Jetzt‹. Dieses ›Jetzt‹ fungiert zugleich – zumindest implizit – auch als ein Zeichen der Vergänglichkeit, es erscheint als ein Datum, das dadurch gekennzeichnet ist, bald outdated zu sein. Diese Lesart wird aber nur insofern nahegelegt, als sie durch die Uhr ohne Zeiger zugleich dementiert, zumindest aber konterkariert wird. Der Chronologie des Kalenders steht mit der zeigerlosen Uhr der Verweis auf ein ›Now‹ entgegen, das die Ordnung der Zeit aufhebt und den Blick für die Vorstellung eines eternal present öffnet. Oasis führen auf diese Weise zwei Lesarten des ›Now‹ zusammen, deren Konvergenz der Pop-Theoretiker Jon Savage – wenn auch ohne Verweis auf Oasis – als ein wichtiges Kennzeichen von Pop begreift: »In its concentration on the moment, offering instant

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gratification and a glimpse of eternity at once, it provides a refuge from chronology, promising an everlasting present which has always been the hallmark of the teenage experience«.23 Im Fall von Oasis zeigt sich dabei nicht nur, wie »instant gratification« und »a glimpse of eternity« im Modus des »Be Here Now« zusammen fallen können, die Fokussierung auf ein vervielfältigtes ›Now‹ öffnet den Blick zugleich auch für jene historische Dimension, die Savage in der popspezifischen Fixierung auf die Gegenwart entdeckt: »Although it exists to heighten the present, pop is now saturated in the past«.24 Oasis führen vor Augen, dass »Be Here Now« immer auch auf eine Vergangenheit verweist, die aktualisiert und vergegenwärtigt, aber auch in ihrer Historizität ausgestellt werden kann. Dies geschieht wie fast immer im weiteren Kontext von Pop auch im Fall von Oasis durch das erneute Prozessieren von vorgefundenen Pattern, durch Praktiken des Zitierens, des Re-makes.25 Der Titel »Be Here Now« wird entsprechend nicht nur zur Markierung von zeitgebundener Aktualität oder eben, je nach Perspektive, zeitloser Ewigkeit verwendet, sondern erscheint zugleich als ein bereits kodiertes und vorbelastetes Zeichen, das immer wieder erneut de‑ und rekontextualisiert werden kann und auf dem Cover, im Rahmen der Werbemaßnahmen zur Unterstützung des Albums ebenso wie in der Musik von Be Here Now auch entsprechend vielfältig de‑ und rekontextualisiert wird. Nach dem enormen Erfolg der ersten beiden Oasis-Platten waren die Erwartungen gegenüber Be Here Now außergewöhnlich hoch. Wie das Cover nimmt auch schon die Werbekampagne für die Platte die im Vorfeld aufgekommene Spannung dadurch auf, dass sie den Titel der Platte, Be Here Now, auf das Datum der Veröffentlichung beziehen. Die begleitenden Werbemaßnahmen setzen dieses Prinzip weiter fort, indem sie es in verschiedenen Kontexten variieren. Am Abend vor der Veröffentlichung sendete BBC1 die Oasis-Dokumentation Right Here, Right Now, in den Tagen zuvor wurde die Platte zunächst mit Plakaten und Anzeigen beworben, in denen das ›Now‹ noch durch ein vorläufiges, aber nicht weniger imperativ formuliertes ›then‹ angekündigt wird: »Be There Then« (Abb. 7). Die Kampagne war durchaus erfolgreich: In den ersten vier Tagen wurden beinahe 700.000 Exemplare von Be Here Now verkauft, die Platte landete in 28 Ländern auf Platz 1 der Verkaufscharts.26 Ein Jahr später, 25 26 23 24

Savage: Time Travel, S. 9. Ebd., S. 4f. Vgl. dazu auch Schumacher: »Re-make  /  Re-model«. Vgl. zu diesen und weiteren im folgenden angeführten Informationen die offizielle OasisWebsite unter http://www.oasisinet.com; relativ verlässliche Informationen zu Be Here Now finden sich auch im Wikipedia Eintrag: »Be Here Now (album)«.



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Abb. 6: Oasis – Be Here Now Innencover

Abb. 7: Be There Then 

1998, wählten die Leser der Zeitschrift Q das Album auf Platz 13 der besten Alben aller Zeiten. Dennoch hat die Platte beinahe zur Auflösung der Band geführt. Auf der USA-Tournee, die Be Here Now unterstützen sollte, zeichnete sich ein empfindlicher Popularitätseinbruch ab, im Q Magazine rutschte die Platte in der Liste der besten Alben aller Zeiten schon ein Jahr später auf den weniger schmeichelhaften Platz 459, und bis heute bezeichnen selbst dezidierte Oasis-Fans die Platte als problematisch, deren ausufernde Intros und Outros, deren überproduzierte Songs und überladene Arrangements als Zeichen einer für andere nur noch bedingt interessanten Selbstbezogenheit aufgenommen wurden: »70 Minuten schädelsprengende Langeweile  […], mit 700 Gitarren, die immer und immer wieder dieselbe Wand mit derselben Tapete bekleben«, liest man in einem deutschen Weblog.27 Auch Songwriter Noel Gallagher weist einige Zeit nach der Veröffentlichung darauf hin, dass Be Here Now vermutlich nicht so erinnert werden wird wie Definitely Maybe, ihre erste Platte, oder

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Michael Seiler: »Oasis – Be Here Now«.

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(What’s the Story) Morning Glory, die zweite.28 Mit einer im Kontext von Pop typischen Geste, die auch durch den Imperativ »Be Here Now« unterstrichen wird, betont Noel Gallagher aber zugleich, dass der Titel Be Here Now alles in dieser Hinsicht relevante mitteilt: »It was great at the time of release. It fitted the music of the day perfectly even though it is not remembered well by non-Oasis fans nowadays«.29 Von diesen Entwicklungen weiß Stuckrad-Barres Protagonist, der namenlose Ich-Erzähler in Soloalbum, noch nichts. Für ihn ist Be Here Now die Musik des Moments, ein neues Album mit neuen Songs, die er soeben auf einem Oasis-Konzert erstmals gehört hat. Im Schlusskapitel befindet er sich auf einem Oasis-Konzert im Rahmen der Be Here Now-Tournee und sieht die Band live. Nach der Show geht er zum Merchandising-Stand um ein Band-T-Shirt zu kaufen: »Nach dem Konzert geht es direkt weiter. Erst das Bier, dann das T-Shirt kaufen, schön schlicht, nur das Logo drauf oder gerade mal der LP-Titel. ›Be Here Now‹ – das kann ja alles heißen! ›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«.30

Abb. 8: T-Shirt – Be Here Now Oasis: Definitely Maybe; dies.: (What’s the Story) Morning Glory. Vgl. Wikipedia: »Be Here Now (album)«. 30 Stuckrad-Barre: Soloalbum, S. 245. 28 29



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Aus dieser, in der dekontextualisierenden Lektüre bislang ausgeblendeten Perspektive wird deutlich, dass sich die eingangs zitierten und hier mit weiteren Kontextinformationen reproduzierten Sätze nicht nur auf den Titel des Songs oder der LP beziehen, sondern auch und in erster Line auf ein T-Shirt, auf dem nichts als »Be Here Now« steht. Tatsächlich sind derartige T-Shirts für die »Be Here Now«-Tournee von Oasis produziert und als offizielle Merchandising-Produkte bei den Konzerten verkauft worden (vgl. Abb. 8). Es ist also nicht nur der Titel des Albums, den der Erzähler mit den zitierten Sätzen kommentiert, sie beziehen sich vielmehr auf die fehlenden Kontextinformationen auf dem T-Shirt, auf das Fehlen des Bandnamens, auf die imaginierte Dekontextualisierung der »schön schlicht« auf ein T-Shirt gedruckten Formel »Be Here Now«. Die kann in diesem Fall »alles heißen«, weil die drei Wörter nicht mehr eindeutig auf die Band Oasis bezogen sind. Nur diejenigen, die Bescheid wissen, die Schrifttype erkennen und den weiteren Kontext erschließen können, sind in der Lage, den T-Shirt-Aufdruck »Be Here Now« mit Oasis zu verbinden und das T-Shirt als ein offizielles Oasis-Produkt zu identifizieren. Für alle anderen kann es »alles« heißen. Aus der Perspektive des SoloalbumErzählers erscheint diese mögliche Dekontextualisierung allerdings nicht als ein zu vermeidendes Problem, nicht als ein Fehler, er begreift sie vielmehr als den eigentlichen Clou dieses T-Shirts: »›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«. Ihn interessiert an dem T-Shirt nicht das vermeintlich eindeutige Signifikat, der Verweis auf die Oasis-Platte, ihn interessiert »Be Here Now« vielmehr als ein Signifikant, der nicht mehr exklusiv auf ein Signifikat zu beziehen ist, ihn interessieren die Effekte, die durch mögliche und seiner Lesart nach auch intendierte Kontextwechsel, Verpflanzungen, Versetzungen, Aufpfropfungen, entstehen können. Und ihn fasziniert dabei – zumindest in der hier vorgeschlagenen Lesart – die mit diesen Kontextwechseln verbundene Produktion von Signifikanz. Eine vorgefertigte, bereits mit einer Reihe von möglichen Bedeutungen oder Funktionszuweisungen beladene Formel wird aufgenommen, zitiert, wird aus einem vorgegebenen Zusammenhang herausgerissen und in einen neuen verfrachtet, einen Zusammenhang, der nicht nur offen für weitere Zusammenhänge bleibt, sondern diese selbst generiert, was im vorliegenden Fall auch insofern deutlich wird, als die Formel das, was sie bezeichnet, zugleich performativ produziert: Die Formel »Be Here Now« schafft immer auch das Hier und Jetzt, das sie benennt. Losgelöst von seinem vermeintlich angestammten Kontext, dessen Grenzen jedoch alles andere als klar sind, »schön schlicht« auf ein T-Shirt gedruckt, öffnet sich »Be Here Now« für neue Kontexte und, im Fall des spezifischen Mediums T-Shirts, das von verschiedenen Personen getragen

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werden kann, auch für neue Inhalte. Entscheidend aber scheint hier zu sein, dass die irritierende Indexikalität der Formel »Be Here Now« unabhängig davon, wer das T-Shirt wo mit welchen Absichten trägt, die Aufmerksamkeit fokussiert, das Ziel dieser Fokussierung aber weitgehend offen lässt, offen für weitere Verschiebungen und Rekontextualisierungen. Dabei wird die Möglichkeit, »Be Here Now« auf die jeweilige Situation, den je gegebenen Kontext zu beziehen, immer auch von der Möglichkeit überlagert, es als bereits kodiertes Zeichen zu lesen, das als solches auf seine eigene Geschichte verweist und so, nicht zuletzt, auch jenen Imperativ in Erinnerung ruft, der spätestens seit den 1960er Jahren zu einem Kennzeichen der Gegenwartsfixierung unter den Vorzeichen von Pop geworden ist. In diesen Sinn lässt sich die Formel als verschobene Wiederholung, als differentielle Zitation eines vorgefertigten Musters lesen, das in der vorliegenden Form – »Be Here Now« – sowohl seine mögliche Neueinschreibung in weitere Kontexte als auch sein eigenes Verschwinden impliziert, die Transformation eines ›Jetzt‹ in ein ›Gerade‹, ›Eben‹ oder ›Damals‹. Auch diese Transformation, dieser Umschlag von ›Now‹ zu ›Then‹, lässt sich am weiteren Kontext von Oasis’ Verwendungen der Formel »Be Here Now« studieren. Auf ihrer Amerika-Tournee im Jahr 1996 und im Rahmen von Festival‑ und Stadion-Konzerten zur Zeit der Produktion der LP Be Here Now wurde Oasis von der Photographin Jill Furmanovsky begleitet, die ihre Photographien ein Jahr später für eine Ausstellung und ein Buch zusammengestellt hat, die die Entstehungszeit von Be Here Now dokumentieren. Der Titel von Ausstellung und Buch lautet: Was There Then.31 Eine bereits 1996 veröffentlichte Videodokumentation der letzten Oasis-Tourneen trägt den Titel … There and Then.32 Es bedarf jedoch gar nicht der Archivierung durch Ausstellung, Ausstellungskatalog und Videodokumentation, um Be Here Now in die Dimensionen von Geschichtlichkeit und Musealität zu überführen. Oasis nutzen schon mit dem Album, in der Musik, in den Texten, auf dem Cover, jene gerade im weiteren Kontext von Pop verbreiteten Verfahren, mit denen das ›Hier und Jetzt‹ nicht nur als Zeichen von Vergänglichkeit, sondern auch als Verweis auf die eigene Historizität funktionalisiert werden kann. Sie zitieren, produzieren Re-makes, sie arbeiten mit Zeichen, mit Texten und Die ›fotographische Reise‹ erzählt nicht nur das ›Making of …‹ der LP, sondern auch das ›Making of …‹ des Titel »Be Here Now«, dokumentiert durch zwei Kreideaufschriften auf einer Tafel im Aufnahmestudio. Zunächst, zu Beginn der Aufnahmen, ist »Be Here Now« eine Anweisung, die Noel Gallagher notiert und, indem er sich neben die Tafel setzt, auch sogleich befolgt; nach Abschluss der Aufnahmen erscheint die Formel dann, bei gelöster Stimmung und mit entsprechend gelockertem Zugang zur Orthographie, schon in einer Vergangenheitsform: »Woz Dare Den«; vgl. Furmanovsky: Was There Then. 32 Oasis: … There and then. 31



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Bildern, mit Sounds, Melodien und Arrangements aus dem Arsenal der Pop-Geschichte, mit vorgefertigten Mustern, die in neue Zusammenhänge versetzt werden und so neue Muster ausbilden, die weitere Fortsetzungen nach sich ziehen. Auch der Titel »Be Here Now« präsentiert sich dabei als ein solches vorgefertigtes Muster, als eine vielfach vorbelastete PopFormel, als ein wiederverwendbarer Marker, der, während er auf eine je aktuelle Gegenwart verweist, zugleich auch vergangene Verwendungen der Formel und damit, weiter gefasst, die Vergangenheit von Pop aufruft und herbeizitiert, vergegenwärtigt und fortsetzt. Die Musik, die Texte und das Cover von Be Here Now sind mit derartigen Zeichen von Vergänglichkeit und Historizität geradezu übersät – der Kalender und die Uhr ohne Zeiger stehen in dieser Hinsicht keineswegs allein. Das Gebäude auf dem Be Here Now-Cover (Abb. 3) ist das Stock House in Aldbury, Hertfordshire, zur Zeit der Aufnahme, 1997, das Hotel eines renommierten Golf Clubs, früher, seit 1944, zunächst eine katholische Mädchenschule und anschließend, seit 1972, nach dem Bau des seinerzeit größten Swimming-Pools, ein Trainingscamp für angehende Playboy-Bunnies, ein Ort für legendäre Parties des Playboy-Magazines, und, eventuell auch deshalb, ein beliebter Aufenthaltsort von Keith Moon, dem Schlagzeuger von The Who, der, so will es die Legende, an seinem 21. Geburtstag im Jahr 1968 einen Lincoln Continental, oder, hier variieren die Angaben, einen Rolls Royce in den Swimming Pool des Holiday Inn Hotels in Flint, Michigan gefahren hat.33 Das ist jedoch nicht der einzige link zu dem auf dem Oasis-Cover im Pool versenkten Auto. Einen Rolls Royce dieser Ausführung hat John Lennon in den späten 1960er Jahren gefahren und auch das Kennzeichen des versenkten Rolls, SYD 724F, verweist in mehrfacher Hinsicht auf die Beatles. Es ist das Kennzeichen des Polizeiautos, das auf dem Cover der Abbey Road-LP der Beatles zu sehen ist, und es stellt damit auch einen Bezug auf das Abbey Road Studio her, in dem Oasis Be Here Now aufgenommen haben. Auch sonst scheint fast jedes Detail insofern auf einen anderen Kontext zu verweisen, als es aus einem anderen Kontext übernommen worden ist: Die Parkuhr, die im Pool neben dem halb versenkten Rolls Royce zu entdecken ist, spielt auf das Beatles-Stück »Lovely Rita« an, in dem es um Rita, die »meter maid« geht. Der weiße Fernseher, der das Be Here Now-Cover im Rahmen des Covers noch einmal abbildet und so eine klassische mise en abyme vollzieht (eine auch im Blick auf das Pfropfen bemerkenswerte Form), erinnert an einen 33

Einige der hier und im Folgenden angeführten Informationen finden sich verstreut im Netz, vgl. etwa The Easter Egg Archive: »Be Here Now (Oasis)«; Bennun: »Location: Stocks House«.

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weißen Fernseher in dem The Who-Film Tommy. Im Beatles-Film Magical Mystery Tour gibt es eine Szene, in der Ringo Starr genau so durch ein Teleskop kuckt, wie es Oasis-Songwriter Noel Gallagher im Hintergrund des Be Here Now-Covers tut. Und auch der eiförmig aufgeblasene Globus hinter dem Pool lässt sich in vergleichbarer Hinsicht als ein versetztes Zitat lesen, das jedoch nicht auf Pop-Marker aus den 1960er und 70er Jahren verweist, sondern auf einen aus den frühen 1990er Jahren, auf die auf dem Cover der ersten LP von Oasis, Definitely Maybe, abgebildete Weltkugel.34 Die Anspielungen auf die Pop-Geschichte, die Zitationen und verschobenen Wiederholungen vorgefertigter Muster, die auf der Ebene des Covers, des weiteren Artworks und der Promotion-Artikel zu beobachten sind, finden sich auch auf der Ebene der Musik und der Lyrics. »Every phrase a quotation, every tune a reminiscence«, beschreibt ein Kritiker die referenzbeladenen Songs von Oasis und das zentrale Prinzip der Songproduktion, das andere etwas weniger freundlich unter den Stichworten Plagiat oder Rip Off zu verbuchen suchen. Im Oasis-Song »Cigarettes & Alcohol« ist das Gitarrenriff offensichtlich von T-Rex’ »Get It On« übernommen, »Magic Pie« bedient sich bei »Cry Baby Cry« von den Beatles, in »Supersonic« ist das Gitarrensolo kaum von dem zu unterscheiden, das George Harrison bei seinem Stück »My Sweet Lord« vor Probleme stellte, weil man ihm vorwarf, es von einem Hit von The Chiffons, »He’s so fine«, übernommen zu haben. In »D’You Know What I Mean?«, dem ersten Stück auf Be Here Now, findet sich einer der seltenen Fälle, in denen Oasis einen Drumloop sampeln. Die Übernahme aus einem Hip-Hop-Track von N. W. A., der sich selbst dem Prinzip des Samplings verdankt, ist aber schon deshalb leicht zu überhören, weil eine andere Übernahme viel präsenter ist  –  das Stück arbeitet mit den gleichen Akkordfolgen wie der frühere Oasis-Hit »Wonderwall«. Das Intro von »Don’t Look Back In Anger« übernimmt die Melodie von John Lennons »Imagine«, während am Ende die Gitarre die Melodie von Mott the Hooples »All The Young Dudes« reproduziert, ein Stück, mit dem Oasis auch in »Whatever« arbeiten und, wiederum auf Be Here Now, in »Stand By Me«. »So mitreißend Oasis musizieren: sie geben erzkonservativen Rock ’n’ Roll. Sie kopieren die besten Momente von vierzig Jahren (englischer) Rockgeschichte und bauen sie immer wieder neu zusammen«, schreibt Der Spiegel unter der Überschrift »Komponierte Kopie« über Be Here Now.35 34 35

Vgl. Oasis: Definitely Maybe. Winninger: »Komponierte Kopie«.



»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs

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Selbst wenn man dieser Einschätzung nicht prinzipiell widersprechen möchte, wäre zu fragen, warum es dennoch schwer fällt, Be Here Now als nostalgischen Retro-Rock abzutun. Eine mögliche Antwort findet sich, wenn man die Kopierverfahren von Oasis als Variationen des Verfahrens der Aufpfropfung begreift. Offensichtlich geht es Oasis nicht darum, die verwendeten Vorläufer als Originale oder auch nur Vorbilder anzuerkennen und auszustellen. Die Band nutzt vielmehr die vorliegenden Zeichen und Muster, um sich durch Verfahren des Copy and Paste, der Verpflanzung und Aufpfropfung oder, in einem anderen Register, qua Einverleibung und Verdauung der Pop-Geschichte in eben diese einzuschreiben. In dieser Hinsicht wären auch der Begriffe des ›Zitierens‹ und ›Kopierens‹ zu relativeren: Zum einen wird das Zitierte nicht als Zitat markiert, werden die vermeintlichen Rückgriffe nur selten explizit als solche präsentiert. Zum anderen verschiebt sich das Konzept des Zitierens, wenn »every phrase a quotation« und »every tune a reminiscence« ist. Hier wird der Akt des Zitierens letztlich wichtiger als der Verweis auf das, was zitiert wird. Oasis aktualisieren markante Momente der Popmusik der 1960er und 70er Jahre, indem sie sie für ihre eigenen Zwecke nutzen und in Zeichen ihrer eigenen Geschichte verwandeln. Die Grenzen zwischen Quelle und Zitat, zwischen Vorlage und Verarbeitung, zwischen Unterlage und Pfropfreis, sind dabei häufig kaum mehr auszumachen. Die Schnittstellen sind nicht zu erkennen, die Zitate werden nicht als Zitate markiert, sondern so verarbeitet, dass ein Sound von Zitathaftigkeit entsteht, der auch dann, wenn es keine eindeutig ausmachbaren Referenzen gibt, den Eindruck entstehen lässt, es handele sich um ein Zitat. Entsprechend trifft die oben angeführte Aufreihung mit Quellenangaben den springenden Punkt hier auch nur insofern, als die Oasis-Tracks fast durchgehend nur den Eindruck erwecken, sie würden die Vorlagen unterschiedslos übernehmen. Der Abstand zu den vermeintlichen Originalen erweist sich im direkten Vergleich fast durchgehend als überraschend groß. Zudem handelt es sich immer um mehr als nur eine Quelle, die angezapft wird, um mehr als nur ein Pfropfreis, das auf mehr als eine Unterlage gepfropft wird. Im Unterschied zum T-Shirt-Aufdruck »Be Here Now« ist die Musik alles andere als »schön schlicht«, die ver‑ und entwendeten Vorlagen werden vielmehr so ineinandergeblendet und einander überlagert, wie auch die vielfach übereinander gelegten Gitarrenspuren  –  »700 Gitarren, die immer und immer wieder dieselbe Wand mit derselben Tapete bekleben«.36 Der Effekt der Überladenheit stellt sich fast unweigerlich ein und auch die Signifikanz, die der Titel ›Be Here Now‹ in Aussicht stellt, Sailer: »Oasis – Be Here Now«.

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scheint sich gelegentlich in den Feedback-Schleifen zu verlieren. John L. Austin würde angesichts von Be Here Now eventuell von »Auszehrung« sprechen, von jenen ›etiolations‹, bei denen die Stängel ins Kraut schießen, saft‑ und kraftlos werden.37 Edward Young würde Oasis vermutlich zu den »kopierenden Nachahmern« zählen, die »die Lorbeerzweige nur [verpflanzen], welche oft bey dieser Versetzung eingehen, oder doch allezeit in einem fremden Boden schwächer fortkommen«.38 Es spricht aber einiges dafür, Oasis auch in dem Sinn als ›freundliche Parasiten‹ zu beschreiben, in dem man Jacques Derridas Überlegungen im gegebenen Zusammenhang fruchtbar machen kann. So legen Oasis in ihrem Umgang mit Zitaten nicht nur nahe, dass es keinen »ursprünglichen Text gibt«, sie führen zugleich auch vor, dass die vermeintlich sekundäre Praxis des »zitathaften Aufpfropfens«39 zumindest im Bezugsrahmen Pop immer schon der normale Modus textueller Produktion ist: »Every phrase a quotation, every tune a reminiscence«. Seit ihrer ersten Veröffentlichung mussten Oasis mit dem Vorwurf mangelnder Originalität leben, und sie konnten tatsächlich immer ganz gut mit diesem Vorwurf leben, vielleicht auch, weil er einen Songwriter kaum verletzen kann, dessen Credo lautet: »Why write your own songs when you can use someone else’s?«40 Auf etwas andere Art beschreibt auch der Songtext von »Be Here Now« im Chorus, dessen Form sich zu weiten Teilen Jumping Jack Flash von den Rolling Stones verdankt, das hier waltende Prinzip: »Kicking up a storm from the day that I was born / Sing a song for me one from let it be«.41 Es geht um eine Rückwendung in die Vergangenheit, auch in die eigene, aus der man sich dann aber von anderen ein Beatles-Lied vorsingen lässt. »And my brother’s back at home with his Beatles and his Stones«, heißt es ganz ähnlich in »All the Young Dudes« von Mott the Hoople,42 und zwar an genau der Stelle, an der sich beim Mott the Hoople-Song der Eindruck einstellt, er wäre ein Song der Beatles, oder vielmehr mehrere, darunter, am deutlichsten herauszuhören, »Hey Jude«. In dieser Hinsicht erscheint es nur konsequent, dass sich Oasis immer wieder bei diesem Stück bedienen: Sie rekurrieren auf ein Stück, das sich selbst – im Text und in der Musik – eben dem Prinzip des »zitathaften Aufpfropfens« verdankt, dem auch sie sich verschrieben haben. Vgl. Austin: How to Do Things with Words, S. 104; ders.: Zur Theorie der Sprechakte, S. 121. 38 Vgl. Young: Gedanken über die Original-Werke, S. 16. 39 Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, S. 32; ders.: Dissemination, S. 402. 40 Noel Gallagher, zit. nach: Oasis Interviews Archive: »Noel Gallagher – Guitar World – April 2000«. 41 Oasis: »Be Here Now«. 42 Mott The Hoople: »All the Young Dudes«. 37



»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs

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Mit dem Titel der auf Be Here Now folgenden Veröffentlichung Standing on the Shoulder of Giants, im Jahr 2000 erschienen, legen Oasis noch eine andere Lesart nahe, die an das Prinzip der Aufpfropfung anschließbar ist, aber gleichwohl von ihm abweicht. Mit dem Titel Standing on the Shoulder of Giants zitieren Oasis den Topos des Zwergs, der auf den Schultern eines Riesen steht, und also weiter sieht als der Riese selbst.43 Dass die Unterlage hier nun die Shoulder von Giants ist, also nur eine Schulter, aber mehrere Riesen unterstellt werden, legt nahe, dass Oasis auch hier nicht ganz sachgerecht mit ihren Vorlagen umgehen, sondern sie in der Zitation anders verwenden, als es eventuell vorgesehen war. Nicht nur kann man bei Oasis (etwa wenn sie sich auf die Schultern von Mott the Hoople stellen) hören, dass auch der Riese, auf dessen Schulter sie stehen, selbst auf der Schuler von anderen Riesen steht, der Topos verliert auch sein streng vertikal organisiertes Ordnungsprinzip. Eine weitere Selbstbeschreibung von Noel Gallagher kann auf einer anderen Ebene verdeutlichen, was sich hier verschiebt: »With every song that I write, I compare it to the Beatles. The thing is, they only got there before me. If I’d been born at the same time as John Lennon, I’d have been up there«.44 Offensichtlich geht es hier weder um Vorläuferschaft noch um ein anders gelagertes heriditäres Prinzip, wer wann Riese ist und gegebenenfalls seine Schulter zur Verfügung stellen kann, ist vielmehr kontingent. So wird der permanente Bezug zur Pop-Geschichte, der bei Oasis als Konsequenz der Aufforderung »Be Here Now« erscheint, gerade durch ein Ausscheren aus der Chronologie aufrechterhalten, durch eine Verweigerung gegenüber heriditär geregelten Traditionen und Hierarchien, die gleichwohl auf die Aktualität des Moments und auf jene Formen der Gegenwartsfixierung setzen, die ebenso durch den Imperativ »Be Here Now« vollzogen werden. In dieser Hinsicht markiert auch der Titel Stop the Clocks, den die Band im Jahr 2006 ihrer »definite collection« von Oasis-Songs gegeben hat,45 deren spezifisches, gegenläufige Lesarten verschränkendes Verhältnis gegenüber Geschichte und Gegenwart von Pop. Stop the Clocks hält die Zeit an, hebt die Ordnung der Zeit auf, macht Pop-Geschichte, und sei Vgl. dazu Merton: Auf den Schultern von Riesen. In seinem Versuch, den Ursprung des üblicherweise Newton zugeschriebenen Aphoris­mus zu ermitteln, entwickelt Merton ein groß­angelegtes Verweiss­ystem aus Zitaten, Quellen und Einflüssen, das sich vom 12. bis ins 20. Jahrhundert erstreckt und selbst die Struktur des Topos reproduziert. Als »ursprüngliche Schulter« ermittelt Merton Bernhard von Chartres. Aber auch diese Grundlage ist nur relativ ursprünglich: »Wir wissen jetzt, daß der Aphorismus tatsächlich bei Bernhard von Chartres entstanden ist (wobei dieser auf den Schultern seiner Vorgänger, vornehmlich Priscians, stand)«. Ebd., S. 223. Vgl. zu Herders Verwendung des Topos auch den Beitrag von Davide Giuriato in diesem Band. 44 Oasisweb.net: »Quotes«. 45 Oasis: Stop the Clocks. 43

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Abb. 9: Oasis Cover Stop the Clocks

Abb. 10: Oasis Stop the Clocks CDs



»Be Here Now« – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs

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es nur die von Oasis, in konzentrierter Form neu verfügbar. Für einen Moment, der durch die Veröffentlichung von Stop the Clocks markiert wird, werden die Uhren angehalten, und wie schon im Fall von Be Here Now kann dies durchaus als eine weitere Neuauflage der Vorstellung eines »ETERNAL PRESENT« begriffen werden, jedoch nur unter der Bedingung, dass diese Vorstellung durch das unübersehbare Festhalten am Fortschreiten der Zeit zugleich konterkariert wird. Im Artwork der CD-Box Stop the Clocks, entworfen von Peter Blake, im Kontext von Popmusik vor allem bekannt für seine Gestaltung des Sgt.-Pepper-Album der Beatles und damit ein weiterer expliziter historischer Verweis im Werk von Oasis,46 finden sich verschiedene Varianten von Uhren ohne Zeiger, die sich zunächst, wie im Fall der Aufdrucke auf den zwei CDs, als Dart-Boards zu erkennen geben (Abb. 9 u. 10). Im Vorspann und in den Zwischenschnitten des Interview-Features »Lock the Box« auf der begleitenden DVD ticken die Dart-Boards jedoch wie eine Uhr, wobei nicht etwa ein Uhrzeiger eingeführt wird, sondern das ganze Dart-Board durch das Ticken so in Rotation versetzt wird, dass sich die Assoziation zu einer Stoppuhr einstellt, zum Ticken eines Countdowns, der auf einen bestimmten Moment abzuzielen scheint, diesen aber immer wieder erneut selbst herstellen kann.47 Stop the Clocks kann und will in diesem Fall nicht unbedingt »alles heißen«, in der Kopplung von Zeitenthobenheit und Gegenwartsfixierung, von Achronie und Chronologie, verweist der Titel der »definite collection« aber in mehrfacher Hinsicht auf die Ambivalenzen, die Stuckrad-Barres Soloalbum-Erzähler an der Formel »Be Here Now« faszinieren. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst überraschen, dass sich auf Stop the Clocks kein einziger Song von Be Here Now findet.48 Der Titel und die visuell-akustische Inszenierung seiner Ambivalenzen machen Stop the Clocks jedoch nicht nur als einen Gegenentwurf zu, sondern auch als ein »zitathaftes Aufpfropfen« auf Be Here Now lesbar.

Ausführlich dazu Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Vgl. »Lock the Box« auf der DVD von Oasis: Stop the Clocks. 48 Damit bestätigt die Band einmal mehr die oben skizzierten Einschätzungen von Be Here Now. Auf Stop the Clocks fehlt zudem auch der Song »Stop the Clocks«, geschrieben im Jahr 2002, aber seitdem nicht offiziell veröffentlicht. In Interviews hat Noel Gallagher verschiedentlich darauf hingewiesen, das Stück sei »the best thing I’ve ever written«; so überrascht es nicht, dass eine Website bzw. ein Blog nur für Informationen über diesen nicht veröffentlichten Song eingerichtet worden ist: Stop the Clocks  –  The Information Page. 46 47

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Mode als Aufpfropfung. Über Rouge, crossdressing, Monogrammstoffe und deren Fälschung Heide Volkening

»Es gibt unter den Intellektuellen viele, die verachten die Mode«, schrieb Silvia Bovenschen Mitte der 1980er Jahre einleitend in Über die Listen der Mode und brachte damit einen Topos ins Spiel, auf den bis heute kaum eine Studie über Mode verzichtet.1 Am Anfang vieler kulturwissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Mode steht der Hinweis auf deren Belanglosigkeit. Er formuliert sich als Konsens, wie in Elena Espositos systemtheoretischer Schrift über Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: In ihrer Banalität ist die Mode ein geheimnisvolles Phänomen. Wir wissen über sie sehr wenig und sind weder in der Lage, sie vorherzusagen, noch sie zu neutralisieren – dennoch hegen wir keinen Zweifel an ihrer Nichtigkeit und an dem Sachverhalt, dass es sich dabei um eine oberflächliche Erscheinung handelt, der nicht so viel Bedeutung beigemessen werden sollte.2

Verweise auf Nichtigkeit, Oberflächlichkeit und Konsumorientierung der Mode sind inzwischen so strapaziert, dass andere sie nur noch als Gerücht bemühen: »Die Mode erfreut sich keiner guten Presse«, so Barbara Vinken. »Allen Erfolgen zum Trotz ist sie Inbegriff des Eitlen, Oberflächlichen, Frivolen geblieben«.3 Man habe sich ihr deshalb im »Modus der Kritik« genähert: »Der Kritik des Scheins, den an ihr die Philosophen von Berufs wegen wahrnehmen; der Kritik des Marktes, den in ihr die Kulturtheoretiker professionell am Werke sehen; der Kritik der Sexualmoral schließlich, die in ihr die Sittenrichter immer neu in Frage gestellt finden«.4 Mode zeigt sich als ein hybrides Phänomen: Sie partizipiert an der Sphäre des Ästhetischen ohne den Autonomie-Anspruch des Kunstwerks, sie hat teil an den Strukturen des Marktes, seinen Ausbeutungsverhältnissen und Konsumstrategien, ohne sich darauf reduzieren zu lassen und sie arbeitet an und mit der Darstellung, Repräsentation und Produktion sozialer Dif 3 4 1 2

Bovenschen: »Über die Listen der Mode«, S. 10. Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, S. 9. Vinken: Mode nach der Mode, S. 11. Ebd.

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ferenzen ohne diese zu substanzialisieren. All dies in stetem und zügigem Wechsel. Was sie als Gegenstand ernsthafter Untersuchungen lange eher zu disqualifizieren schien, nämlich ihre Schnelligkeit, Hybridität und Substanzlosigkeit, hat die Mode für Theoretiker und Beobachter der Moderne gerade interessant gemacht. Baudelaires flanierendem Dandy ging es um die Flüchtigkeit der Mode als spezifischen Reiz der Modernität, darum, »der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen«.5 Anstatt das schnelle Verfallsdatum einer Kragenform, einer Rocklänge, eines Ausschnittes zu beklagen oder ihren ästhetischen Wert immer an der gerade schon vergangenen Mode zu messen, feiert Baudelaire ihren ephemeren Reiz: »Es ist sehr viel bequemer, alles in der Kleidung einer Epoche für absolut häßlich zu erklären, als sich darum zu bemühen, die in ihr enthaltene geheimnisvolle Schönheit zum Vorschein zu bringen, wie gering und beiläufig sie auch sei. Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige«.6 Für Benjamin werden diese flüchtigen und beiläufigen Garderoben, in denen sich die »Witterung« des weiblichen Kollektivs für die Zukunft saisonal verkörpert, schließlich zu »geheimen [Flaggensignalen] der kommenden Dinge«, eine Art ›Orakel‹: »Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen«.7 Mode als unentzifferbares Zeichen, das für die, die es lesen könnten, prophetisches Potenzial besäße. ›Je kürzer die Röcke, desto besser die Konjunktur‹ – in dieser eher plumpen Formel ist die Idee sprichwörtlich geworden. Trotz ihrer schlechten Presse gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich ernsthaft um die Mode bemühen. Längst ist sie als Gegenstand akademischer Untersuchungen etabliert. Wir finden eine systemtheoretische Analyse der Mode als »komplexe und widersprüchliche Form, in der die Gesellschaft  […]  mit der Undurchsichtigkeit der Einzigartigkeit […] umgeht«.8 Wir finden Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel und Pierre Bourdieu, die ihrerseits die Banalität der Mode als ernstzunehmendes Phänomen sozialer Differenzierung diskutierten.9 Roland Barthes legte seine strukturalistische Semiologie anhand der Sprache der Mode dar. Hannelore Schlaffers Essay über die Mode als Schule der Frauen kri 7 5 6



8 9

Baudelaire: »Der Maler des modernen Lebens«, S. 225. Ebd. Benjamin: Das Passagen-Werk, S.  112. Zum Komplex Mode  /  Moderne vgl. Bertschik: Mode und Moderne. Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 175. Simmel: »Die Mode«; Bourdieu: »Die Metamorphose des Geschmacks« und »Haute Couture und Haute Culture«.



Mode als Aufpfropfung

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tisiert die Welt der Mode als emanzipationsfeindliche Zurichtungsanstalt des Weiblichen. Auffällig an diesen Arbeiten ist häufig die Aussparung oder nur periphere  Berücksichtigung der Mode als Mode. Untersucht wird sie als Zeichen für anderes, als soziale Semantik, als gesellschaftliche Verständigung über Normalität und Abweichung oder als Beispiel einer allgemeinen Struktur des Zeichens. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ›die Mode‹ nie rein bei sich sein kann, sondern immer schon ein hybrides Phänomen, ein Phänomen der Aufpfropfung ist. Als Kleid pfropft sie sich dem Körper, als »Diskurs in Kleidern über Kleider«10 pfropft sie sich vorangegangenen Moden auf. Neben der Sprache des Modejournalismus, ihrer Inszenierung auf dem Laufsteg und in der Fotografie, zeigt sich Mode als Aufpfropfung – im Hinblick auf den Körper als eine zweite Haut, die die erste modifiziert und zwar für den Betrachtenden wie für den, der sie trägt; im Hinblick auf ihre eigene Geschichte als zwangsläufiges Zitat eines anderen Kleidungsstückes, als dessen Variation und Transformation. Diesen beiden Typen von Aufpfropfung wird im Folgenden an vier exemplarischen Stationen nachgegangen: dem Diskurs der Natürlichkeit als anti-modische Haltung, dem Zusammenhang von crossdressing, Mode und Geschlechterdifferenz in der Gender-Forschung, der Logik der Überbietung und Originalität in der Mode und schließlich der Zitation als Verfahren der Mode selbst. Ohne Anspruch auf Chronologie oder Vollständigkeit durchläuft der Parcours eine Zeitspanne vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und begegnet dabei so unterschiedlichen Figuren wie Jean-Jacques Rousseau und Marc Jacobs, Judith Butler und Louis Vuitton, einem deutschen Modehasser und Marie Antoinette. Es zeigt sich, dass an all diesen Stationen Mode als Aufpfropfung an je verschiedenen Differenzen arbeitet, sie zugleich etabliert und unterläuft.

I. Natürliches Gemüse Das Tragen von Mode als Aufpfropfung zu verstehen, impliziert eine Unterscheidung von natürlichem und modisch bekleidetem Körper, deren Wertung traditionell zugunsten der Natürlichkeit ausfiel. Dabei wurde der ›natürliche‹ Körper sowohl als nackter als auch als in spezifischer Weise natürlich, d. h. ›unmodisch‹ bekleideter konzipiert. Der Rekurs auf den nackten Körper rettet allerdings nicht vor den Schwierigkeiten, die sich bei der Definition eines ›natürlichen‹ Kleides ergeben.11 So Vinkens Charakterisierung der Haute Couture in Vinken: Mode nach der Mode, S. 25. 11 Vgl. Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur. 10

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Paradigmatisch für die Wertschätzung des Natürlichen gegenüber dem Modischen kann ein Brief Saint-Preux’ aus Jean-Jacques Rousseaus Julie oder die neue Heloise stehen, der über die modische Vorrangstellung der Pariserinnen im allgemeinen und der Damen vom Hof im besonderen informiert. Modisch sind sie, so Saint-Preux, im Gebrauch des »Rouge«, mit ihren großen Décolletés und in ihrer unziemlichen Rede. »Die Frauenzimmer aus der Stadt entsagen ihrer natürlichen Farbe«,12 und damit ihrer natürlichen Schamhaftigkeit. Die Pariserin ist ein »Götzenbild der Mode« – sie ist nicht mehr sie selbst. Alles, Gestik, Mimik, sogar die Gestalt des Körpers, ist bestimmt durch die Mode, die hier der zeitgenössischen Semantik entsprechend mehr und anderes umfasst als nur die Kleidung. Über die Pariserin heißt es: Ihre Größe, ihr Umfang, ihr Gang, ihre Taille, ihre Brust, ihre Farben, ihre Miene, ihr Blick, ihre Reden, ihr Betragen, nichts von alledem gehört ihr; und sähe man sie in ihrem natürlichen Zustande, man würde sie nicht erkennen. Dieser Tausch nun ist selten vorteilhaft […] und überhaupt gewinnt man niemals, wenn man die Natur gegen etwas anderes eintauscht. (281)

Der Tausch, so wird Saint-Preux feststellen, ist nicht die Auswechslung der Natur durch Künstlichkeit, sondern vielmehr deren Aufpfropfung; SaintPreux nennt sie »Darstellung einer fremden Rolle«. (ebd.) Hinter dieser sei die ›echte‹ Person durch gezielte Kommunikation dennoch zu finden. Saint-Preux’ Logik der Aufpfropfung ist eine der Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden, von Natur und Mode, deren Aufpfropfung Weiblichkeit denaturiert. Saint-Preux’ Kritik richtet sich vor allem gegen die Kontexte, aus denen das Pfropfreis entnommen ist: Die adeligen Pariserinnen, so der Vorwurf, bedienen sich bei den Huren und beim anderen Geschlecht. Ziel dieser strategisch die Grenzen der Geschlechter und Sitten überschreitenden Praxis sei eine erneute Grenzziehung: die Abgrenzung vom Bürgertum. Sie sahen, daß das Volk Wangenrot verabscheute, dem es in grober Weise hartnäckig den Namen ›Schminke‹ gibt; so legen sie sich nicht ›Schminke‹, sondern ihr ›Rouge‹ vier Finger dick auf; denn sobald das Wort verändert wird, ist auch die Sache nicht mehr die nämliche.  […]  Solchergestalt hören sie auf Frauenzimmer zu sein, um nicht mit anderen verwechselt zu werden, ziehen ihren Rang ihrem Geschlecht vor und ahmen, um unnachahmlich zu sein, die Dirnen nach. (275)

Die Mode als Aufpfropfung irritiert die dichotome Ordnung der Geschlechter, die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft und die Ordnung 12

Rousseau: Julie oder Die neue Héloise, S.  275. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.



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der Sprache, die selbst unter die Gesetzmäßigkeit der Mode zu fallen scheint. Ihr Verfahren ist das der Nachahmung, eine Zitation, deren Ziel das Unnachahmliche bleibt, so »kann das Kopieren also paradoxerweise Originalität generieren«.13 Saint-Preux und Rousseau sind genau genug, die Natürlichkeit selbst als einen Effekt der Kleidung zu beschreiben. Der Tracht der Walliserinnen, die zu den Pariserinnen das natürliche Gegenstück bildet, fehlt es »weder an Natur noch an Feinheit«. Sie hat nur einen Fehler: »[Die Walliserinnen] tragen nämlich Röcke, die von hinten so hoch sind, daß sie verwachsen scheinen«. (82) Hier bricht der ›natürliche‹ Kleidungsstil und erscheint als ›Verwachsung‹. Die Metapher illustriert die misslungene Aufpfropfung. Gelungene Natürlichkeit erweist sich als ein Stilideal des rechten Maßes, als ideale Korrespondenz von Körper und Kleid. Die Rede über die Kleidung hat dafür eigene Wendungen: Kleidungsstücke ›sitzen gut‹ oder ›stehen‹ einer Person. Der Körper gibt der Kleidung das Maß vor, die nur die Funktion erfüllt, diesen als schönen Körper zu betonen. Die Aufpfropfungen der Pariserinnen sind demgegenüber doppelt gefährlich: Sie zerstören diese Relation von Körper und Kleid bzw. Rouge, und sie stellen, indem sie den Aufpfropfungscharakter der Mode betonen, auch die Natürlichkeit als Phänomen der Aufpfropfung vor Augen. Aber selbst die Röcke der Walliserinnen, obwohl sie dem Ideal näher sind, teilen dieses ›Problem‹: Der Anschein der Verwachsung zeigt, wie die Aufpfropfung des Kleides den Körper verändert. Damit verliert der Körper seine Funktion als Maß der Natürlichkeit, er ist nicht mehr das ›Eigentliche‹, dem sich die Mode hinzufügt. Indem die Pariserin signifkante Details der Dirnenkleidung als Zeichen der Distinktion übernimmt, indem sie Verhaltensmuster des Mannes wie lautes Reden oder offene Blicke imitiert, arbeitet sie zugleich an der Korrosion von Bedeutung. Die Frau auf der Straße, deren Blick nicht gesenkt, deren Wangen voller Rouge, deren Busen fast sichtbar ist, droht weder als Hure noch als Adelige erkennbar zu sein, im schlimmsten Fall handelt es sich um die erste modische Bürgerliche. Saint-Preux’ Briefe geben das Muster für eine spezifische Betrachtungsweise der Mode bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und auch darüber hinaus. Etwa zeitgleich mit Baudelaires Der Maler des modernen Lebens veröffentlicht in Deutschland Friedrich Theodor Vischer seinen Text Mode und Zynismus. Darin beklagt er die neue »Hurenmode« der tournure. Die tournure löst gegen Ende der 1860er Jahre den Reifrock, die Krinoline ab und bauscht wie der spätere cul de Paris Röcke und Kleider ab der Taille 13

Khurana: »Immer nur das eine, immer nur das andere«, S. 165.

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über dem Po auf. Die flache Vorderseite des Körpers, über die sich der Stoff des Kleides spannt, wird stark betont, so dass sich Bauch und Beine deutlich abzeichnen. Wie in den 1980er Jahren über Leggins oder 2007 über die Rückkehr der Röhrenjeans geklagt wurde, so stöhnt Vischer über die vielen unförmigen Frauen in diesen figurbetonten Kleidern. »In Kleidern nackt«, so bezeichnet Vischer das neue Phänomen der Schamlosigkeit. Nacktheit ist ein Effekt der Kleidung, der durch Aufpfropfung erzielt wird. Vischer bemängelt, »daß weltfeine Damen jetzt statt des dichteren Unterrocks hirschlederne Hosen tragen, um alle Formen vom Gürtel bis zum Knie recht rein plastisch heraus und hinein zu modellieren«.14 Eine Form der Aufpfropfung unter dem Rock zum Zweck der Verstärkung der Natur. Die eigentliche Nacktheit, so Vischer, wäre unschuldiger, die Betonung des Körpers unter dem Kleid ist demgegenüber ein »weit [keckerer] Naturalismus«. Vischer verdammt eine Reihe möglicher Supplemente – den cul de Paris, die Schleppe, den Stöckel-Schuh, den chignon sowie den Putz durch natürliche und künstliche Blumen. Mit allen diesen Künstlichkeiten drohe die Frau ihre natürliche Anmut zu verlieren. Die Frau selbst sei eine Blume, wozu brauche sie den Schmuck durch eine echte Blüte oder gar den einer papiernen. Positives Gegenstück der solchermaßen geschmückten, verlängerten und neu proportionierten Städterin ist auch für Vischer das Landmädchen, die Unverdorbene. Gegen diesen normativen, musterhaften Diskurs der Natürlichkeit, wie er sich an Rousseau und Vischer skizzieren lässt,15 verhält sich die Mode selbst affirmativ, zum Beispiel mit dem Schlachtruf: Mehr Natürlichkeit! Die Marquise von Créqui erzählt, daß Marie Antoinette im Jahre 1785 à la jardinière frisiert erschien, mit einer Artischocke, einem Kohlkopf, einer Karotte und einem Bund Radieschen auf dem Kopf. Eine Hofdame war so begeistert davon, daß sie ausrief: »Ich werde nur noch Gemüse tragen; das sieht so einfach aus und ist viel natürlicher als Blumen«.16

Vischer: »Mode und Zynismus«, S. 38. Simmel operiert vorsichtiger: Natürlichkeit lasse sich nur ex negativo bestimmen, wo sie nicht erreicht werde. Dennoch bleibt sie Maßstab der Bewertung: »So unsicher begrenzt und so irreführend oft der Begriff des Natürlichen überhaupt ist, so kann man doch wenigstens das Negative sagen, daß gewisse Formen, Neigungen, Anschauungen auf diesen Titel keinen Anspruch haben, und eben diese werden es auch sein, die dem modischen Wechsel ganz besonders schnell unterliegen, weil ihnen die Beziehung zu dem beharrenden Zentrum der Dinge und des Lebens fehlt, die den Anspruch dauernden Bestandes rechtfertigte«. Simmel: »Die Mode«, S. 51 (Hervorhebung im Zitat). 16 Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 739, zitiert nach Bovenschen: »Über die Listen der Mode«, S. 14. 14 15



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Gut 100 Jahre später formuliert Oscar Wilde das dandyistische Credo: »Eine wirklich tadellose Knopflochblume ist das einzige, was Kunst und Natur verbindet«.17 Hier ist die Natur in Gestalt der Blume zu dem geworden, was sich addiert, was hinzugefügt wird. Nicht das Kleid ergänzt den Körper in seiner Darstellung, sondern die Blume ergänzt die Kleidung. Die Blume im Knopfloch des Mannes ist gewissermaßen der ultimative Affront gegen die geschlechtliche Kleiderordnung, die Vischer entwirft. In ihr tritt neben die vernünftig und schamhaft gekleidete Frau der schmucklose Mann, oder, in seiner Formulierung: »die Scheinlosigkeit des Männerkostüms«, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzt und den Mann – scheinbar – vom Zugriff der Mode befreit. »Das männliche Kleid soll überhaupt nicht für sich schon etwas sagen, nur der Mann selbst, der darin steckt, mag durch seine Züge, Haltung, Gestalt, Worte und Taten seine Persönlichkeit geltend machen«.18 Fortan verkleiden sich die Frauen als Frauen und nennen es Mode, während die Männer sich anziehen.19

II. Clothes don’t matter Seit den ausgehenden 1980er Jahren ist die  –  nach Rousseaus oder Vischers Maßgabe  –  ›unnatürliche‹ Aufpfropfung von Frauenkleidern auf Männerkörper und vice versa in den Phänomenen von drag, Travestie und Transvestismus in der Geschlechterforschung zum Angelpunkt einer Kritik der Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit und der mit ihr verbundenen Naturalisierung von Heterosexualität geworden. Die Erstausgabe von Judith Butlers zum Klassiker gewordenem Buch Gender Trouble ziert auf dem Titel das Foto zweier Kinder in Mädchenkleidern, von denen das eine von den meisten BetrachterInnen erfahrungsgemäß als Junge in drag und das andere als Mädchen identifiziert wird (siehe Abb. auf S. 242). Die Kenntnis des Titels dürfte diese Wahrnehmung jedoch ändern: »Agnes und Inez Albright«, so werden die beiden Figuren auf dem Bild genannt. So stark ist die Routine der Wahrnehmung von Männlichkeit als Persönlichkeit, dass sie das Kleid übertrumpft. Ein Kleid, als Hinzufügung, ist nicht ausreichend, um den Körper, seine Haltung, seinen Blick automatisch als weiblich zu identifizieren.

Wilde: »Philosophische Leitsätze zum Gebrauch für die Jugend«, S. 227. Vischer: »Mode und Zynismus«, S. 63. 19 Auch dies ist eine Differenzierung, die Vorläufer im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts hat. Zum Zusammenhang von bürgerlicher Revolution und geschlechtlich differenzierter Kleidung vgl. das Kapitel »Was die Mode streng geteilt«, in: Vinken: Mode nach der Mode, S. 11−34. 17 18

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Abb. 1: Titelbild Gender Trouble

Der Titel des Fotos verändert die Wahrnehmung der Personen, ohne das Wahrgenommene zu erklären. Sehen wir ein Mädchen, das ein Junge sein möchte? Sehen wir eine kindliche butch-Inszenierung? Oder einfach ein Mädchen mit kurzen Haaren? Oder ›lügt‹ der Titel? Foto und Titel erlauben weniger eine Aussage über die geschlechtliche Identifizierung der Abgebildeten, als eine Beobachtung möglicher Beobachtungen der Betrachtenden und deren Wissens um bzw. Umgang mit der gesellschaftlichen Codierung von Geschlecht. In ihrer Einleitung expliziert Butler diesen Zusammenhang an dem Auftritt der drag queen Divine in John Waters Film Female Trouble.20 Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, daß die Geschlechts­ identität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein  /  Ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert.21 20 21

Female Trouble (US 1974, Regie: John Waters). Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 8f.



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Butlers Bezugnahme auf transvestische Praktiken als »parodistische Vervielfältigung der Identitäten« und Modellfall der Destabilisierung von Geschlecht hat ihr sowohl den Vorwurf des Determinismus, im Sinne der Unentrinnbarkeit der heteronormativen Ordnung, als auch den des Idealismus, im Sinne der freien Wähl‑ und Verfügbarkeit des Geschlechts, eingebracht. Butler hat unter anderem in Bodies that matter auf beide Kritiken mit einer Präzisierung ihres Konzeptes der Performanz geantwortet, die nicht mehr die Parodie ins Zentrum stellt, sondern Performanz als Iterabilität im Sinne Derridas, als Verschränkung von Wiederholung und Differenz, denkt.22 Während die Bezugnahme auf verschiedene Formen des crossdressing in Gender Trouble dominant ist, hat Butler in späteren Texten fast völlig darauf verzichtet und ihre eigene vorangegangene Diskussion in Teilen zurückgenommen.23 Butler traut den Kleidern nicht: clothes don’t matter. In einem Interview mit Liz Kotz für das artforum konterte sie gegen die gängige Rezeption von Gender Trouble schon im November 1992: The bad reading goes something like this: I can get up in the morning, look in my closet, and decide which gender I want to be today. I can take out a piece of clothing and change my gender, stylize it, and then that evening I can change it again and be something radically other, so what you get is something like the commodification of gender, and the understanding of taking on a gender as a kind of consumerism.24

Butler wendet sich gegen eine offensichtlich falsche Lesart ihres Buches, die die parodistische Natur des Geschlechts auf Fragen der Kleiderwahl reduziert und geschlechtliche Identifizierung damit als einen Willensakt interpretiert, Butlers Analyse geschlechtlicher Performanz als »radical choice« missversteht. Implizit reduziert Butler in ihrer Absage an diese Lesart die Kleiderwahl im Gegenzug nun erstens auf einen Akt der akzidentellen Ergänzung, der den Körper nicht transformiert. So tauchen die Unterscheidungen von Essenz  /  Akzidenz, Oberfläche  /  Tiefe und Innen  /  Außen wieder auf, gegen deren naturalisierende Wirkung im Geschlechterdiskurs sich Butlers Thesen wenden: das »piece of clothing« ist nur Stilisierung, style, d. h. Oberfläche, Äußeres, Akzidenz des Geschlechts. Zweitens unterschätzt Butler in ihrer Replik die Frage der Kleiderwahl: was ich morgens aus dem Schrank ziehe, ist einer Dynamik der Mode unterworfen, die selbst von Beginn an Unterscheidungen wie die von Geschlechtern prozessiert, Vgl. Volkening: »Parodie Iteration Typologie«. Vgl. das Kapitel »Gender is burning: Fragen der Aneignung und Subversion«, in: Butler: Körper von Gewicht, S. 163−188. 24 »The Body You Want«. Liz Kotz interviews Judith Butler, S. 83. 22 23

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dabei Differenzierungen im gleichen Maße etablierend wie unterlaufend. Es gibt keine Kleidung jenseits der Mode.

III. Ein Kamel mit dem Affen auf dem Höcker Silvia Bovenschen hat diese unausweichliche Bezogenheit jeder Kleidung auf die Mode auf die Formel der »Rache der Mode« gebracht. Die Mode rächt sich auch an denjenigen, die nicht an sie denken und glauben, so Bovenschen: Ein Individuum, sagen wir, um den Fall plausibel erscheinen zu lassen, es handele sich um einen deutschen Mann – trägt eine Hose. Es trägt dieses Kleidungsstück seit etlichen Jahren. Vermutlich hat es es selbst gekauft, es kann sich nicht mehr erinnern. Eines Tages hat es das diffuse Gefühl, daß es an seinem Äußeren etwas gibt, das es von allen anderen männlichen Individuen unterscheidet. Das kann es nicht wollen – sonst verhielte es sich ja zum Beispiel modisch. Es dauert nur noch kurze Zeit, denn seine Wahrnehmung ist in diesem Bereich nicht geschärft, bis es dahinterkommt, worin die Abweichung vom Erscheinungsbild der anderen besteht. Es ist – wir wählen ein beliebiges Beispiel – die enorme Weite, mit der seine Hose um die Unterschenkel und Knöchel schlackert. Unser Individuum muß nun eine vorsichtige Angleichung vornehmen, um die Auffälligkeit zu beseitigen, und die Sache beginnt in relativ regelmäßigen Zeitintervallen immer wieder von vorne. […] Von der Rache der Mode soll insofern die Rede sein, als sich das Verhalten des Modeverächters strukturell vom Verhalten des Modenarren nicht wesentlich unterscheidet: die Aktivität des einen liegt am Anfang, die des anderen am Ende einer modischen Erscheinung; der eine hat allerdings Freude, der andere nicht.25

Diese Skizze führt das intrikate Verhältnis von Individualität und Normierung vor Augen, das für die Mode kennzeichnend ist und auch noch den erwischt, der mit ihr nichts zu tun haben will. »In der Mode realisiert sich eine Form von Nachahmung in dem Versuch, die eigene Individualisierung durchzusetzen; man strebt Originalität an, indem man tut, was die anderen tun« – so formuliert die jüngste soziologische Untersuchung von Elena Esposito, nicht ohne auf die lange soziologische Tradition dieser Beobachtung zu verweisen.26 Die Mode, so könnte man mit Vischer dieses Verhältnis von Individualitätsstreben und Nachahmung metaphorisch fassen, ist ein »Kamel mit dem Affen auf dem Höcker«.27 Mode als Aufpfropfung der Mode auf sich selbst fungiert gleichzeitig als Anpassung und Überbietung, Rückbezug und Erneuerung. Vischer erläutert in Mode und Zynismus diesen Punkt anhand der unverheirateten jungen Bovenschen: »Über die Listen der Mode«, S. 10f. Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 9. 27 Vischer: »Mode und Zynismus«, S. 33. 25 26



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Frau, die auf der Suche nach einem Bräutigam ist. Die Grundkonstellation ist folgende: Da sie in der Frage der Heiratsanbahnung nicht selbst aktiv werden kann, muss sie durch ihr Aussehen Aufmerksamkeit erregen: es ist nur ganz natürlich, daß also eines der findungswünschenden Wesen etwa denkt: halt, ich mache meinen Kopf höher, da noch eine Masche, hier ein Band angenadelt, dort einen Lockenhügel erhöht, auf den Hut noch dieses Bouquet: da rage ich hervor, so findet man mich leichter. Das sieht eine zweite und denkt: das kann ich auch und besser, treibt’s um etliche Zoll und etliche Besätze weiter, die dritte noch mehr und der Teufel ist los.28

Aus dem »ganz natürlichen« Wunsch der jungen Frau nach einem Gatten entspinnt sich eine Potenzierung der Künstlichkeit der Mode, die direkt zum Teufel führt. Kürzer und mit Montesquieu gesagt: »Die Gesellschaft der Frauen verdirbt die Sitten und bildet den Geschmack: die Sucht, besser zu gefallen als die anderen, führt den Putz ein [das Kamel, H. V.], und die Sucht der anderen, ebenso zu gefallen führt zur Mode [zum Affen auf dessen Höcker, H. V.]«.29 Etwas Entscheidendes hat sich jedoch geändert seit Rousseau  –  die Mode selbst, nicht die Frauen, die sie tragen, nicht die Männer, die sie dafür kritisieren, hat sich jenseits der Psychologie der Damen einen Modus der Duplizierung geschaffen, der sie zu einer »absoluten« Regierungsform macht, wie Vischer aufmerksam wahrnimmt. Mit der Entstehung der Haute Couture wird die Mode zum Diktat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutioniert Charles Frederick Worth die Welt der Mode. Indem er das Kleid als feste Einheit behandelt, etabliert er das Kleid als Modell und den Couturier als dessen Schöpfer. Fortan ist das Kleid reproduzierbar, kein Unikat mehr. Es wird unter seinem Namen, unter dem Namen Worth, verkauft, der sich als genialer und inspirierter Künstler stilisiert. Neben den Überbietungswettbewerb der jungen Frauen in Sachen Aufmerksamkeit tritt nun das Modell als wiederholbare Entität, dessen Wert sich nicht mehr nur nach der Möglichkeit der Nachahmung und Überbietung, sondern auch durch seine Signatur bemisst. Die Signatur wird genauso wichtig wie das Kleidungsstück selbst. Fortan sind Kreativität und Originalität des Modeschöpfers die Parameter, die den Diskurs der Mode bestimmen. Die Mode reagiert darauf, indem sie sich etwas hinzufügt, das diese Signatur markiert – mit dem Ziel, nicht mehr kopierbar zu sein. Zu diesem Zweck erfindet die Mode mindestens zwei Strategien: Zum einen das Etikett, das Label, das eingenähte kleine Stückchen Stoff, die 28 29

Ebd., S. 45. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, zitiert nach: Vinken: Mode nach der Mode, S. 16f.

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griffe, wie der frz. Begriff lautet, die den Käufern die Echtheit des Kleidungsstückes garantiert. »Die griffe ist gemeinhin versteckt, innen im Kleid […]. In der haute couture garantiert die griffe eine limitierte Auflage, das Handanlegen des Meisters. Durch sie nähert sich das Kleidungsstück dem Kunstwerk, wird es Sammelgegenstand«, so Barbara Vinken.30 Erst im 20. Jahrhundert wechselt die griffe ihren Ort, proliferiert als Kettenanhänger, Gürtelschnalle, T-Shirt-Aufdruck und Applikation auf den Schuhen. Die griffe verliert ihre signierende Funktion und wird zum leicht kopierbaren Markenzeichen. Die zweite Strategie überspringt gewissermaßen den Schritt der inneren Signatur, indem sie sich nach außen wendet, die Signatur in den Stoff einträgt. Georges Vuitton, französischer Hersteller von Reisegepäck, erfand 1896 den berühmten Louis Vuitton-Monogrammstoff, in den die Initialen des Firmengründers eingewebt sind. Zuvor war sein Vater Louis Vuitton der erste, der ein industrielles Erzeugnis sichtbar mit einem Markennamen verzierte. Er hatte vergeblich versucht, mit wiedererkennbaren Mustern in Streifen‑ und Schachbrettdesign unter Hinzufügung seines Namenszuges die von der Firma hergestellten Reisekoffer und ‑taschen unverwechselbar zu machen. Auch er musste sich schon mit Imitaten auseinandersetzen. Durchschlagenden Erfolg hatte dann der Monogrammstoff, den Georges Vuitton erfand. Er setzt sich aus vier Elementen zusammen, die durch einen hell-dunkel-Kontrast bestimmt sind, für den die Farbkombination beige-braun klassisch ist: 1. den ineinander gesetzten LV-Initialen, hell auf dunklem Grund, als Initialen des Gründervaters der Reisegepäckfirma; 2. einer hellen Raute mit konkav geschwungenen Seiten und einer dunklen vierblättrigen Blüte mit spitzen Blättern in ihrer Mitte; 3. der gleichen, leicht vergrößerten Blüte in hell auf dunklem Grund und 4. einer dunklen Blüte mit runden Blättern in einem hellen Kreis. Die vier wiederkehrenden Elemente sind immer gleich angeordnet, strukturbildend ist die am häufigsten auftretende dunkle Blume. Sie ist in Reihen angeordnet und wechselt mit auf Lücke gesetzten Reihen, in denen die anderen drei Muster alternieren, so dass jedes andere Element von vier dunklen Blumen gewissermaßen gerahmt wird. Mit der regelmäßigen Anordnung der vier Elemente hat Georges Vuitton einen Text entworfen, der urheberrechtlich geschützt ist. 1896 wurde dieses Design als Marke eingetragen und zwar in jeder beliebigen Farbkombination, seitdem ist seine Kopie strafbar. Die rechtliche Sicherung des erstellten Textes, des Monogrammstoffs als Marke, zeigt sich als ein Versuch der Abschließung. Verhindert wird nicht die Entnahme eines Ele30

Vinken: Mode nach der Mode, S. 79.



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mentes sondern die Zitation des gesamten Textes. Ironischerweise gehört natürlich der LV-Monogrammstoff – wie schon seine Vorgänger – zu den meist kopierten Designs der Gegenwart. Der Text des Stoffes lässt sich als Ergebnis einer Reihe von Pfropfungen beschreiben. In der vom ehemaligen Louis-Vuitton-Kommunikationsdirektor und Berater Paul Gérard Pasol verfassten Unternehmensgeschichte Louis Vuitton. Die Erfindung des Luxus werden die kulturhistorischen Kontexte benannt, aus denen die vier Elemente entnommen sind. In ihrer spezifischen Anordnung, so Pasol, sind die Initialen eine Reminiszenz an die Künstler-Signatur, etwa an die Dürer-Initialen. Sie markieren den schöpferischen Anspruch der Hersteller. Für die Blüten und geometrischen Elemente benennt Pasol verschiedenste Kontexte wie heraldische Traditionen, die Architektur der Gotik, Chardon-Fliesen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Mode des Japonismus und die zeitgenössische Kunst wie Architektur. Entscheidend für den Erfolg der Marke sei vor allem die Kombination der vier Elemente als »ein Zusammenspiel aus einer Vielzahl mehrdeutiger Zeichen mit universellem Wirkungskreis«.31

IV. Reverse snobism Gegenwärtig haben sich die Parameter der Beschreibung von Mode und der Beschreibung ihrer Mechanismen der Erneuerung erneut verschoben. Vinken diagnostiziert seit den 1980er Jahren, seit dem Auftauchen japanischer Modedesigner im europäischen Markt, seit der neuen Relevanz der Subkultur für die Mode eine »Mode nach der Mode«. Diese habe die Definitionsgewalt zumindest teilweise an die Käufer abgegeben, bekomme ihre Inspiration von der Straße und verlagere sich von der Haute Couture aufs Prêt-à-porter, d. h. verkürzt gesagt, von der Maßschneiderei auf die Konfektion.32 Damit ist die Mode jedoch nicht an ein Ende oder über ihr Ende hinausgekommen, sondern hat ihre diskursive Formation verändert. Die Inspiration durch die Straße, durch die Frau auf der Straße, scheint – so kann man ja an Rousseau und Vischer zeigen  –  so alt wie der Diskurs über die Mode. Wo jedoch zuvor der Modemacher Schöpfer, Künstler war, wird er nun zum Katalysator von Einflüssen.

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Pasol: Louis Vuitton, S. 128. Gegenwärtig ist auch wieder eine gegenläufige Bewegung zu beobachten. Wo die Sichtbarkeit der griffe inflationär geworden ist und die Straßenmode sich selbst imitiert, erfährt die Exklusivität und handwerkliche Meisterschaft der Haute Couture neue Wertschätzung und erhält neue Kunden, vgl. Höller: »Haute Couture. Rückkehr einer Totgesagten«.

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Dieses Phänomen lässt sich abschließend an einem der erfolgreichsten Designer der letzten Jahre erläutern, an Marc Jacobs. Marc Jacobs ist Absolvent der Parsons School of Design. Er begann seine Karriere mit selbstgestrickten Pullovern, die er in der New Yorker Boutique Charivari verkaufte, die eine große Bedeutung als Multiplikator für neue Mode hatte. Zu ihren Kundinnen gehörte Anna Wintour, die heutige Chefin der US-Vogue, eine der mächtigsten Journalistinnen im Mode-Betrieb. 1989 wurde Jacobs Designer für die Damenkollektion bei Perry Ellis. Für Perry Ellis entwarf Jacobs die Kollektion, die ihn schlagartig international bekannt machte, nämlich die Grunge-Kollektion, in der er Stilelemente der Subkultur in die Hochkultur der Mode schleuste. Diese Kollektion bricht mit der Originalität als Diskursmuster der Innovation – an dessen Stelle treten Recycling und Aufpfropfung. Jacobs erklärte sein Verfahren in einem Interview für das V-Magazine am Beispiel einer Bluse: When I did the grunge collection at Perry Ellis in the early ’90s, I found a plaid shirt on St. Mark’s Place that cost $ 3. I sent it to Italy and had it printed on silk and then washed and antiqued. The $ 3 flannel I bought from some street vendor became a $ 3000 blouse at Perry Ellis. There was something I loved about that reverse snobism.33

St. Marks Place Anfang der 1990er Jahre war gerade noch in der begehbaren Zone Manhattans, auf der Straße wurden offen Drogen verkauft und Junkies und Penner verdienten sich ihr Geld mit dem Verkauf von Kleidung und Büchern. Diese Welt pfropft Jacobs auf die Blusen der New Yorker Oberschicht – eine modische Strategie, die mit dem Titel »reverse snobism« treffend bezeichnet wird. Die Kunden haben auf diese Provokation entsprechend reagiert. Die Legende besagt, dass trotz euphorischer Rezeption durch den Modejournalismus kein einziges Stück der Kollektion verkauft wurde. Tatsächlich wurde Jacobs sofort entlassen. Nach dem Erfolg und Rauswurf bei Perry Ellis gründete Jacobs seine eigene Firma, die bis heute ihren Sitz in New York hat. Seit 1998 ist Jacobs zugleich artistic director für Louis Vuitton. Jacobs wendete sein modisches Verfahren auch auf dessen Monogramm an, das als Signum der großbürgerlichen Tradition gelten kann. If I’m in New York and I see someone wearing a bad counterfeit LV baseball cap, I go back to Paris and say we should do a baseball cap because you know that people would wear it even if it’s not part of the traditional LV universe. The whole discussion about good taste and bad taste is so boring and unnecessary.34

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Jacobs / Limnander: »Marc Maker«. (Armand Limander interviews Marc Jacobs). Ebd.



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Jacobs hat den Monogrammstoff auf unterschiedliche Weise zitierend verfremdet und damit das Verfahren seiner Zusammensetzung verlängert: Er hat es in monochromes Lackleder geprägt und Künstler eingeladen, den Stoff zu bearbeiten.35 Die enge Zusammenarbeit von Louis Vuitton mit zeitgenössischen Künstlern und die positive Wechselwirkung in Sachen Aufmerksamkeit, die sich daraus ergibt, sind nur ein Beispiel für eine neuerdings zu beobachtende Annäherung von Kunstmarkt und Modewelt.36 Für die Frühjahrskollektion 2008 hat Richard Prince den Monogrammstoff der Taschen palimpsestartig überschrieben, das Monogrammdesign über einen anderen Text gelegt, es farblich variiert, die einzelnen Elemente in den Konturen auslaufen lassen und auch die Starrheit der Anordnung aufgelöst. Das klassische Muster sah plötzlich aus wie von Kinderhand per Kartoffeldruck aufgetragen. Am bekanntesten sind wohl die Stoffe, die Takashi Murakami seit 2003 entworfen hat. Namen wie cherry blossom line, eye love monogram und multicolor canvas evozieren Bilder des Monogrammstoffes mit Kirschen, die Einfügung von Murakamis jellyfish eyes in das bestehende Muster und den bunten Monogrammstoff auf weißem oder schwarzem Grund. Begonnen hatte die künstlerische Neugestaltung des klassischen Musters mit Stephen Sprouse. Für die Frühjahrskollektion 2001 ließ er das klassische Leder mit Louis Vuitton-Graffitis übersprühen: auf den gemusterten Stoff wurde der Schriftzug LV als ein Sprayer-tag in unterschiedlichen Farben flächendeckend, sich immer wiederholend aufgetragen. Als Bezugspunkt für diese Aktion nannte Jacobs niemand Geringeren als Marcel Duchamps: Sie wissen schon, Mona Lisa mit einem breiten Schnurrbart. Für mich war es ebenso zwingend, Stephen Sprouse zu bitten, Graffiti auf die Monogramme zu sprühen, wie Duchamps Wunsch, ein klassisches Kunstwerk zu verunstalten. Als wenn diese Tat das Original stärker machen würde, cooler, kraftvoller und punkiger …37

Die Aufpfropfung fremder Stile, die Verfremdung des Stoffes, darauf weist Jacobs hin, führt zur Stärkung des Originals. Während der Konzern LVMH ein großes Interesse daran haben muss, Fälschungen, wie sie u. a. auf den Straßen touristischer Zentren Europas oder von Manhattans China Town massenweise feilgeboten werden, zu verhindern, setzt Jacobs auf die Verfremdung, Übermalung und die Rückübersetzung der Fälschungen in die Welt der hohen Mode. Diese Arbeit am Logo, am erkennbaren Muster­ Alle im Folgenden genannten Beispiele sind unter http://www.style.com/fashionshows/ designerdirectory/LVUITTON/seasons/ zu besichtigen (13.1.2008). 36 Vgl. Graw: »Der letzte Schrei«. 37 Pasols: Louis Vuitton, S. 349. 35

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design hat nicht nur, wie Jacobs sagt, das Original stärker gemacht, sondern auch einen neuen Stil der Marke etabliert, der mit großem Erfolg parallel zur klassischen Serie verfolgt wird. Der daran beteiligte Künstler Murakami nutzt die Zusammenarbeit, um angesichts einer Retrospektive seiner Arbeiten am Brooklyn Museum 2008 die Fälschungen der Modewelt als echte Kunstinstallation zu inszenieren: Bei der Eröffnung der Ausstellung fanden sich vor dem Museum eine ganze Reihe von Straßenverkäufern mit Wellblechständen, Tapeziertischen, Wäscheständern und ausgebreiteten Wolldecken, die im Unterschied zu ihren Kollegen in China Town nicht gefälschte, sondern echte Louis-Vuitton-Produkte verkauften.38 Reverse Snobism reversed, oder auch: faked fake. Was Jacobs als Markenstrategie einsetzt, ist letztlich vor allem eine Verlängerung der Praktiken, die Modekonsumenten selbst in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben: die Kombination von alt und neu, das Customizing als Umschneidern gekaufter Kleider, das Tragen von VintageMode, das Wiedereinschreiben von schlechten Kopien in das Original usw. Für diese Art des Umgangs mit Mode haben sich inzwischen längst sowohl Blogs39 als auch Modemagazine etabliert.40 Diese Verfahren hat Jacobs perfektioniert und in der Welt der Luxuskonzerne fruchtbar gemacht. »Jacobs has proved himself to be the industry’s most adept mix master of these recycled and up-cycled design mash-ups, referencing everything from Mickey Mouse to SpongeBob SquarePants to Sonic Youth to the Wiener Werkstätte«.41 Marc Jacobs macht Aufpfropfung als Verfahren der Mode sichtbar bis an den Punkt, wo es in ironischer Vollendung der Marke reiche Früchte trägt.

Literatur Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a. M. 1985. Baudelaire, Charles: »Der Maler des modernen Lebens«, in: ders.: Sämtliche Werke  /  Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp  /  Claude Pichois, Bd. 5, München u. a. 1989, S. 213−258. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Bd. V 1−2, Frankfurt a. M. 1982.

Fotos dieser Aktion finden sich unter http://www.notcot.com/archives/2008/04/lvs_war_ on_coun.php’update (13.1.2009). 39 http://thesartorialist.blogspot.com/ (13.1.2009). 40 Das Magazin Self Service verfolgt ein Programm der Selbstaneignung der Mode und präsentiert diese als Aufpfropfungen, die gegen die Gebrauchsanweisung vorgenommen werden. »Don’t count on fashion, try to multiply it instead« lautet eine der vielen sloganartigen Schlagzeilen in der ersten Ausgabe von 2006 auf einem unscharfen Foto von Fillol Conlier, die in den Bildern auch noch als Model und Stylistin fungiert. 41 http://www.style.com/fashionshows/designerdirectory/LVUITTON/about/ (13.1.2009). 38



Mode als Aufpfropfung

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Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770−1945), Köln u. a. 2005. Bourdieu, Pierre: »Die Metamorphose des Geschmacks«, in: ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt  a. M. 1993, S. 153−164 (1980). Bourdieu, Pierre: »Haute Couture und Haute Culture«, in: ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt  a. M. 1993, S. 187−196 (1974). Bovenschen, Silvia: »Über die Listen der Mode«, in: Die Listen der Mode, hg.  v. ders., Frankfurt  a. M. 1986, S. 10−30. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991. Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a. M. 2004. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, München ohne Jahr. Graw, Isabelle: »Der letzte Schrei. Über modeförmige Kunst und kunstförmige Mode«, in: Texte zur Kunst, 56 (2004) und http://www.textezurkunst.de/56/der-letzte-schrei/ (13.1.2009). Höller, Katharina: »Haute Couture. Rückkehr einer Totgesagten«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.1.2008. Jacobs, Marc  /  Armand Limnander: »Marc Maker«. (Armand Limander interviews Marc Jacobs). http:// www.vmagazine.com  /  fashion_article.php?n=286 (13.1.2009). Khurana, Thomas: »Immer nur das eine, immer nur das andere. Elena Espositos Buch über die Paradoxien der Mode«, in: Texte zur Kunst, 56 (2004), S. 164−167. Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890−1930), Köln u. a. 2004. Montesquieu, Charles Secondat Baron de: Vom Geist der Gesetze, hg. v. Ernst Forsthoff, Tübingen 1951. http://www.notcot.com  /  archives  /  2008  /  04  /  lvs_war_on_coun.php’update (16.12.2010). Pasols, Paul Gérard: Louis Vuitton. Die Erfindung des Luxus, München 2005. Rousseau, Jean-Jacques: Julie oder Die neue Héloise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, München 1978. Schlaffer, Hannelore: Mode, Schule der Frauen, Frankfurt a. M. 2007. Self Service (Frühjahr  /  Sommer 2006) Nr. 24. Simmel, Georg: »Die Mode«, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Berlin 1983, S. 26−51. http://www.style.com  /  fashionshows  /  designerdirectory  /  LVUITTON  /  about/ (16.12.2010). »The Body You Want«. Liz Kotz interviews Judith Butler, in: Artforum, 11 (1992), S. 82−89. http://thesartorialist.blogspot.com/ (16.12.2010). Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993. Vischer, Friedrich Theodor: »Mode und Zynismus«, in: Die Listen der Mode, hg.  v. Silvia Bovenschen, Frankfurt a. M. 1986, S. 33−79. Volkening, Heide: »Parodie Iteration Typologie«, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg. v. Gisela Fehrmann  /  Erika Linz  /  Eckhard Schumacher u. a., Köln 2004, S. 34−50. Wilde, Oscar: »Philosophische Leitsätze zum Gebrauch für die Jugend«, in: ders.: Sämtliche Erzählungen, Zürich 1980, S. 225−232.

Zu den Autorinnen und Autoren Emmanuel Alloa, wissenschaftlicher Mitarbeiter am NFS Bildkritik der Universität Basel. Studium der Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft in Freiburg, Padua, Berlin und Paris. Wichtigste Veröffentlichungen: La résistance du sensible. Merleau-Ponty critique de la transparence, Paris 2008 (Span. Übers. Buenos Aires 2009); Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert (Mithg.), Bielefeld 2008; Penser l’Image (Hg.), Paris 2010; Bildtheorien aus Frankreich: Eine Anthologie (Hg.) (im Erscheinen). Michael Bies, seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt »Literatur und Nicht-Wissen 1750−1930« an der SNF-Förderprofessur für Literaturwissenschaft der ETH Zürich. Studium der Neueren Deutschen Literatur, Linguistik und Musikwissenschaft in Leipzig, Berlin und Ithaca, NY. Wichtigste Veröffentlichungen: »Vom Wettstreit der Medien am ›Ende der Naturgeschichte‹: Linné, Buffon, Goethe«, in: Vom Wettstreit der Künste zum Kampf der Medien? Medialitätsdiskurse im Wandel der Zeiten, hg.  v. Mario Baumann  /  Yvonne Nowak, Marburg 2008; »Neugier als Versuch: Über die Leidenschaft, Grenzen zu überschreiten«, in: Experiment und Literatur: Themen, Methoden, Theorien. Ein Kompendium, hg.  v. Michael Gamper, Göttingen 2010; »Das Widerspiel von Auge und Hand: Fragmente einer Mediengeschichte des vergleichenden Sehens«, in: Vergleichendes Sehen, hg. v. Martin Gaier  /  Lena Bader  /  Falk Wolf, München 2010. Davide Giuriato, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Literatur und deren Didaktik der Goethe Universität Frankfurt  a. M.; Promotion 2005 an der Universität Basel. Wichtigste Veröffentlichungen: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932−1939), München 2006; »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreib­szenen im Zeitalter der Typoskripte (Mithg.), München 2005; Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert (Mithg.), Frankfurt a. M. 2006; Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur (Mithg.), Basel  u. a. 2006; Schreiben heißt: sich selber lesen. Schreibszenen als Selbstrezeption (Mithg.), München 2008; Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier (Üb.), Frankfurt a. M. 2003; Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (Üb.), Frankfurt  a. M. 2006; Aufsätze zu Lenz, Kleist, Hölderlin, Schleiermacher, Büchner, Nietzsche, Rilke, Kafka, R. Walser, Benjamin; aktuelle Forschungstätigkeit zur »Ästhetik der Deutlichkeit« im 18.  /  19. Jahrhundert. Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Forschungsassistentin am Zentrum für Literatur‑ und Kulturforschung Berlin. Studium der Germanistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Berlin (Freie Universität und Humboldt-Universität) und Ithaca, New York (Cornell University). Wichtigste Veröffentlichungen: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen 2001; Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung (Mithg.), Bielefeld 2005; Engineering Life. Narrationen vom Menschen in Biomedizin, Kultur und Literatur (Mithg.), Berlin 2008.

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Autorinnen und Autoren

Bettine Menke, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt (zuvor an den Universitäten Konstanz, Europa-Universität Viadrina Frankfurt  /  Oder, J. W. Goethe-Universität Frankfurt a.  M. und PhilippsUniversität in Marburg). Publikationen zur Literatur‑ und Texttheorie, Dekonstruktion, gender, Poetische und Sakrale Zeichenordnungen, Gedächtnis und Rhetorik, zum Witz und zum Trauerspiel. Wichtigste Veröffentlichungen: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin, München 1991 (Neuaufl. Weimar 2001); Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000; Tragödie. Trauerspiel. Spektakel (Mithg.), Berlin 2007; Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur (Mithg.), München 2006; Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen, Bielefeld 2010. Hans-Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Studierte Philosophie, Linguistik, Biologie und Chemie in Tübingen und Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Experiment, Differenz, Schrift, Marburg 1992; Toward a History of Epistemic Things, Stanford 1997; Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001; Iterationen, Berlin 2005; Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a. M. 2006; Historische Epistemologie, Hamburg 2007; Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts (zus. mit Staffan Müller-Wille), Frankfurt a. M. 2009; Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme (zus. mit Staffan Müller-Wille), Frankfurt a.  M. 2009; On Historicizing Epistemology, Stanford 2010. Sylvia Sasse, Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Studium der Slavistik und Germanistik in Konstanz, St. Petersburg und Moskau. Wichtigste Veröffentlichungen: Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung (Mithg.), München 2002; Texte in Aktion. Sprech‑ und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003; Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009; Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel‑ und osteuropäischen Literaturen (Mithg.), Berlin 2009. Falko Schmieder, Dr. phil., seit 2009 Leiter des Forschungspojekts »Übertragungswissen-Wissensübertragungen. Zur Geschichte und Aktualität des Transfers zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften (1930  /  1970  /  2010)« am Zentrum für Literatur- und Kulturwissenschaft Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin u. a. 2004; Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte (Mithg.), Berlin u. a. 2008; Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx (Mithg.), München 2010; Die Krise der Nachhaltigkeit. Zur Kritik der politischen Ökologie (Hg.), Frankfurt a. M. u. a. 2010; Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen (Hg.), München 2010. Eckhard Schumacher, seit 2009 Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Studium der Literaturwissenschaft in Bielefeld und Baltimore. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Ironie der Unverständlichkeit, Frankfurt a. M. 2000; Die Adresse des Mediums (Mithg.), Köln 2001; Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt  a. M. 2003; Originalkopie. Praktiken des Sekundären (Mithg.), Köln 2004; Einführung in die Geschichte der Medien (Mithg.), München 2004; Pop seit 1964



Autorinnen und Autoren

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(Mithg.), Köln 2007; Am Anfang war … Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne (Mithg.), München 2008. Cornelia Vismann (†), war Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie in Freiburg i. B., Hamburg und Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.  M. 2000; Derrida and Legal Philosophy (zus. mit Peter Goodrich  /  Florian Hoffmann  /  Michel Rosenfeld), New York 2008; »Law and Visual Culture«, in: issue, 49 (2008); Kommentieren, Zeitschrift für Ideengeschichte Heft III  /  1 (Mithg. zusammen mit Philip Ajouri  /  Jost Philipp Klenner) (2009). Juliane Vogel, Professorin für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Arbeiten zur Literatur der Jahrhundertwende und zur österreichischen Gegenwartsliteratur, zur Montage und zu den Grundlagen europäischer Dramaturgie. Forschungsprojekt (Exzellenzcluster): gem. mit David Levin und Christopher Wild: »Kulturelle Poetiken des Auftretens«. Wichtigste Veröffentlichungen: Elisabeth von Österreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, Frankfurt a. M. 1992  /  1998; Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. B. 2002; Weiß. Ein Grundkurs (Mithg.), Frankfurt a. M. 2003. Heide Volkening, Assistentin am Institut für deutsche Philologie der LudwigMaximilians-Universität München. Wichtigste Veröffentlichungen: Grenzüberschreibungen. »Feminismus« und »Cultural Studies« (Mithg.), Bielefeld 2001; Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting – Signatur – Geschlecht, Bielefeld 2006; Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit (Mithg.), Berlin 2007. Uwe Wirth, Professor für neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Gießen. Studium der Germanistik, Linguistik, Philosophie und Geschichte in Heidelberg, Frankfurt a.  M. und Berkeley. Wichtigste Veröffentlichungen: Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens, Heidelberg 1999; Die Welt als Zeichen und Hypothese (Hg.), Frankfurt a. M. 2000; Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft (Hg.), Frankfurt a. M. 2002; Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte (Hg.), Frankfurt a. M. 2007; Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800, München 2008. Dilettantismus als Beruf (Hg.), Berlin 2010; Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie (Hg.), Göttingen 2010. Cornelia Zumbusch, Akademische Oberrätin am Institut für deutsche Philologie der LMU München. Studium der Neueren Deutschen Literatur, Kunstgeschichte, Anglistik und Philosophie in Tübingen und Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs MnemosyneAtlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004; Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft (Mithg.), München 2004; Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie (Hg.), Berlin 2010.

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